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Radiolexikon: Placebo

Kleine Betrügereien können der Gesundheit dienen - nämlich dann, wenn ein Patient glaubt, ein hochwirksames Arzneimittel zu nehmen, in Wahrheit aber eine schlichte Zuckerpille bekommt. Häufig fühlen sich Kranke nämlich auch dann gesünder, wenn ihre Arzneimittel gar keine wirksame Substanz enthält. Die Rede ist vom Placebo-Effekt.

Von Julia Bidder | 26.10.2010
    Es ist vermutlich das älteste Heilmittel der Welt: Seit Jahrtausenden benutzen Schamanen, Ärzte und Heilkundige Placebos. Auch heute noch greifen Ärzte, Krankenschwester und Pfleger darauf zurück und geben Patienten Placebos. Der Name selbst ist seit etwa 200 Jahren verbürgt und geht auf das lateinische Wort "placere" zurück. Das bedeutet so viel wie "Ich werde gefallen". Placebos enthalten keine Wirkstoffe. Sie wirken, weil die Patienten an ihre Wirkung glauben. Darum fühlen sich viele Kranke besser, auch wenn der Arzt ihnen nur Zuckerpillen verabreicht. Der Psychologe Professor Dr. Manfred Schedlowski vom Universitätsklinikum Essen untersucht das Phänomen seit über 20 Jahren:

    "Nun, der Placebo-Effekt ist der Effekt, der erreicht wird, wenn Patienten ein Medikament einnehmen, in dem eigentlich gar kein Wirkstoff enthalten ist. Das bezieht sich aber nicht nur auf die Medikamenteneinnahme, auf die pharmakologische Therapie wie man sagt, sondern tatsächlich geht der Placebo-Effekt noch viel weiter und bezieht sich beispielsweise auch auf Schein-Operationen, also wo operiert wird aber der operative Eingriff nur zum Schein vorgenommen wird."

    Dreh- und Angelpunkt für die Placebowirkung ist der Glaube: Sobald der Patient weiß, dass er ein Placebo erhält, verliert ein Scheinmedikament seine Wirksamkeit. Deshalb hilft ein Placebo-Präparat nicht, wenn man es einem Kranken heimlich ins Wasserglas mogelt oder einem bewusstlosen Patienten gibt. Allerdings wirkt der Placebo-Effekt nicht bei jeder Erkrankung gleich gut:

    "Wir haben eine Reihe von Störungsbildern, wo die Placebo-Effekte sehr stark ausgeprägt sind, dazu gehören beispielsweise akute und auch chronische Schmerzzustände, dazu gehören aber auch psychische Störungen wie Depressionen, es gehören dazu gastrointestinale Störungen wie das Reizdarmsyndrom beispielsweise. Wir wissen, dass der Placebo-Effekt sehr stark auftreten kann bei neurologischen Erkrankungen wie dem Parkinson."

    Immer wieder beschreiben Ärzte erstaunliche Placebo-Wirkungen sogar bei schwerwiegenden Leiden. In Studien sprechen zwischen 20 und 90 Prozent der Patienten auf wirkstofffreie Medikamente an. Und für Placebos gilt offenbar die Devise: Viel hilft viel, weiß der Pharmakologe Professor Uwe Fuhr vom Universitätsklinikum Köln:

    "Je klarer ist, dass der Wirkstoff oder die Intervention eine Wirkung hat und je weniger genau der Patient oder Proband weiß, dass Placebo verabreicht wird, desto ausgeprägter ist die Wirkung."

    Das heißt konkret: Eine Placebo-Spritze wirkt besser als eine Placebo-Pille. Es hat sogar schon Schein-Operationen mit erstaunlichen Effekten gegeben: In einer Studie ging es Patienten nach einer Gelenkspiegelung genauso gut wie Kranken, bei denen Ärzte die Operation nur zum Schein durchführten: Die Chirurgen hatten bei ihnen nur die Haut eingeritzt.

    Wie ist das möglich? Wissenschaftler versuchen, herauszufinden, wie der Placebo-Effekt entsteht. Ein wichtiger Faktor ist dabei das Lernverhalten, auch Konditionierung genannt: Der Körper lernt, auf einen Reiz mit einer bestimmten Reaktion zu antworten. So fühlen sich Kaffeetrinker nach einem Espresso meist wacher als vorher, selbst wenn es sich um koffeinfreien Kaffee handelt. Das funktioniert deshalb, weil der Körper auf das Signal "Kaffee" nach einiger Zeit stets mit derselben biochemischen Reaktion antwortet. Und zwar auch dann, wenn in dem Getränk gar kein Koffein enthalten ist. Das gilt für Kaffee genauso wie für Schmerzmittel und manche anderen Medikamente, berichtet Professor Manfred Schedlowski:

    "Und zwar hat man Herztransplantationen bei Ratten durchgeführt und hat dann diese Tiere konditioniert mit einem Reiz, das ist eine süße Flüssigkeit, die die Tiere zu trinken bekommen, und einem immunsupressiven Medikament zur Verhinderung der Abstoßungsreaktion dieses transplantierten Herzens. Und wenn man das Medikament mit dem süßen Geschmack mehrfach kombiniert und dann die Tiere nur dem süßen Geschmack aussetzt, reicht alleine dieser süße Geschmacksstoff aus, um jetzt die Abstoßung dieses transplantierten Organs zu verzögern oder beziehungsweise ganz zu verhindern."

    Neben der Konditionierung spielt die Erwartungshaltung der Patienten eine große Rolle. Das gilt auch für Nebenwirkungen: In Studien kommt es immer wieder vor, dass Patienten über Nebenwirkungen klagen, obwohl sie Placebo bekommen haben.

    "Das ist ein bekanntes Phänomen, das nicht dem Placebo-Effekt, sondern dem wenn Sie wollen, 'bösen Bruder' des Placebo-Effektes, dem Nocebo, zugeschrieben werden kann. Der Nocebo-Effekt bezieht sich auf die Nebenwirkungen einer Therapie. Und da wissen wir aus vielen, vielen sogenannten klinischen Studien, die die Wirksamkeit von Medikamenten testen, dass in vielen Studien genauso viele Nebenwirkungen in der Placebo-behandelten Gruppe auftreten wie in der Gruppe, die Medikamente erhalten hat."

    Die Patienten rechnen also mit einer bestimmten Nebenwirkung und verspüren dann tatsächlich Kopfschmerzen oder Übelkeit. Neben dieser Erwartungshaltung spielt auch das Vertrauensverhältnis zum Arzt eine entscheidende Rolle für Placebo- und Nocebo-Effekte:

    "Je vertrauensvoller die Beziehung zwischen Arzt und Patient ausgebaut wird, desto stärker lässt sich der Placebo-Effekt nachvollziehen."

    Erst kürzlich hat ein Arbeitskreis der Bundesärztekammer den Stand der Wissenschaft zum Placebo-Effekt analysiert und gibt Empfehlungen für Ärzte, wie sie den Behandlungserfolg über die Placebo-Wirkung optimieren können. So soll sich der Arzt idealerweise viel Zeit nehmen, eine Vertrauensbasis zum Patienten herstellen und die Wirksamkeit einer gewählten Therapie betonen. Das gilt nicht nur für Placebos, denn der Placebo-Effekt kann auch die Wirksamkeit von Arzneimitteln oder anderen Behandlungen verstärken. So kann bis zu 70 Prozent der Medikamentenwirkung auf dem Placebo-Effekt beruhen. Arzneimittel müssen sich daher stets mit Placebos messen, bevor sie in Deutschland auf den Markt kommen dürfen. Solche Studien sind das täglich Brot von dem Pharmakologen Professor Dr. Uwe Fuhr vom Universitätsklinikum Köln. Er erklärt, wie solche Untersuchungen funktionieren:

    "In klinischen Studien versucht man, die Wirkung eines Wirkstoffs zu erforschen oder einer Operation oder irgendeiner Intervention, und man möchte nicht die Wirkung des Arzt-Patienten-Verhältnisses dabei haben. Deswegen vergleicht man in der Regel die Wirkung eines Placebos, also eines wirkstofffreien Medikaments, mit der Wirkung eines sogenannten Verums, also eines wirkstoffhaltigen Medikamentes."

    Um zugelassen zu werden, muss ein Medikament also in Studien deutlich besser abschneiden als Placebos, die in der Regel auch Symptome verbessern. Erstaunlicherweise gibt es aber auch zugelassene Placebo-Präparate frei verkäuflich in der Apotheke. Dazu gehören Placebo-Tabletten, Zäpfchen und Dragees. Wer auf dem Beipackzettel sucht, wogegen diese Mittel helfen sollen, wird solche Informationen nicht finden, erklärt der Pharmazeut Dr. Michael Horn vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn.

    "Placebo-Präparate haben keine Indikationen, das heißt die Anwendung obliegt der Therapiefreiheit des Arztes. Das heißt, der Arzt kann im Rahmen der Ausübung seiner Therapiefreiheit entscheiden ob er mal einen Therapieversuch startet mit einem wirkstofffreiem Medikament, um gegebenenfalls zu prüfen, ob ähnliche Effekte wie bei einem wirkstoffhaltigem Medikament auftreten."

    Wie viele Ärzte ihren Patienten Placebos verschreiben, ist nicht bekannt, denn kaum ein Mediziner will preisgeben, ob und in welchem Umfang er Scheinmedikamente verabreicht. Laut internationalen Studien setzt etwa die Hälfte aller befragten Ärzte gelegentlich Placebos ein. Nach einer Untersuchung an der Medizinischen Hochschule Hannover verabreichen 53 Prozent der befragten Ärzte und 88 Prozent der befragten Krankenpfleger ein- bis zweimal pro Monat Placebos. Experten rechnen jedoch mit einer noch höheren Dunkelziffer. Ärzte und Pfleger verabreichen Scheinpräparate häufig gegen Schmerzen oder Schlafstörungen – zum Beispiel dann, wenn der Patient bereits die höchste Dosierung bekommen hat, oder, um zu verhindert, dass der Patient von dem Mittel abhängig wird.
    Dabei stecken sie in einem ethischen Dilemma: Sie haben die Pflicht, ihre Patienten mit einer wirksamen Therapie zu behandeln, sofern eine solche verfügbar ist.. Doch es gibt Grenzbereiche. Verabreichen sie Placebo, müssen sie den Patienten darüber informieren. Auf der anderen Seite wirken Placebos nur, wenn der Patient nicht weiß, dass er ein Scheinpräparat erhält. In der Praxis sagen die Ärzte daher meist nur, dass das Mittel helfen wird. Möglicherweise wandelt sich deshalb in der Zukunft der Name für Scheinpräparate, verrät Professor Uwe Fuhr:

    "Es wurde vorgeschlagen, nicht mehr Placebo zu sagen, sondern 'Curabo', also nicht mehr 'ich werde gefallen', sondern 'ich werde heilen'."