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Radiolexikon Schlafwandeln

Schlafwandeln ist ein Massenphänomen. Zwischen zehn und 30 Prozent aller Kinder sind mindestens einmal von einer Schlafwandel-Episode betroffen. Bei Erwachsenen tritt die Störung bei nur einem bis sieben Prozent aller Menschen auf.

Von Mirko Smiljanic | 20.10.2009
    Nachts um halb zwei, irgendwo in einer deutschen Siedlung. Wer nicht arbeitet, schläft. Die Eltern und die Kinder sowieso. Alle, oder sagen wir besser: fast alle.

    "Das begann damit, dass unsere Tochter, als die noch sehr klein war, vier, fünf, sehr viel erzählte nachts. Wir sind nachts wach geworden und haben gehört, wie sie im Kinderzimmer mit irgendjemandem ganz laut gesprochen hat, sich auseinandergesetzt hat, geschrien hat, diskutiert hat regelrecht."

    ... erzählt diese Mutter zweier Kinder.

    "Wir haben sie am nächsten Tag angesprochen und gesagt, Du hast sehr intensiv geträumt letzte Nacht, und sie konnte sich an nichts erinnern, gar nichts! Und dann ging es so weiter, dass sie angefangen hat, nachts rumzumarschieren, dass sie also aufgestanden ist und aus dem Kinderzimmer rausgegangen ist, die Treppe runtergegangen ist, sie schließ im ersten Stock, und da sind wir schon hinterhergegangen, wie haben das gehört und sind dann hintergegangen, weil wir die Befürchtung hatten, sie geht auf die Straße raus."

    Somnambulismus, Schlafwandeln, nennen Ärzte dieses Phänomen, manchmal ist auch der Begriff Lunatismus, Mondsucht, zu hören – ob der Mond tatsächlich Einfluss auf das Schlafwandeln hat, darüber später mehr.

    Auf jeden Fall ist Schlafwandeln ein Massenphänomen. Zwischen zehn und 30 Prozent aller Kinder sind mindestens einmal von einer Schlafwandel-Episode betroffen. Bei Erwachsenen tritt die Störung bei nur einem bis sieben Prozent aller Menschen auf.

    An den weit auseinanderliegenden Zahlen wird deutlich, dass Schlafwandeln zwar bekannt ist, aber noch nicht wirklich intensiv untersucht wurde. Vielleicht liegt es einfach daran, dass es eine harmlose Störung ist, die fast immer in der Pubertät von selbst verschwindet. Außerdem hat Schlafwandeln viele Gesichter.

    "Schlafwandeln bedeutet, dass die Kinder in der ersten Schlafphase, also im ersten Teil der Nacht, aufwachen und unterschiedliche Dinge zeigen. Also, manche Kinder verlassen wirklich das Bett und gehen im Zimmer herum, andere sitzen im Bett und nesteln mit der Bettdecke oder reden im Schlaf, also, da gibt es ganz unterschiedliche Formen, wie sich das äußern kann."

    Erklärt Dr. Petra Zieriacks, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in Bergisch Gladbach. Egal, ob Kinder im Bett sitzen und reden, ob sie schreien und Angst haben, oder ob sie umherlaufen – eines ist allen gemeinsam: Am nächsten Tag können sich nicht daran erinnern, was nachts passiert ist.

    "Über die Ursachen ist man sich noch nicht ganz im Klaren. Es gibt sicherlich eine familiäre Belastung und es ist auch gelungen, einen Genort zu identifizieren, wo man dann gesehen hat, bei den Kindern oder Erwachsenen, die dieses Gen hatten, das Schlafwandeln häufiger aufgetreten ist. Es tritt ja besondern häufig bei Kindern auf und man geht davon aus, dass es eine Unreife des Gehirns ist, die das Ganze mit unterstützt."

    Schlafwandeln lässt sich in vier Formen unterteilen: Da sind zunächst einmal die nach außen kaum sichtbaren "subklinischen Formen", die nur mit einem EEG oder EKG nachgewiesen werden können. Bei der zweiten "unvollkommenen Verlaufsform" sitzen Schlafwandler auf dem Bett und sprechen mit sich oder mit anderen. Bei der dritten Form des Schlafwandelns wandert der Betroffene umher. Und bei der vierten - eher selten auftretenden - Form schließlich wird ein Schlafwandler aggressiv und gewalttätig gegen Personen, die sich ihm beim Umherlaufen in den Weg stellen.

    Ob der Mond Einfluss auf das Schlafwandeln hat, wurde und wird seit Langem überlegt. Wissenschaftlich ist dies widerlegt – es sei denn, man betrachtet den Mond einfach als helle Lichtquelle.

    "Was man weiß, ist, dass die Schlafwandler sich eher zum Licht bewegen, oder dass Kinder, die mit voller Blase ins Bett gehen eher schlafwandeln als Kinder mit leerer Blase, und dann könnte man sich ja vorstellen, dass bei Vollmond das Zimmer heller ist und das Schlafwandeln häufiger auftritt."

    Gleiches gilt für laute Geräusche, auch sie begünstigen das Schlafwandeln. Sobald Eltern wissen, dass ihr Kind nachts entweder im Bett sitzt und "fantasiert" oder gar aufsteht und herumläuft, sollten sie unbedingt einige Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Mit der angeblichen "schlafwandlerischen Sicherheit" ist es nämlich nicht weit her. Regel Nummer eins: Auf dem Boden darf kein Spielzeug liegen; Regel Nummer zwei: Das Kind darf nicht auf dem Hochbett schlafen. Regel Nummer drei: Die Fenster müssen gesichert sein.

    "Als sie noch kleiner war und sie nachts rumgewandert ist, haben wir beispielsweise ihre Fenster richtig zugehakt. Wir haben Läden vor den Fenstern und die haben wir richtig zugehakt, weil wir eben die Befürchtung hatten, dass sie womöglich nachts das Fenster öffnet und rausfällt."

    Außerdem sollte das Kind nicht geweckt werden, es versteht ohnehin nicht, was es gerade macht.

    "Es ist sogar vorgekommen, dass sie auf ihrer Wanderung irgendwann vor unserem Bett stand und wir hochgeschreckt sind, weil sie gar nichts gesagt hat, sondern sie stand vor unserem Bett und hat auf irgendetwas gewartet. Wir haben dann gesagt, komm, leg Dich doch hin, und dann ist sie zu mir oder meinem Mann ins Bett gekrochen und hat geschlafen. Bis zum nächsten Morgen und war am nächsten Morgen ganz überrascht, dass sie bei uns im Bett lag."


    Schlafwandeln verschwindet üblicherweise in der Pubertät von selbst. Tritt es ungewöhnlich häufig und intensiv auf, macht ein Besuch beim Kinderarzt Sinn, möglicherweise auch eine Untersuchung in einem speziell für Kinder ausgelegten Schlaflabor, sagt Petra Zieriacks.

    "In sehr, sehr, sehr seltenen Fällen ist es so, dass man dem Schlafwandeln bei Kindern noch mal genauer auf den Grund gehen muss, wenn es sehr häufig auftritt, wenn es eine extreme Belastung darstellt oder wenn andere Probleme mit hinzukommen wie Krampfanfälle und Atemstörungen, dann muss man noch mal weiter suchen und gucken, gibt es irgendwelche Dinge, die das befördern, und kann man die abstellen."

    Bei erwachsenen Schlafwandlern allerdings sieht die Situation etwas anders aus.

    "Das gibt es auch, wobei man schon sagen muss, wenn das Schlafwandeln neu auftritt bei Erwachsenen oder sich nicht in der Pubertät verlieren sollte, dass man dann schon einen Spezialisten hinzuzieht, der dann eventuell zusätzliche Untersuchungen veranlasst."

    Schlafwandeln bei Kindern ist fast immer harmlos und kein Grund zur Besorgnis. Nur manchmal – erinnert sich die Kinderärztin Petra Zieriacks – sorgt es für Überraschungen. Dann allerdings richtig.

    "Als die Kinder kleiner waren, hatten wir vor langer Zeit mal einen Babysitter, und als wir nach Hause kamen, ist uns aufgefallen, dass die Tür sperrangelweit offenstand. Da sind wir natürlich durchs Haus gegangen und haben nach der Babysitterin gesucht, fanden sie aber nirgendwo. Die Kinder schliefen Gott sei Dank tief und fest in ihren Betten, und da stellte sich eben raus, dass das Mädchen schlafwandelte und nachts tatsächlich über die Straße nach Hause gegangen war. Wir wohnten damals in einer Reihenhaussiedlung, und da hatte sie es nicht weit nach Hause."