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Radiolexikon: Schleudertrauma

Auffahrunfälle im Straßenverkehr können auch bei geringen Fahrgeschwindigkeiten bei den Beteiligten ein Schleudertrauma verursachen. Häufiger aber als lebensbedrohliche Unfallfolgen, sind starke Verspannungen im Bereich der Hals- und Nackenmuskulatur.

Von Justin Westhoff | 14.12.2010
    Prof. Klaus-Dieter Thomann: "Stellen Sie sich vor, Sie fahren auf der Autobahn, Sie müssen abbremsen, weil ein Stau ist, und von hinten kommt ein Auto mit hoher Geschwindigkeit und fährt auf dieses Auto drauf, und Sie ziehen sich dabei zum Beispiel eine Verletzung der Bandscheiben zu, es können Knochenbrüche entstehen, es können Bandzerreißungen entstehen, Einblutungen, Zerrungen der Muskulatur, und diese ganze Bandbreite wird häufig unter dem Schleudertrauma subsumiert."

    Der Kopf des vorderen Fahrers wird beim Aufprall in rascher Folge stark nach vorne gebeugt und dann nach hinten überstreckt – daher der Begriff "Schleudertrauma". In englischsprachigen Ländern spricht man noch anschaulicher vom "Peitschenhiebsyndrom". Neben Auffahrunfällen im Straßenverkehr können auch Unfälle bei Kampfsportarten oder beim Reiten, Treppenstürze oder das zweifelhafte Vergnügen einer Autoscooter-Fahrt ein solches Trauma auslösen.

    In schwerwiegenden Fällen heißt es: "ab ins nächste Krankenhaus". Dabei hat Dr. Julia Seifert vom Unfallkrankenhaus Berlin beobachtet:

    "Interessanterweise haben diese Patienten, die wirklich schwere Verletzungen der Wirbelsäule erleiden, relativ geringe Beschwerden, also man muss aufpassen, dass man die korrekt diagnostiziert."

    Häufiger aber als lebensbedrohliche Unfallfolgen, die intensiver Behandlungen und Operationen bedürfen, sind mehr oder minder starke Verspannungen im Bereich der Hals- und Nackenmuskulatur. Hierfür hat sich die Therapie sehr geändert. Früher wurden Schonung und eine Halskrause verordnet. Das ist "out":
    "Hier ist es wichtig, dass keine Ruhigstellung erfolgt, sondern Bewegung und Physiotherapie, Lockerungsmassagen können das unterstützen, oder auch mal im Anfangsstadium, wenn die Verspannungen sehr stark sind, eventuell Schmerztabletten."

    Prof. Klaus-Dieter Thomann, gelernter Orthopäde und heute Medizinethiker an der Uni Mainz schildert einen typischen Fall:

    "Sie haben einen Auffahrunfall mit einer etwas höheren Geschwindigkeit, ich sage mal 20, 30 Kilometer, fährt das Auto hinten drauf, also nichts Dramatisches – dann ist völlig vorstellbar, dass diese Person auch hinterher eine Zerrung der Wirbelsäule hat und dass da einige Wochen Beschwerden auftreten können."

    Internationale Sachverständige haben sich auf eine Klassifikation geeinigt, sie unterscheiden in vier Schweregrade, wobei drei und vier die schwersten Verletzungen beschreiben.

    Seifert: "Die ersten und zweiten Grade, ohne, dass wir tatsächliche strukturelle Verletzungen oder Veränderungen an den Muskeln, Gefäßen, an den Bändern oder am Knochen feststellen können, das sind also sogenannte Störungen, keine nachweislichen Verletzungen; und das Repertoire der Ausheilungen ist riesengroß von sofort arbeitsfähig und eigentlich gar keine Beschwerden bis jahrzehntelangen Beschwerden mit einem ganz bunten Bild der Symptomatik, so dass man angefangen hat, sich zu fragen: Was steckt eigentlich dahinter?"

    Oft können die Ärzte trotz sorgfältiger Diagnostik mit ausgefeilten bildgebenden Verfahren keine organischen Ursachen finden. Deshalb gibt es um Schleudertraumen sehr oft Auseinandersetzungen mit Haftpflicht- oder Rentenversicherungen. Unfallchirurgin Julia Seifert:

    "Diese Auffahrunfälle – da gibt es auch technische Sachverständigengutachten zu: Ganz wichtig ist, wenn denn ein entsprechendes Begehren gegenüber dem Haftpflichtversicherer ist, dass man klärt, wie hoch eigentlich die Differenzenergie war, das heißt, wie hoch war die Geschwindigkeit desjenigen, der mir aufgefahren ist und meine eigene Geschwindigkeit und wie hoch ist somit die Energie, die auf mich eingewirkt hat, denn wenn das kleiner als zehn Stundenkilometer ist, muss man per se eigentlich nicht mit strukturellen Verletzungen rechnen."

    Keine Verletzungen der Strukturen in Muskeln, Sehnen oder Wirbeln – das heißt aber nicht, dass überhaupt keine Beeinträchtigung der Unfallopfer vorliegt. Oft klagen sie nicht nur über Schmerzen, sondern auch über Empfindungsstörungen oder Schwindelgefühle.

    Die angebliche "Harmlosigkeitsgrenze", wonach bei einem Aufprall mit einem Geschwindigkeitsunterschied von bis zu zehn Stundenkilometern keine Entschädigung zu zahlen sei, haben höchste Gerichte längst gekippt. Schadenersatz mit der Behauptung ablehnen, es handele sich um einen Simulanten, der nur abkassieren will, das geht nicht mehr so einfach. Professor Thomann macht durchaus auch Gutachten für Versicherungen. Dennoch sagt er:

    Thomann: "Ich kann zwar nicht beantworten, warum diejenigen diese Beschwerden haben, aber ich gehe nicht davon aus, dass jemand, der nach einem Auffahrunfall über Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule klagt, dass der ein Simulant ist. Die große Schwierigkeit bei dem kleinen Auffahrunfall ist, dass Sie organisch nichts nachweisen können."

    Dass der Schock, die seelische Verletzung auch bei den nicht ganz so schweren Formen des Schleudertraumas eine bedeutende Rolle spielt, darüber gibt es inzwischen keinen Streit mehr. Auch Chirurgen wie Julia Seifert wissen das. Von der ersten Diagnose an muss diese Erkenntnis in der Betreuung der Betroffenen berücksichtigt werden:

    "Das ist etwas sehr Unangenehmes, von hinten überfallartig angefahren zu werden, auch das spielt in der Psychologie eine Rolle; dann ist es eben auch wichtig, das aber positiv zu bewerten, also: Er hat Glück gehabt in der Situation, es dem Patienten verständlich zu machen, dass kurzfristig muskuläre Verspannungen auftreten können und dass Bewegung und eigentlich die Rückkehr in sein ganz normales Leben eine wichtige Zielsetzung sind und man ihn darin unterstützen möchte. Wenn man das Ganze dramatisiert und eine Behandlung in die Wege leitet, die den Patienten krankmacht, dann chronifiziert so etwas sehr schnell."

    Gutachter Klaus-Dieter Thomann rät den Versicherern meist, die Diagnose Schleudertrauma zu akzeptieren, aber auch den Unfallopfern, ellenlange Prozesse durch alle Instanzen zu vermeiden und sich möglichst rasch über eine Entschädigung zu einigen:

    "Wenn Sie organisch keinen Schaden haben – trotzdem kann man im Einzelfall nicht sagen, dass der Betreffende nicht leidet, und aus Sicht auch des Menschen der in einen Unfall verwickelt wird, sollte man juristische Auseinandersetzungen möglichst vermeiden, denn wenn Sie selbst als Betroffener nachweisen müssen, vielleicht über Monate oder Jahre, das Sie Beschwerden haben, dann müssen Sie sich krank und schlecht fühlen und das beeinträchtigt ihre Gesundheit."

    Vorbeugung gegen ein Schleudertrauma ist selten möglich. Auf eines aber weisen die Experten hin: Im Auto muss die Kopfstütze richtig eingestellt sein. In einem TV-Werbespot aus der Schweiz ist das hübsch dargestellt:

    Man sieht eine Frau im Auto, die gerade losfahren will. Ein kleiner Junge am Straßenrand winkt ihr und zeigt mit der Hand auf die Oberkante seines Kopfes. Schließlich kapiert die Fahrerin und stellt die Kopfstütze höher.
    O-Ton Werbespot: "Sie fährt mit der richtigen Einstellung. Und Sie?"