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Radiolexikon: Stottern

Wenn Kleinkinder sprechen lernen, sind Stottern, Poltern oder Stammeln normale Phänomene, die bald von selbst verschwinden. Unabhängig von der Sprache stottern etwa ein Prozent aller Erwachsenen, davon 80 Prozent Männer und 20 Prozent Frauen. Obwohl die Sprechstörung zum ersten Mal schon vor mehr als 2000 Jahren beschrieben wurde, gibt es heute immer noch viele Theorien über die Ursachen.

Von Mirko Smiljanic | 10.02.2009
    Köln in einer Praxis für Stimm- und Sprachbehandlung, 11 Uhr vormittags. Der Sprachheilpädagoge Michael Frings unterhält sich mit dem 17jährigen Schüler Alexander de Wiwi.

    "Es gibt beim Stottern drei Kernsymptome, und das sind die Deeeehnung, dass also Silben und Laute gedeeehnt werden,…."

    …sagt Martin Sommer vom Universitätsklinikum Göttingen. Der Neurologe beschäftigt nicht mit dem Phänomen "Stottern" nicht nur als Arzt und Wissenschaftler – Martin Sommer stottert seit seiner frühesten Kindheit selbst.

    " … es gibt die Wie-, Wie-, Wiederholungen, und es gibt die Sprechblockaden, wo also gar nichts mehr geht, das sind die drei typischen Hauptsymptome des Stotterns, und da drum herum gibt es eine Menge erlerntem Zweitverhalten, Bewegungen der Arme, Zukneifen der Augen, Aufstampfen mit dem Fuß und eben auch das Vermeidungsverhalten, das ich eben dargestellt habe."

    Ein Prozent aller Erwachsenen und etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen stottern – übrigens vier Mal mehr Jungen als Mädchen. Dabei ist Stottern ein globales Phänomen, es kommt in allen Sprachen vor. Beschrieben wurde die Sprechstörung zum ersten Mal vor mehr als 2000 Jahren von den griechischen Denkern Demosthenes, Hippokrates und Aristoteles, Anfang des Mittelalters machte sich Abt Nokter Balbulus aus Sankt Gallen Gedanken über das Stottern, erste wissenschaftliche Abhandlungen über Ursache und Therapie finden sich aber erst im 16. Jahrhundert.

    "Es gibt viele, viele Theorien, das ist das Problem! Jede Generation, jedes Zeitalter hat seinen eigenen Theorien. Seit die bildgebenden Studien in der Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts immer mehr Verbreitung gefunden haben, kommt doch deutlicher heraus, dass die Kernsymptome des Stotterns eine neurologische Ursache haben könnten. Es gibt Studien, die deutlich darstellen, dass die Hirnaktivierung beim Sprechen verändert ist, bei normalen flüssigen Sprechern ist sie überwiegend auf der linken Hirnhälfte, bei Stotterern ist sie deutlich nach rechts verschoben, also auf die rechte Hirnhälfte, das heißt also, es gibt unterschiedliche Aktivierungsmuster des Gehirns beim Sprechen, und es gibt darüber hinaus wahrscheinlich Hardwareunterschiede, wenn man das so sagen darf, es gibt Unterschiede vor allem bezüglich des Aufbaus der linken Hirnhälfte, insbesondere der weißen Substanz der linken Hirnhälfte, also der Schaltungsbahnen zwischen den sprechrelevanten Arealen im Gehirn."


    "Die Henne- oder Eifrage ist bislang noch nicht geklärt. Die Studien, auf die ich mich grade bezogen habe, sind alle an Erwachsenen oder zumindest an jugendlichen Stotternden gemacht. Wir wissen also nicht, ob die organischen Veränderungen Ursache oder Folge des Stotterns sind. Wir wissen aber, dass Stottern familiär gehäuft auftritt und einen erblichen Anteil hat. Es gibt Studien, die nachweisen, dass etwa 2/3 bis 3/4 des Stotterns erblich bedingt sein könnten. Inwieweit da Umweltfaktoren mit hineinspielen, dass diese Veranlagung zum Ausdruck k-, k-, k-, kommt, ist bislang wenig verstanden."

    "Stottern tritt typischerweise bei Kindern zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr auf, also auf jeden Fall vor der Pubertät. Das Faszinierende an diesem frühkindlich erworbenen Stottern ist, dass es eine sehr hohe Spontanheilungsrate hat. Etwa fünf Prozent aller Kleinkinder zeigen diese Stottern, vier von fünf, also 80 Prozent, verlieren ist aber von selber wieder, ohne dass man da etwas tun muss. Das führt bei Ärzten und Behandlern teilweise dazu, nun warten Sie mal ab, das wächst sich schon raus. Die Schwierigkeit ist aber, dass bei einem von fünf es sich nicht auswächst und es bis jetzt nicht möglich ist, zu sagen, bei wem es bleibt und bei wem es nicht bleibt, so das eben etwa ein Prozent der Erwachsenen, überwiegend Männer, eben doch noch stottern."

    Stotternde sind weder psychisch krank noch minderbegabt, was ein Blick in die Liste höchst erfolgreicher Stotternder belegt: Isaak Newton litt unter der Sprechstörung, ebenso Winston Churchill, aber auch der Schauspieler Bruce Willis und der Fußballer Hamit Altintop stottern. Und wer dem Redefluss von Politikern genau zuhört, erkennt in ihren Reihen ebenfalls den einen oder anderen Stotternden. Viele bekommen ihr Problem mithilfe eines Therapeuten in den Griff bekommen. Was nur wenige wissen – sagt der Göttinger Neurologe Martin Sommer: Einen Stotternden flüssig reden zu lassen, ist einfach.

    "Es-gibt-ganz-einfache-Methoden auch schwer Stotternde flüssig zu machen, zum Beispiel Metronomsprechen, in-einem-bestimmten-Rhythmus oder Atemtechnikveränderungen, das heißt, es ist relativ einfach, es ist relativ leicht, einen schwer Stotternden flüssig zu machen. Aber-das-Problem-ist-wer-will-schon-den-ganzen-Tag-so-reden, das heißt diese scheinbar einfachen Techniken haben einen hohen Preis bezüglich des emotionalen Inhalts, man kann im Grunde genommen nicht mehr menschlich sprechen, das ist eine völlig verfremdete Sprechweise, die deshalb auch nur wenigen Stotternden dauerhaft hilft."

    In die gleiche Richtung zielt das Sprechen oder Singen im Chor: Wenn Stotternde gemeinsam Text vorlesen oder vorsingen, verschwindet ihr Sprechproblem fast augenblicklich. Übertragbar auf das alltägliche Leben sind solche Methoden leider nicht! Aus diesem Grund bevorzugen Sprechtherapeuten zwei andere Wege.

    "Das eine ist das Fluency-Shaping, das sozusagen die Ssprechweise iinsgesamt vverändert wwird, zzum Bbeispiel mmit weichen Sstimmeinsätzen aam Aanfang ddes Wwortes, fast durchgehend in der gesamten Sprechweise angewendet wird, damit Stottern gar nicht mehr vorkommt. Es ist etwas schwierig, das in den Alltag zu übertragen, es gibt aber verfeinerte Methoden, wie etwas besser funktionieren als das Metronomsprechen. Der andere Ansatz ist die Blockllllösetechnik. Dort gehen die Therapeuten davon aus, dass das normale Sprechen des Stotterns gar nicht verändert werden muss, sondern nur dann, wenn ein Stotterereignis, ein Block auftritt, dieser Block bearbeitet werden muss oder dem Stotternden darstellen muss, wie er sein Sprechen, wenn Sprechblockaden auftreten, besser in den Griff bekommt."

    Dabei nutzen die Behandler unter anderem verhaltenstherapeutische Ansätze. Stotternde sprechen umso flüssiger, je weniger Stress sie in der jeweiligen Situation verspüren. Steigt der Stresspegel, etwa weil jemand nachfragt oder man sich selber unsicher fühlt, kann sich ein Block bilden. Also gilt es ruhig zu bleiben. Dies gilt für den Stotternden, dies gilt aber auch für den Gesprächspartner und für Eltern: Nicht wegschauen, wenn jemand stottert! Geduldig zuhören! Niemals Sätze vervollständigen! Das ist mitunter schwer, mittelfristig aber erfolgreich. Außerdem sollten Sprechstörungen möglichst früh behandelt werden. Eine vollständige Heilung nach der Pubertät ist kaum möglich. Genau hier – sagt Martin Sommer – liegt allerdings ein zentrales Problem.

    "Ich habe ja gerade schon gesagt, dass wir im Kindesalter eine Spontanheilungsrate von nahezu 80 Prozent haben. Das bedeutet, es gibt praktisch keine guten, kontrollierten Therapiestudien im Kindesalter. Es ist ganz schwierig nachzuweisen, dass ein Verfahren wirkt, wenn Sie sowieso eine Spontanheilungsrate von 80 Prozent haben! Wahrscheinlich ist es aber so, dass bei den 20, 25 Prozent, bei denen das Stottern bleibt, eine frühe Therapie sinnvoll und notwendig wäre, aber die können wir nicht herausfischen, also insofern ist das eine sehr wichtige Frage, das ist wahrscheinlich die entscheidende Frage, wie können wir sozusagen die frühe Therapie auf die fokussieren, sie tatsächlich zur Persistenz, also zum Verbleib des Stotterns neigen."

    Für Alexander de Wiwi war die Therapie ein voller Erfolg. Er stottert nur noch hin und wieder – und wenn sich eine Sprechblockade entwickelt, so what, es gibt Schlimmeres!