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Webfehler im Darm

Gendefekte können zu chronisch-entzündlichen Erkrankungen im Darm führen. Schon die Diagnose ist schwierig. Und auch die Behandlung solcher Webfehler im Darm ist alles andere als einfach.

Von Mirko Smiljanic | 05.09.2017
    München, früher Nachmittag im Dr.-von-Haunerschen-Kinderspital. Die Wände des kleinen Aufenthaltsraums stehen voller Regale mit Bällen und Spielen, mit Malstiften und Büchern. Links sitzen auf einer Bank zwei Mädchen und ein Junge, ihnen gegenüber haben es sich die Eltern der Geschwister bequem gemacht: Eine Großfamilie aus dem Libanon, die seit fast 30 Jahren in Baden-Württemberg lebt. Heute sind sie aus ihrem Heimatort Aalen angereist, weil eines ihrer Kinder seit Jahren von Ärzten der Münchner Kinderklinik betreut wird.
    "Ich habe große Kinder, eine schreibt ihr Abi dieses Jahr, sie macht jetzt noch Mathe. Der andere ist in der elften Klassen, der ist im Gymnasium. Meine Tochter hat medizinische Fachangestellte gelernt, die macht jetzt auch weiter. Gott sei Dank, die Kinder, die groß sind, jeder hat seinen Weg. Die Kleine, da haben wir jetzt ein bisschen Sorge mit Äyä."
    Äyä, 13 Jahre alt, ein Mädchen mit schmalem, ernsten Gesicht, ist seit ihrer Geburt krank. Sie leidet an einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung mit Abszessen, Nahrungsunverträglichkeit und Übelkeit. Dramatische Symptome, deren Ursache aber unklar war.
    "Am Anfang waren wir in Aalen, dann sind wir hier gekommen. Wir waren neun Monate am Stück hier, sie haben leider die Diagnose nicht erkannt."
    Für Äyä – und natürlich für ihre Familie – beginnt eine Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken. 20 verschiedene Mediziner haben das Mädchen mittlerweile untersucht. Fast ohne Erfolg. Immer wieder leidet sie an Lungenentzündungen und hohem Fieber, Fisteln bilden sich am Po, der Dickdarm ist entzündet. Mit knapp zwei Jahren werden Teile ihres Darms entfernt, außerdem legen Chirurgen einen künstlichen Darmausgang. Äyä nimmt ihre Situation tapfer an.
    "Ich hab das ja jetzt schon von Geburt an sozusagen, von klein an und bin damit aufgewachsen. Ich werde so akzeptiert, wie ich bin."
    Die Deutsch-Libanesin ist ein aufgewecktes und fleißiges Mädchen, in der Schule hat sie gute Noten, sie lässt sich nicht unterkriegen. Auch wenn bis vor Kurzem niemand wusste, woran sie genau leidet. Denkbar sei bei ihren Symptomen vieles, so Professor Philip Bufler, Oberarzt am Dr.-von-Haunerschen-Kinderspital.
    "Der Kinderarzt denkt zunächst mal an die Ernährungssituation und wird die Eltern fragen, ob das Kind zum Beispiel gut an der Brust trinkt oder gut aus der Flasche trinkt. Er wird sich erkundigen nach den Stuhlgewohnheiten, er wird fragen, ob der Stuhl vielleicht Blut- und Schleimablagerungen zeigt."
    Alles wurde gefragt, alles bei Äyä untersucht, bis hin zu einer Darmspiegelung mit 18 Monaten, ...
    "... die das Bild einer schweren Dickdarmentzündung, einer sogenannten Colitis, zeigte. Nachdem die Ernährungssituation sehr schwierig war, wurde bereits zu diesem Zeitpunkt im Alter von gut eineinhalb Jahren, eine Sonde in den Magen gelegt, um das Kind mit einer Spezialnahrung ernähren zu können."
    Äyä bekommt Sondennahrung, ...
    "... also mehrmals am Tag und ich versuche, noch immer zusätzlich was zu essen, so normales Essen. Aber ich habe auch eine sehr strenge Diät."
    Was aber nicht bedeutet, dass sie keine Lieblingsspeisen hat.
    "Hähnchenfleisch, Kartoffeln, Lammfleisch, glutenfreies Brot, glutenfreie Nudeln, Gurken."
    Warum ist ihr Darm chronisch entzündet?
    Woran aber leidet Äyä genau? Warum ist ihr Darm chronisch entzündet? Seit Jahren suchen die Münchner Ärzte Antworten auf diese Fragen. Fortschritte gibt es erst seit Kurzem, seit gleich ein ganzes Expertenteam den Fall untersucht.
    "Man muss hier immer die sogenannten Alarmsymptome, die man heute sehr viel besser kennt als früher, muss man immer wieder in den Vordergrund rücken. Dazu gehören die schwere Lungenentzündung, die Colitis, diese Veränderungen am Po, das sind Alarmsymptome, die uns heute dazu bringen, dass wir eine ganz detaillierte Untersuchung der Funktion des Immunsystems durchführen."
    Dass Äyäs Immunabwehr gestört ist – ausgelöst vielleicht durch einen Gendefekt – vermuten die Münchner Mediziner schon lange. Beweisen können sie es aber nicht. Immerhin sprechen einige Indizien dafür, etwa die vergrößerte Milz des Mädchens, so Philip Bufler.
    "Die Milz ist ein ganz wichtiges Immunorgan, also ein wichtiges Organ für die Immunabwehr. Und im Rahmen einer gestörten Immunabwehr kommt es nicht selten zu einer Vergrößerung der Milz, insofern passt dieses Symptom auch zu der Grunderkrankung."
    Genomanalyse bringt Durchbruch
    Die Münchner Kinderärzte wollen es genau wissen und fahnden weltweit nach vergleichbaren Fällen. Kollegen aus anderen Ländern und Kliniken werden um Mithilfe gebeten – Äyä und ihre Krankheit entwickelt sich zu einem Forschungsprojekt. 500 andere Patienten mit schweren chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen findet das Team, Tausende Gentests werden durchgeführt. Und dann gelingt der Durchbruch.
    "Im Rahmen dieser Genomanalyse konnte man eine Veränderung eines immunologisch relevanten Eiweißmoleküls im Körper nachweisen, der, wie wir denken, ausschlaggebend ist, für diesen Immundefekt."
    Äyä leidet an einem extrem seltenen Immundefekt, vergleichbar mit einem Webfehler im Darm, so Bufler.
    "Die Erkrankung hat keinen speziellen Namen, wir sprechen letztlich nur über das veränderte Protein, das bei dieser Patientin vorliegt."
    Ein Erfolg für die medizinische Forschung, aber lindert er auch das Leiden Äyäs? Auf jeden Fall, so Bufler, man überlege ...
    "... inwieweit man möglicherweise durch den Austausch des Immunsystems, das bedeutet eine Stammzell-, eine Knochenmarktransplantation, die Grunderkrankung des Mädchens heilen kann."
    Noch ist die Entscheidung über eine Knochenmarktransplantation nicht gefallen, noch kämpft Äyä gegen viele Widrigkeiten für ein normales Leben: Sie hat Freundinnen, ihre Schulnoten sind gut und einen richtig verantwortungsvollen Job hat sie auch schon: Sie hat es bis zur Schulsprecherin gebracht. Es macht ihr Spaß ...
    "... zu Sitzungen zu gehen oder mit dem Direktor zu sprechen, wenn es Besprechungen gibt, und so."