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Radsport
Nichts für Angeber

Vier alpine Berge mit dem Fahrrad überqueren, fast 240 Kilometer bei jedem Wetter zurücklegen – und zum Abschluss hinauf aufs Timmelsjoch, einen der schwierigsten Pässe, die es für Rennradfahrer gibt. Unser Autor Tim Farin hat sich getraut.

Von Tim Farin | 07.09.2014
    Deutschlandfunk-Autor Tim Farin beim Ötztaler-Marathon.
    Deutschlandfunk-Autor Tim Farin beim Ötztaler-Marathon. (Sportograf)
    238 Kilometer Strecke, 5.500 Höhenmeter, alles an einem Tag - eine massive Herausforderung, die weit mehr Menschen meistern möchten, als auf die Strecke dürfen. Es gibt etwa fünfmal so viele Bewerber wie Starter, das Startrecht wird verlost. Ernst Lorenzi, Chef des Organisationskomitees, weiß um den Reiz der Prüfung: "Die Angeber, die wollen die Startnummer haben. Die wollen dann am Montag oder am Dienstag in der Firma sagen, für die Ahnungslosen: Ich bin den Ötztaler gefahren."
    Wer kein Angeber sein, will braucht etwas anderes: Das Finisher-Trikot, das nur Leute bekommen, die das Ziel in Sölden erreichen. Als Medienvertreter habe ich das Glück, vom Veranstalter gesondert eingeladen zu werden. Also wage ich mich auf die Strecke - natürlich ist das Trikot mein Ziel.
    Sonntagmorgen, 6.45 Uhr, nervöse Plauderei vor dem Start, über uns ein Hubschrauber - gleich geht es los. Etwas mehr als 13 Stunden darf ich brauchen, bis wieder am Ausgangspunkt ankomme. Zunächst einmal rase ich im hektischen, bald zerklüfteten Feld gut 30 Kilometer bergab nach Oetz.
    Kein Wiedersehen mit dem Besenwagen
    Die erste Bergprüfung ist gleich eine harte. Hinauf geht's zum Kühtai, über 1.200 Höhenmeter - wer in den Bergen ungeübt ist, kann sich schon hier schnell verausgaben. Unterwegs treffe ich den Rennleiter 3, er wartet am Straßenrand auf das Ende des Feldes, wo er später gnadenlos die Fahrer in die Besenwagen schicken wird. Mein Ziel: Ihn heute nicht mehr sehen. Er macht mir Mut, sagt "das passt, geht gut."
    Den ersten Berg schaffe ich vorbei an weidenden Kühen, die erste Abfahrt mit etwa 90 Stundenkilometern in der Spitze. Von Innsbruck aus geht es hinauf zum Brenner, 39 Kilometer dezenter Anstieg. Ich erinnere mich an das, was Organisator Lorenzi mir am Vorabend gesagt hat: "Ötztaler-Anfänger verbrennen sich eigentlich immer am Brenner, weil sie versuchen, in einer zu schnellen Gruppe mitzuradeln."
    Als meine Gruppe bei etwa 36 km/h auseinanderreißt, bleibe ich nicht vorn dran, sondern kurbele in Ruhe der nächsten Verpflegung entgegen. Was ich gelernt habe bei anderen Langstreckenrennen: Essen und Trinken kann man nie genug. Es gibt jede Menge: "Wir haben da Laugenbrezen, Kasbrote, Kuchen, Apfel, Bananen, Müsli, Gel." "Was würden Sie jetzt nehmen?" "Was I jetzt nehmen würd?" "An meiner Stelle." "An Deiner Stelle, okay. Käsebrot. Brauchst a bissl Salz, gell."
    Hinterm Brenner, sagen die Veteranen, geht der Ötztaler eigentlich erst los. 127 Kilometer bin ich schon geradelt. Jetzt folgt der Jaufenpass. Hier wird nur noch wenig gesprochen unter den Fahrern. Jeder versucht, sich den Berg im eigenen Rhythmus hochzumeditieren.
    Es geht über die Passhöhe auf 2.090 Meter und hinab nach Sankt Leonhard im Passeiertal. Unten ist es mild, aber der Blick hinauf entlang der Strecke verheißt nichts Gutes: Das Timmelsjoch, einer der härtesten Pässe in den Alpen, liegt vor mir - es geht jetzt 27 Kilometer hinauf. Die Felswand ist in Regenwolken gehüllt, und schon weit unten im Tal fängt es an zu schütten. Ich quäle mich die steile Rampe bis zur letzten Essensstation hinauf, das Tacho zeigt kaum mehr als sieben km/h an. Beim Verpflegungsstand spreche mit einem Leidensgenossen aus Deutschland, wir blicken auf den erhabenen Berg, der dunkel über uns liegt: "Ja, ist natürlich nicht gerade begeisternd. Aber wenn man jetzt einmal hier ist, dann wird man das letzte Stück auch noch schaffen." "Angst, Ehrfurcht - oder was haben Sie jetzt?" "Nö, Ehrfurcht nicht, und Angst habe ich auch keine, ja: Respekt."
    Mit 71 den Ötztal neunmal geschafft
    Eine passende Haltung. Denn es wird immer kälter. Der Regen immer stärker. Die Straße quält mich über den Berg, aber ich bleibe im Rhythmus, versuche, den Puls bei 140 Schlägen zu halten, auch wenn mein Körper lieber runterschalten möchte. Ich sehe die Wolken meines Atems - und dann, nach der letzten Kehre, die Einfahrt zum Tunnel in der Felswand - beim Ötztaler der psychologische Siegpunkt. Ich rolle heran und höre einen alten Herrn, der alleine in der Einfahrt steht und den Teilnehmern zujubelt.
    Ich spreche kurz mit ihm und bin beeindruckt: Der Mann ist 71, hat den Marathon neunmal geschafft, wartet seit dem Mittag auf seinen Freund, der hoffentlich noch vor den ersten Schneeflocken den Gipfel erreichen wird. Ich selbst bin gerührt. Ziehe meine Windjacke über die durchnässte Kleidung und tauche auf der anderen Seite in einen Nebel ein. Wind, Kälte und Regen machen die Abfahrt zur Höchstbelastung, ein Kollege muss sogar in der Abfahrt hinab zum Ziel unterkühlt aufgeben - bei ihm streikt der Körper. Ich aber habe es geschafft. In elf Stunden und 54 Minuten, sprinte in Sölden noch durchs Ziel. Ein paar Minuten später habe ich mein Trikot und das gute Gefühl, kein Angeber zu sein, sondern Finisher.