Freitag, 29. März 2024

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Rafael Chirbes: Der lange Marsch

Im Norden von Spanien wird an einem Februarmorgen des Jahres 1948 auf einem Bauernhof ein kleiner Junge geboren. Zur gleichen Zeit tauft ein Schuhputzer in Salamanca seinen Sohn auf einen Doppelnamen, weil er ihm eine bessere Zukunft wünscht. Wer José Luis heißt, könne Rechtsanwalt, Viehzüchter oder Gelehrter werden, denkt er. 1948 ist auch das Jahr, in dem Gloria Sesena feststellt, daß der Reichtum ihrer Familie verloren gegangen ist. Sie beschließt, einen wohlhabenden Emporkömmling zu heiraten, der eigentlich nicht ihrem Stand entspricht. In der Hauptstadt des Landes sitzt der Arzt Don Vicente Tabarca verbittert in seiner Praxis und wartet auf Patienten. Als ehemaliger Republikaner fürchtet er Repressionen des faschistischen Regimes und lebt mit seiner Frau und seinen Töchtern in völliger Isolation. Quer über die iberische Halbinsel verteilt Rafael Chirbes die Schauplätze seines neuen Romans "Der lange Marsch". Er erfindet sechs Familien, die in Madrid, Galicien, Salamanca, Valencia und der Estremadura zu Hause sind, dem Großbürgertum angehören oder als Tagelöhner, Näherinnen und Straßenhändler mit dem Überleben kämpfen. "In jeder der Figuren steckt etwas von mir", so Rafael Chirbes. "Sie sind Teile meiner Person. Das ist eines der Wunder der Literatur: Wenn man sich eine Reihe von Figuren ausdenkt und sie so konstruiert, daß sie funktionieren, entwickeln sie ihr eigenes Leben. Gleichzeitig sind sie natürlich meine Gestalten, deshalb ist es schwierig, einzelne besonders hervorzuheben. Mir gefällt der Arzt, Don Vicente Tabarca, in seiner Mischung aus Ernüchterung, Ehrhaftigkeit, Feigheit und Angst, denn er hat sein Leben verloren und konnte nichts dagegen ausrichten, man hat es ihm einfach weg genommen. Mir gefällt auch José Luis, weil er gezwungen ist, sich von der Studentenbewegung zu distanzieren, obwohl er eigentlich mittendrin sein will. Ich mag seine Großzügigkeit, mit der er sich für ein kollektives Projekt einsetzt, gleichzeitig weiß er, daß er wegen seiner sexuellen Orientierung ein Außenseiter bleiben muß. Besonders mag ich Gloria, die Mutter, diese völlig desillusionierte Frau, die einen enormen Willen hat."

Maike Albath | 08.06.1998
    In kurzen Kapiteln schildert Chirbes die Geschicke der rund 30 Figuren und verwebt sie zu einem farbenprächtigen Porträt der spanischen Gesellschaft in der Franco-Zeit. Abwechselnd taucht der Leser ein in den wohlgeordneten Alltag der galizischen Bauernfamilie und die Welt des zwielichtigen Straßenhändlers, erfährt von den Nöten des verschuldeten Tagelöhners, der seine Frau an den Bäcker verleihen muß, und hat Teil an den Sorgen der mondänen Gloria Sesena, die mit stilvollen Einladungen die Anerkennung ihres Mannes durchsetzt. Die Narben des Bürgerkrieges sind überall sichtbar. Doch in den meisten Familien zehrt der Existenzkampf alle Kräfte auf, und resigniert paßt man sich an das neue politische System an. In den sechziger Jahren wandelt sich das Land: Die Industrialisierung verwischt die Grenzen zwischen den Schichten, Bildung wird für alle zugänglich, gleichzeitig zerstören Bauprojekte das ländliche Spanien. So muß der galizische Bauernhof einem Staudamm weichen, die Besitzer ziehen in die Stadt. Am Ende des ersten Teils von "Der lange Marsch" schleppt sich ein verletzter, herrenloser Hund mühsam die Straße entlang. Er steht für die Mutlosigkeit der Elterngeneration. Für die Kinder bergen die Veränderungen eine Chance. Rafael Chirbes, 1949 in der Provinz von Valencia geboren, erzählt auch die Geschichte seiner Jugend: "Ich denke, es ist ziemlich naheliegend für einen Schriftsteller, einen Bildungsroman über die Generation zu schreiben, der er angehört. Das ist ein Teil der literarischen Tradition Westeuropas, Thomas Hardy, Flaubert, Balzac, der Weltliteratur überhaupt, in gewisser Weise zählt auch ‘Gespräch in der Kathedrale’ von Vargas Llosa dazu. Worum geht es nun in einem Bildungsroman? Es geht darum zu erzählen, wie eine Generation sich im Widerstreit mit den eigenen Vätern entwickelt, auch gegen die Vorstellungen der Väter, die diese nicht aufgeben wollen. Jede Generation muß auf ihre eigene Rechnung Erfahrungen machen und kann nicht das Wissen übernehmen, daß sie ererbt hat. Auch das Scheitern muß jede Generation selbst erleben. Dieses Wissen läßt sich nicht weiterreichen, das sollte auch nicht passieren, denn sonst ähnelte die Menschheit einem versiegten Brunnen."

    Im zweiten Teil von "Der lange Marsch" begegnen sich die erwachsenen Söhne und Töchter der sechs Familien in Madrid. Sie gehen zur Uni, lesen Kafka, Bourroughs, Fromm und Marcuse, diskutieren über sexuelle Befreiung und Marxismus und gründen eine kommunistische Bewegung. Ihr Weg endet noch vor Francos Tod in den Kellern der Geheimpolizei. Rafael Chirbes läßt seine Helden scheitern und zeigt, daß die Apathie der Elterngeneration nur mit Schmerzen überwunden werden kann. Auf eine einfache Botschaft läßt sich "Der lange Marsch" nicht reduzieren, denn Chirbes erzählt auch immer von den Innenwelten seiner Figuren, wodurch jede Erfahrung, jedes Erlebnis vielfach gebrochen wird. Rafael Chirbes ist ein altmodischer Schriftsteller und hat keine Scheu, sich auf ein traditionelles Genre zu berufen. Verstaubt wirkt "Der lange Marsch" trotzdem nicht - im Gegenteil. Der spanische Autor arbeitet den Bildungsromans für seine Zwecke um. Er zersplittert den klassischen Helden, wie er bei Hardy, Flaubert oder Balzac zu finden ist, und läßt ein ganzes Helden-Batallion agieren, das er souverän durch die 25 Jahre der erzählten Zeit dirigiert. Mit 30 verschiedenen Augenpaaren verfolgt der Leser die historische Entwicklung, wodurch nicht nur ein differenziertes Bild des privaten und öffentlichen Lebens entsteht, sondern auch der Bildungsroman einen neuen ästhetischen Reiz bekommt. "Für mich kommt es vor allem auf den Ton an", so Chirbes. "Die Geschichte an sich ist nicht so wichtig, denn jede ist schon 2000 Mal erzählt worden. Wenn ich einen Roman beginne, interessiert mich nur der erste Satz. Ich weiß nie, wie der Roman weitergehen wird. Auch bei ‘Der lange Marsch’ hatte ich keinen präzisen Plan. Es ist eine Art Tanz, der mich von einer Figur zur nächsten trägt. Ein Tanz auf der Suche nach dem Zusammenhalt des Romans. Und der Zusammenhalt des Romans ergibt sich aus dem Ton. Ich bin der Ansicht, daß man der Logik des ersten Absatzes, des ersten Satzes sogar, bis zum Ende folgen muß. Davon darf man nie abkommen. Daraus entsteht das Buch, daraus ergeben sich die erzählerischen Mittel."

    Was Chirbes als Tanz beschreibt, ist in Wirklichkeit solides erzählerisches Handwerk. Er hat es perfekt im Griff. Chirbes nutzt Landschaftsbeschreibungen, um die seelischen Zustände seiner Figuren zu spiegeln; Motivketten weisen auf Entwicklungen voraus oder verdichten die Geschehnisse. Streunende Hunde, die Hofhunde der Großgrundbesitzerin und die Hunde der Passanten über den Kellern der Geheimpolizei versinnbildlichen das alte Spanien. Ein rauschender Bach hinter dem Haus des galizischen Bauerns deutet schon auf den Stausee hin, der sein Haus später verschlucken wird. Chirbes findet von der ersten Seite an seinen eigenen Ton, der sich in seiner schönen Sprache, der Atmosphäre seiner Bilder und dem Erzählrhythmus zeigt, aber der Ton trägt auch, weil die Geschichte stimmt. "Der Begriff des Tons umfaßt für mich auch die Perspektive", erläutert Chirbes. "Man guckt durch eine Jalousie in das Innere eines Zimmers. Wenn die Jalousie weit heruntergelassen ist, hat man den Eindruck, in ein sehr unordentliches Zimmer zu schauen, denn es liegen Schuhe und Wäsche auf dem Boden herum. Ist die Jalousie etwas weiter oben, entdeckt man, daß sich im Bett eine Liebesszene abspielt. Das meine ich mit Perspektive. Darin liegt zugleich die Tragödie der Romanciers. Das größte Problem für uns Schriftsteller ist nämlich, daß wir nicht sicher sein können, ob wir die Hoffnung und den Schmerz unserer Zeit tatsächlich zum Ausdruck gebracht haben. Man kann das häufig beobachten: Werke, die zu ihrer Zeit sehr erfolgreich und populär waren, erweisen sich später als hohl. Das Leben hat sich an anderer Stelle entfaltet, wovon in diesen Büchern nichts erzählt wurde. Es kommt also vor allem darauf an, an welcher Stelle das Auge durch die Jalousie guckt."

    In "Der lange Marsch" sieht Chirbes in viele Zimmer hinein, und jedes Mal richtet sich sein Blick auf ein anderes Detail. Aus Schlafzimmern, Kinosälen, Küchen, Cafés und dem, was dort passiert, fügen sich die Realitäts-Fetzen wie Puzzleteile zusammen. Auch darin besteht Chirbes Kunst: Er gibt nicht zu viel preis und zählt auf die Phantasie seiner Leser.