Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Raffarin zum CDU-Vorsitz und der EU
"2019 wird ein neues Europa zum Vorschein kommen"

Der frühere französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin zeigte sich beunruhigt über den gegenwärtigen Prozess des Rückbaus von Europa. Von der oder dem neuen CDU-Vorsitzenden erhofft er sich, einen Ausbau der deutsch-französischen Beziehungen, auch um starke Position gegenüber Amerika und anderen beziehen zu können.

Jean-Pierre Raffarin im Gespräch mit Christoph Heinemann | 07.12.2018
    Der ehemalige französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin in Paris.
    Der ehemalige französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin (AFP / Geoffroy Van der Hasselt)
    Das Interview im französischen Originalton zum Nachhören
    Christoph Heinemann: Was erwarten Sie von der Nachfolgerin oder dem Nachfolger von Frau Merkel an der Spitze der CDU?
    Jean-Pierre Raffarin: Als erstes Pläne, ein Interesse, eine Zugewandtheit für Europa. Mich beunruhigt gegenwärtig der Prozess des Rückbaus von Europa. Mir gefällt der Brexit nicht, oder das, was in einigen instabilen Ländern passiert. Der deutsche Kanzler oder die deutsche Kanzlerin sollte sehr europäisch ausgerichtet sein. Nummer eins. Nummer zwei wäre, dass sie oder er sehr pro-französisch sein sollte, in jedem Fall aber Freund oder Freundin Frankreichs, um die deutsch-französischen Beziehungen im Dienst von ganz Europa auszubauen.
    "Beide Kandidaten erschienen mir als vereinbar mit den französischen Europa-Projekten"
    Heinemann: Daher die Frage: Wer wäre Ihre bevorzugte Kandidatin oder Ihr bevorzugter Kandidat?
    Raffarin: Meine große Zuneigung für das deutsche Volk verbietet es mir, vorab eine Auswahl zu treffen oder mich an seine Stelle zu setzen. Man kann voraussagen, dass AKK in etwa den Kurs von Angela Merkel fortsetzen wird. Ich sehe, dass Friedrich Merz Positionen vertritt, die sich nahe an denen von Präsident Macron bewegen. Beide Kandidaten erschienen mir als vereinbar mit den französischen Europa-Projekten.
    Heinemann: Ist der Name Annegret Kramp-Karrenbauer für Franzosen schwer auszusprechen?
    Raffarin: Wir sagen lieber AKK, das ist einfacher. Sie wissen, dass die Franzosen für Fremdsprachen nicht besonders begabt sind. Komplizierte Namen sind noch schwieriger auszusprechen. Annegret Kramp-Karrenbauer sollte aber klappen. Auf jeden Fall hat man sie wahrgenommen und weiß, dass es sie gibt.
    "Wichtig ist, dass man Populisten nicht hinterherläuft"
    Heinemann: Eine Herausforderung für die künftige CDU-Führung wird der Kampf gegen die populistische parlamentarische Rechte sein. Das ist in Deutschland ein relativ neues Phänomen. Frankreich verfügt über eine lange Erfahrung. Was raten Sie?
    Raffarin: Wichtig ist, dass man Populisten nicht hinterherläuft, weil man sie niemals einholen wird. Man muss der eigenen Linie, dem eigenen Programm und Horizont verbunden bleiben, und der Hoffnung, die man anbietet. Gefährlich ist es - und diese Versuchung erlebt man häufig in Frankreich - wenn man den Extremen nachrennt und sich nach und nach von extremem Gedankengut aufzehren lässt. Sie sind politische Gegner. Und man kann ihren Einfluss begrenzen, indem man sie bekämpft. Jacques Chirac hat das kraftvoll mit dem Front National gemacht. Für mich ist das die einzig mögliche Haltung.
    Heinemann: Halten Sie Frau Merkel für zu zögerlich, wenn es um Europa geht?
    Raffarin: Nein. Ganz ehrlich, wir empfinden großen Respekt vor Frau Merkel. Wir sehen, was sie für Deutschland geleistet hat. Wir bewundern in Frankreich, was sie für ihr Land und damit auch für Europa bewirkt hat. Es gibt manchmal Irritationen, etwa wenn wir uns Ihren Außenhandel im Vergleich zu unserem anschauen. Manchmal gibt es Spannungen. Insgesamt empfinden wir großen Respekt von Angela Merkels Person und ihrem Handeln.
    "Die USA benehmen sich wie die Gegner Europas"
    Heinemann: Paris und Berlin haben einen Kompromiss bei der europäischen Besteuerung großer Internetkonzerne gefunden: Google, Apple, Facebook, Amazon, alles US-amerikanische Unternehmen. Fürchten Sie, dass die USA gegen französische und deutsche Unternehmen zurückschlagen werden?
    Raffarin: Zurückschlagen? Sie haben doch den ersten Schlag ausgeführt. Die USA benehmen sich gegenwärtig wie die Gegner Europas. Sie kritisieren ständig die Eurozone. Ganz zu schweigen vom Ausstieg aus dem Pariser Klima-Abkommen. Wir haben bereits genug Schläge erhalten. Wir sollten keine Angst haben, wenn unsere Sache gerechtfertigt ist und vor allem: Wenn sich Frankreich und Deutschland einig sind. Ich reise viel durch die Welt: in die Vereinigten Staaten, nach China. Wenn eine französische Position von Deutschland unterstützt wird - oder umgekehrt – eine deutsche durch die Franzosen, dann ist das eine sehr starke Position. Wenn wir uns einig sind, dann müssen wir weder die Amerikaner noch andere fürchten. Das ist ein Grund dafür, die deutsch-französische Zusammenarbeit immer weiter zu stärken.
    "Auf das Volk zu hören, bedeutet niemals eine Niederlage"
    Heinemann: Ein Blick auf die Lage in Frankreich: Die Regierung hat die Erhöhung der Treibstoff-Steuer ausgesetzt. Ist das eine Niederlage für Präsident Macron?
    Raffarin: Nein, auf das Volk zu hören, bedeutet niemals eine Niederlage. Man muss wissen, dass man gibt, um etwas zu bekommen. Wir erleben einen großen Konflikt innerhalb der französischen Öffentlichkeit, die sehr besorgt ist mit Blick auf Abgaben, Steuern und Kaufkraft. Politik ist kein Fußballspiel, wo der eine den anderen überwältigt. Man benötigt den anderen, deshalb muss man wissen, wann man etwas gibt. Dieses Moratorium ist ein Zeichen des Respektes gegenüber dem Protest. Die Protestbewegung muss zufriedengestellt werden, damit sie zur Befriedung beitragen kann. Jacques Chirac hat immer gesagt: Reformen sind ohne sozialen Zusammenhalt nicht möglich. Wenn das Land blockiert ist, kann man keine Reformen durchsetzen. Und wenn man merkt, dass eine Blockade droht, sollte man sie zu verhindern versuchen.
    "2019 wird tatsächlich ein neues Europa zum Vorschein kommen"
    Heinemann: 2019 wird ein schwieriges Jahr für Europa: der Brexit, die Wahlen zum Europäischen Parlament. Wird dieses Jahr die Europäische Union verändern?
    Raffarin: Die Europäische Union wird sich beträchtlich verändern. Es gibt gegenwärtig eine große Unzufriedenheit mit der Europäischen Union. Viele Leute wollen Europa den Rücken kehren. Dabei geht es vielmehr darum, die Unvollkommenheiten, Schwächen und Unzulänglichkeiten zu korrigieren, als darum, noch einmal bei Null anzufangen. Die Europäische Union ist sehr kompliziert aufgebaut. 2019 wird tatsächlich ein neues Europa zum Vorschein kommen: ein Europa, dass sich auf einige wichtige Ziele konzentrieren wird. Ein Europa, das besser in der Lage sein wird, die Probleme zu regeln, die die Öffentlichkeit bewegen. Für Beschäftigung, neue Technologien, Migration, in Fragen, die für den europäischen Zusammenhalt wichtig sind, müssen wir neue Wege finden und Europa stärken. Und das erreichen wir wahrscheinlich, indem wir weniger regeln und uns auf ein paar Ziele konzentrieren, die für einige besonders wichtig sind.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.