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Raffinierter Chronist

Der 35-jährige Wojciech Kuczok gehört zur Elite der jüngeren polnischen Literatur. Im vergangenen Jahr sind seine Erzählungen "Im Kreis der Gespenster" auf Deutsch erschienen, in diesem Frühjahr sein Roman "Dreckskerl".

Von Marta Kijowska | 17.09.2007
    Er besitze ein ungewöhnliches Erzähltalent, das ihm erlaube, "die einfachsten, aber auch die grausamsten Dinge in einer faszinierenden Weise darzustellen". So begründete die Jury des Nike-Preises 2004 ihre Entscheidung für Wojciech Kuczok. Und sie hatte damit Recht: In seinem preisgekrönten Roman "Dreckskerl" zeigt sich Kuczok als raffinierter Chronist eines Alltags, in den die Grausamkeit wie selbstverständlich eingeschrieben ist. Es ist die Geschichte oder, wie er es nennt, die "Antibiographie" eines Jugendlichen, der in einer schlesischen Kleinstadt aufwächst und dabei auf Schritt und Tritt verschiedene Formen der physischen und psychischen Gewalt erlebt. Vor allem sind es die sadistischen Erziehungsmethoden seines Vaters, der keine Gelegenheit auslässt, ihn mit Regeln, Verboten, Sprüchen und Maximen zu traktieren und der die Peitsche für das beste didaktische Instrument hält.

    "Die Peitsche hatte eine kompakte, dichte Struktur, der Schmerz nistete sich schon nach dem ersten Hieb richtig ein; eigentlich reichte dieser erste Hieb für den ganzen Tag, und sogar länger, eigentlich hätte dieser erste Streich des ersten Streichs fürs ganze Leben gereicht, aber ich konnte das dem alten K. nicht begreiflich machen."

    "Der alte K.", so nennt der Ich-Erzähler seinen Vater, unabhängig davon, welchen Abschnitt der Familiengeschichte er gerade erzählt. Sein Bericht besteht nämlich aus drei Teilen: aus Damals, Dann und Danach, wie die einzelnen Überschriften lauten. Diese Gliederung ermöglicht ihm eine unterschiedliche Perspektive und somit einen wechselnden Duktus. Im ersten Teil, der von der Zeit vor seiner Geburt handelt, ist er der allwissende, aber noch unberührte und oft ironische Erzähler. Er belächelt die einstige Glanzzeit und den sozialen Abstieg der Familie, die gezwungen ist, das Haus mit Fremden zu teilen. Er witzelt über alle Hausbewohner, über die Eltern und die Untermieter ebenso wie über das auf einer eigenen Etage lebende Geschwister des alten K.: den permanent versagenden Bruder und die streng-bigotte, altjungfräuliche Schwester. Im zweiten, zentralen Teil steht seine eigene Kindheit im Mittelpunkt, also gibt er sich darin abwechselnd als Opfer, Rebelle und eine Art Selbsttherapeut. Und im dritten schließlich ist er ein junger Erwachsener, der den Albtraum des Elternhauses zwar überstanden hat, dafür aber mit einer psychischen Schädigung und emotionalen Verarmung zahlt.

    "Ich floh vor diesem Haus. Ich floh mit geballten Fäusten in der Hosentasche, ich floh mit dem Ehering am Finger, ich floh mit den Kindern auf dem Arm, ich floh vor fremder Schönheit, vor fremder Zärtlichkeit, vor fremder Vertrautheit, ich floh ratlos, kopflos, hoffnungslos, ich floh in alle Richtungen zugleich."

    Gegen die Wunden seines Ich-Erzählers weiß Kuczok zum Schluss ein wirksames Heilmittel: einen furiosen Traum, in dem das Familienhaus und seine Bewohner mit Ausnahme der Mutter in einem riesigen Schlund aus Jauche verschwinden.

    "Vor ihren Augen fiel das Haus in Null Komma nichts zu Schutt zusammen, stürzte in ein unterspültes Loch, die verfaulten Fundamente d i e s es Hauses gaben nach und das Ganze zerbröselte plötzlich, versank in Schlamm, Wasser und Jauche. Sie war vollbracht, die grausame Vernichtung, die Wolke war restlos vergossen und eröffnete der Sonne den Blick auf die Katastrophe."

    Dieser Untergangstraum wird mit dem ersten Satz aus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust eingeleitet:

    "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen."

    Damit erschöpft sich aber auch schon die literarische Parallele. Denn während bei Proust auf diesen Satz ein guter, friedlicher Traum folgt, ist es bei Kuczok einer der totalen Vernichtung, die zum Schluss sogar seinen Hauptprotagonisten erfasst:

    "Ich war, doch ich bin nicht mehr."

    Dieser letzte, rätselhafte Satz des Romans ist typisch für Kuczoks Erzählstil. Seine gestalterischen Mittel sind oft genauso zweideutig wie die Handlungsweise und die Emotionalität seiner Figuren. Das gilt auch für die neun Erzählungen des Bandes "Im Kreis der Gespenster". Sie sind alle Variationen desselben Themas, der Liebe, und doch gleicht keine der anderen, zumal jede von einer anderen Form und Ausprägung der Liebe handelt. Mal geht es um die erste Liebe eines Jugendlichen, mal um die eingebildete Mutterliebe einer einsamen Frau, mal um die enttäuschte Selbstliebe eines Psychotherapeuten, der in einem Patienten sein Spiegelbild sieht. Jede dieser Geschichten ist also eine kleine psychologische Studie, in der Kuczok sowohl die Grenzen als auch die Paradoxa der Liebe enthüllt. Dabei stützt er sich auf sein exzellentes Gefühl für Sprache, das ihm nicht zuletzt erlaubt, geschickt zwischen Tragik und Komik zu wechseln. Nicht zufällig wird sein Stil mit dem von Witold Gombrowicz verglichen. Auch er beherrscht jene Erzählweise, in der eine sprachliche Steigerungswut für einen grotesken Effekt sorgt.

    "Endlich waren meine beiden Hände frei, wenngleich ich an anderer Stelle seine fühllose Gegenwart spürte, aber hier ging es schließlich nicht um Feinfühligkeit, sondern um geheiligtes Märtyrertum und die Schauder, in diesem historischen Augenblick, Fanfaren von Schaudern, Feuerwerke von Schaudern, um Botschaften des Schauders, Schauder auf den Flaggen, Schauder in den Zeitungen, Schauder in Banken, Fabriken und Ämtern, Konfetti von Schaudern..."

    Und es gibt noch etwas, was diesen Stil auszeichnet und was vor allem in "Dreckskerl" zur Geltung kommt: die, wie es in der Begründung der Nike-Jury hieß, "literarisch ausgewogene Anwendung des schlesischen Dialekts". Auch das hat freilich seinen Grund: Der heute in Krakau lebende Wojciech Kuczok ist ein gebürtiger Schlesier. Einen autobiografischen Hintergrund seines beklemmenden Romans streitet er allerdings ab.


    Dreckskerl, Aus dem Polnischen von Gabriele Leupold und Dorota Stroinska, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2007, 19,80 Euro

    Im Kreis der Gespenster, Aus dem Polnischen von Friedrich Griese, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Man, 2006, 19,80 Euro