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Raketenschirm und kalter Frieden

Schon 2020 könnte der NATO-Raketenschirm in Europa voll einsatzbereit sein: Nach dieser Ankündigung des NATO-Gipfels am Wochenende eskalierte der Streit des Militärbündnisses mit Russland erneut. Staatschef Putin drohte mit dem Ausstieg aus dem Abrüstungsvertrag New START.

Von Andrea Rehmsmeier | 23.05.2012
    Ein Park in der Innenstadt von Moskau - unweit der Stelle, wo die Nichtregierungsorganisation Center for Arms Control ihren Sitz hat. Hier verbringt der Militärexperte Vladimir Rybachenkov seine Mittagspause. Er sitzt auf einer Parkbank und blättert in einer Fachzeitung mit dem Namen "Unabhängige Militär-Rundschau". Ein Artikel darin trägt die Überschrift "Die europäische Raketenabwehr ohne Mythos und ohne Politik", verfasst ist er von zwei russischen Generälen a. D. Erstaunt schüttelt Rybachenkov den Kopf.

    "Das schreiben Generäle, verstehen Sie? Leute, die das technisch beurteilen kann, schreiben, dass die europäische Raketenabwehr für uns, die Russen, keinerlei Gefahr darstellt! Das ist erstaunlich."

    Der Artikel spielt verschiedene Atomschlagsszenarien durch: Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass eine Atomrakete, abgefeuert von einer russischen Militärbasis in Richtung NATO - eingerechnet Fluggeschwindigkeit, Schlagkraft und Zeitverzögerung bis zu ihrer Entdeckung durch das gegnerische Warnsystem - durch eine Rakete des Abwehrschildes rechtzeitig unschädlich gemacht werden könnte? Antwort der Ex-Generäle: verschwindend gering. "Es bleibt festzuhalten, dass der europäische Raketenschild das Potenzial der strategischen Streitkräfte Russlands in keiner Weise maßgeblich beeinflussen kann." So etwas liest Rybachenkov zum ersten Mal in einer russischen Zeitung, denn die These zweifelt nicht nur generell den militärischen Nutzen des Raketenschirms an, sondern er beraubt auch den Widerstand Moskaus jeder faktischen Grundlage. 20 Jahre nach Beendigung des Kalten Kriegs einen Raketenabwehrschirm aufzubauen, das erscheint Rybachenkov nach dieser Lektüre um so weniger zeitgemäß.

    "Die großen Nuklearstaaten werden ja jetzt wohl nicht mehr übereinander herfallen. Ihre Nukleararsenale erhalten sie trotzdem aufrecht. Die Atombomben sind weiterhin in Bereitschaftszustand - in Russland ebenso wie in den USA. Dazu kommt, dass die Amerikaner ihren Nuklearkomplex jetzt modernisieren - und das ist natürlich ein Widerspruch."

    Global Zero, die Vision von einer atomwaffenfreien Welt - dafür hatte US-Präsident Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit den Friedensnobelpreis erhalten. Doch Rybachenkov kennt das glatte Parkett der Militärdiplomatie noch aus seiner eigenen Zeit in Washington: Zwischen 2003 und 2010 hat er den russischen Botschafter in nuklearstrategischen Fragen beraten. Seitdem vertraut er nicht mehr auf Wahlkampfreden und Gipfelrhetorik, statt dessen liest er Militärdoktrinen, beobachtet die Entwicklung von Verteidigungsbudgets, zählt Nuklearsprengköpfe und Trägersysteme. Und das zeigt ihm: Putin mag mit dem Ausstieg aus dem Abrüstungsvertrag START und "beispielloser Aufrüstung" drohen: Der unangefochtene Spitzenreiter in puncto Rüstungsausgaben ist und bleibt die NATO-Führungsmacht Amerika - und nun kommt auch noch der Raketenschirm dazu.

    "Vergleicht man das Verteidigungsbudget der USA, in der Prognose für 2020, mit dem von Russland, dann sieht man: Die USA werden fünf- oder sechsmal mehr Geld für Rüstung ausgeben. Und das, obwohl die Amerikaner selbst zugeben, dass es eine konkrete Bedrohung gar nicht gibt, weil Staaten wie der Iran gar nicht über Interkontinentalraketen verfügen, die amerikanisches Territorium erreichen könnten. Sie sagen: Wir müssen vorbereitet sein, was wissen wir, was in zehn Jahren ist. In Russland verstehen viele Menschen nicht, warum die Amerikaner so viel Geld investieren, um sich gegen eine Bedrohung zu schützen, von der nicht einmal erwiesen ist, ob es sie überhaupt gibt."