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Ralf Stegner (SPD)
"Dieses Instrumentalisieren ist geradezu ekelhaft"

Die Verknüpfung von Flüchtlings- und Sicherheitspolitik nach dem Anschlag in Berlin, wie sie Horst Seehofer, die AfD und andere vornähmen, sei falsch, sagte SPD-Vize Ralf Stegner im DLF. 99,9 Prozent der Flüchtlinge hätten mit Terrorismus genauso wenig zu tun wie 99,9 Prozent der Deutschen.

Ralf Stegner im Gespräch mit Christoph Heinemann | 23.12.2016
    Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner
    Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner (picture alliance / dpa / Carsten Rehder)
    Der SPD-Politiker wandte sich gegen Forderungen aus der Union nach der Einrichtung sogenannter Transitzentren für Flüchtlinge: "Das gehört zu den unsinnigen Vorschlägen." Solche Zentren seien mit dem Asylrecht nicht vereinbar. Das individuelle Prüfrecht müsse erhalten bleiben, man könne nicht mal eben solche exterritorialen Lager errichten. Zudem sei der Vorschlag nicht praktikabel. Es sei naiv zu glauben, dass sich ausgerechnet Terroristen in den Zentren melden würden.
    Im Fall des Verdächtigen für den Berliner Anschlag hätte es auch nicht geholfen, wenn mehr Länder als sichere Herkunftsstaaten eingestuft würden, fügte Stegner hinzu. Das Problem seien in diesem Fall tatsächliche Abschiebehindernisse gewesen. Das Rückführungsabkommen mit den nordafrikanischen Staaten sei in Teilen nicht praktikabel. "Die nehmen die nicht zurück", sagte Stegner.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Im ganzen Land, auf Plakaten, in den sozialen Netzwerken ist Anis Amris Gesicht zu sehen, genauer gesagt die beiden Gesichter, das mit und das ohne Brille. Der 24 Jahre alte Tunesier wird dringend verdächtigt, am Montag zwölf Menschen mit einem Lastwagen getötet und zahlreiche Besucherinnen und Besucher des Weihnachtsmarktes in Berlin zum Teil sehr schwer verletzt zu haben.
    Am Telefon ist der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Ralf Stegner. Guten Morgen.
    Ralf Stegner: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Stegner, wieso können Gefährder in Deutschland frei herumlaufen?
    "In einem Rechtsstaat müssen sie konkrete Erkenntnisse haben"
    Stegner: Ja das ist in der Tat eine schwierige Frage. Das sind ja ungefähr 500 Leute, die nach polizeilicher Einstufung - das ist es ja nur - als Gefährder gelten. Da gibt es zum einen die Schwierigkeit, 500 Leute 24 Stunden 365 Tage im Jahr zu überwachen. Das ist eine kaum leistbare Herausforderung. Dazu bräuchte man, glaube ich, schon auch deutlich mehr Polizei. Über mehr Polizei wird ja nicht nur geredet, sondern das hat gerade ja auch die SPD auf Bundesebene und in den Ländern mit durchgesetzt. Das ist der eine Punkt.
    Aber der zweite Punkt ist: In einem Rechtsstaat müssen sie tatsächlich konkrete Erkenntnisse haben, bevor sie Maßnahmen ergreifen, und da sind die Hürden im Rechtsstaat so klein nicht. Sie können nicht einfach beliebig, weil sie jemanden so einstufen, den in Haft nehmen, und ich glaube, das ist auch gut so, dass der Rechtsstaat dafür konkrete Voraussetzungen hat, auch wenn man im Einzelfall dann im Nachhinein sagen könnte, es wäre besser, es wäre anders gewesen. Das sind die beiden, glaube ich, Haupthindernisse.
    Bleibt noch das Thema Abschiebung. Da ist es sicherlich so, dass auf der einen Seite man sagen muss, bei dem Verdächtigen jetzt war das Asylverfahren ja nun schon abgeschlossen. Der konnte nicht abgeschoben werden, weil das Rückführungsabkommen mit den nordafrikanischen Staaten in Teilen nicht praktikabel ist. Die nehmen die nicht zurück. Der Teil muss geändert werden, damit wir Chancen haben, die beispielsweise nach Tunesien zurückzuschicken, die dahin sollen.
    Heinemann: Bleiben wir noch mal beim ersten Teil, Herr Stegner. Entschuldigung! Warum ist Gefährdung kein Haftgrund?
    "Sie brauchen richterliche Entscheidungen"
    Stegner: Das ist ja eine zunächst mal abstrakte polizeiliche Einschätzung. Um jemanden in Haft zu stecken, brauchen Sie …
    Heinemann: Im Falle Amri ist es dann ziemlich konkret geworden.
    Stegner: Das wird man im Nachhinein jetzt noch mal sich in der Tat angucken müssen, ob es da Fehler gegeben hat, wobei ich immer darauf hinweisen möchte: Fehler im Nachhinein festzustellen, ist das eine; in der jeweiligen Situation richtig zu handeln - sie brauchen übrigens auch richterliche Entscheidungen für solche Dinge. Das muss man alles erst mal bekommen. Und dass da die Hürden im Rechtsstaat hoch sind, das ist zwar in solchen Zeiten nach einem Terroranschlag schwer, öffentlich zu diskutieren, aber das bleibt natürlich der Unterschied zu Unrechtsstaaten, wo sie einfach auch so in Haft genommen werden können, ob es einen Grund gibt oder nicht.
    Heinemann: Aber andererseits kann doch die Botschaft des Rechtsstaats nicht lauten, potenzielle Zeitbomben sollte man nicht aufhalten.
    "Der Pauschalverdacht ist nicht in Ordnung"
    Stegner: Nein, überhaupt nicht. Und deswegen, glaube ich, ist bei der Debatte über die Konsequenzen es viel vernünftiger, über diesen Punkt zu reden und nicht so sehr die Verknüpfung von Flüchtlings- und Sicherheitspolitik zu machen, wie das Herr Seehofer, die AfD und andere Leute tun.
    Heinemann: Beziehungsweise wie es die SPD nicht tut.
    Stegner: Nein! Ich finde das auch falsch, denn 99,9 Prozent der Flüchtlinge haben mit Terrorismus genauso wenig zu tun wie 99,9 Prozent der Deutschen. Und deswegen ist der Pauschalverdacht einer, der wirklich nicht in Ordnung ist und im Übrigen auch in einer Situation, wo die Opfer noch nicht mal beerdigt sind, dieses Instrumentalisieren ja in geradezu ekelhafter Form ja auch erfolgt.
    Heinemann: Das ist jetzt eine emotionale Komponente. Dennoch: Man muss ja die Menschen, man muss die Bevölkerung vor dem einen Prozent schützen.
    "Bei Gefährdern die Maßnahmen verschärfen"
    Stegner: Das ist sicherlich wahr, so wie das für Verbrechen generell gilt.
    Heinemann: Und das klappt nicht.
    Stegner: Auch da bitte zwei Hinweise. Erstens: Terrorismus gibt es bei uns auch in anderen Kontexten. Denken Sie an NSU zum Beispiel. Und natürlich gibt es Terroranschläge in Paris, in London, in Brüssel, in Madrid und leider jetzt auch in Deutschland. Sie können in einer freiheitlichen Demokratie sich nicht zu 100 Prozent dagegen schützen. Was man aber kann und darüber reden wir beiden ja im Augenblick: In den Feldern, wo man es mit Gefährdern zu tun hat, kann man die Maßnahmen, die es da gibt, verändern, kann man das verschärfen. Da sehe ich zwei Ansatzpunkte. Der eine ist der, dass wir in der Tat darüber reden, dass wir die Überwachung doch verstärken, dass wir mehr Personal einstellen. Das wäre notwendig, wenn man das flächendeckend will. Und zweitens, dass wir bei denjenigen, die als Gefährder gelten und wo die Asylverfahren abgeschlossen sind, dass wir da dann doch die Abschiebehaft, die ja auch durchaus lang dauern kann, dass die dann auch, wenn es irgendwie geht, im Regelfall stattfindet bei solchen Leuten.
    Heinemann: Sie sind da auch für eine mögliche Verlängerung der Abschiebehaft. Verstehe ich das richtig?
    Stegner: Für Gefährder, bei denen das Asylverfahren abgeschlossen ist, wo im Grunde genommen der Abschiebung nur im Wege steht, wie jetzt im Fall dieses Betroffenen, dass der andere Staat den nicht nehmen will. Da hätte das sicher in dem Fall geholfen. Aber ich will auch nicht klüger sein als die Ermittlungsbehörden im Nachhinein. Das muss jetzt alles aufgeklärt werden. Aber ich glaube, man muss schon auch feststellen, die Ermittlungsbehörden in Deutschland tun in der Regel wirklich, was sie können. Sie leisten sehr professionelle Arbeit. Auch was da geschehen ist in Berlin, auch in den Krankenhäusern, das war schon so, dass man sagen muss, das ist in Deutschland immer noch vergleichsweise etwas, wo man den Vergleich mit anderen Ländern nicht scheuen muss. Das hilft einem jetzt nichts nach so einem Terroranschlag.
    Heinemann: Am Ende dieser Woche klingt das etwas komisch.
    Zu Transitzonen: "Das gehört zu den wirklich unsinnigen Vorschlägen"
    Stegner: Nein, aber man muss es trotzdem feststellen, damit die Menschen auch wissen, wir leben doch in einem vergleichsweise sicheren Staat. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
    Heinemann: Herr Stegner, benötigen wir Transitzentren oder Transitzonen? Asylbewerber aus dem Maghreb, zum Beispiel Anis Amri, die man, wie Sie richtig gesagt haben, kaum noch loswird, kämen so gar nicht erst ins Land.
    Stegner: Ich glaube, dass das zu diesen wirklich unsinnigen Vorschlägen in diesem Kontext gehört.
    Heinemann: Wieso?
    Stegner: Ich würde das gerne begründen. Erstens sind Transitzonen nach unserem Verständnis mit dem Asylrecht nicht vereinbar. Das sind ja quasi exterritoriale Einrichtungen.
    Heinemann: Das Asylrecht kann man ändern.
    "Es ist naiv zu glauben, dass Terroristen sich brav in Transitzonen melden"
    Stegner: Das kann man ändern. Wir haben das im Grundgesetz schon verschärft. Aber das individuelle Prüfrecht auf Asyl muss bleiben und da können Sie nicht mal eben schnell Internierungslager exterritorial an der Grenze machen. Das geht nicht. Meiner Meinung nach geht das nicht. Zum zweiten ist es doch eine naive Vorstellung zu glauben, bei einem Land mit Hunderten von Kilometern grüner Grenze, dass just Terroristen sich brav in den sogenannten Transitzonen melden würden. Das ist weder rechtlich meiner Meinung nach praktikabel, noch ist es sinnvoll, gerade bei Terroristen, die nun wirklich andere Wege finden würden, wenn das denn der Punkt ist. Aber das zweite will ich Ihnen auch noch mal sagen. Auch das mit den sicheren Herkunftsstaaten hätte uns in diesem Fall nicht geholfen, denn sichere Herkunftsstaaten beschleunigen das Asylverfahren. Das war bei dem Verdächtigen ja gar nicht das Problem. Das Asylverfahren war schon abgeschlossen. Da waren die tatsächlichen Abschiebehindernisse, eben diese Rückführungsabkommen das Problem. Über die muss man dann reden und nicht solche Scheinlösungen, und dass Herr Seehofer die auf den Plan bringt, das gilt ja mehr der Flüchtlingspolitik seiner Bundeskanzlerin, hilft aber nicht, das Problem zu lösen.
    Heinemann: Das bringt aber auch andere auf den Plan, zum Beispiel den doch recht moderaten CDU-Innen- und Rechtspolitiker Wolfgang Bosbach. Der sagt, solche Zentren würden es zumindest erst mal ermöglichen, schon vor der Einreise die Identität, die Vorstrafen von Flüchtlingen zu klären. Ist das nach Berlin nicht zwingend erforderlich?
    "Der europäische Datenaustausch könnte sicherlich verbessert werden"
    Stegner: Nein, das halte ich für falsch. Wir reden im Übrigen jetzt über einen anderen Zustand als über den, den wir hatten im letzten Jahr. Heute ist es so, dass jeder, der bei uns als Flüchtling kommt, registriert wird in den Ländern. Fingerabdrücke werden genommen, die Identität wird festgestellt. Das war übrigens bei dem Verdächtigen ja auch nicht das Problem. Wir hatten ja dessen Identität. Es ist nicht mehr der Punkt, der da beklagt wird, da kämen jetzt alle möglichen Menschen ins Land, von denen man nicht wüsste, wer sie sind. Heute wird jeder registriert. Das haben übrigens die Länder angefangen. Malu Dreyer hat darauf hingewiesen, Hannelore Kraft, wir machen das. Das Bundesamt hat ziemlich lange gebraucht, bis das klappt mit dem Datenaustausch. Der europäische Datenaustausch allerdings, wenn ich das noch sagen darf, Herr Heinemann, der könnte sicherlich verbessert werden. Da gibt es Defizite, über die man reden muss, die die Sicherheit, glaube ich, erhöhen würden, wenn man da besser zusammenkäme, als das momentan der Fall ist.
    Heinemann: Defizite gibt es vermutlich auch woanders. Sie haben Hannelore Kraft genannt. Wir hören, was Armin Laschet, der CDU-Partei- und Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen, gestern bei uns im Deutschlandfunk gesagt hat.
    O-Ton Armin Laschet: Die Quelle führt leider wie so häufig nach Nordrhein-Westfalen. In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der Salafisten in den letzten Jahren nahezu versechsfacht. Man weiß, es ist ein Gefährder, er ist sogar schon in Abschiebehaft gesessen und wird dann wieder freigelassen. Und dann sagt man, der ist jetzt nach Berlin abgereist und damit ist der Fall für uns erledigt, jetzt ist halt Berlin zuständig.
    Heinemann: Herr Stegner, die Landesregierung in Düsseldorf hatte ja bereits nach der Kölner Silvesternacht einen desolaten Eindruck hinterlassen. Entwickelt sich Nordrhein-Westfalen zum sicheren Rückzugsraum für kriminelle Migranten?
    "Zusammenarbeit der Länder funktioniert hervorragend"
    Stegner: Das halte ich für ganz großen Unfug und so können Oppositionspolitiker wie Herr Laschet reden.
    Heinemann: Was ist denn da in Kleve passiert?
    Stegner: Fakt ist, dass nach meiner Einschätzung die Zusammenarbeit der Länder über dieses gemeinsame Terrorabwehrzentrum ganz hervorragend funktioniert. Und natürlich werden sie immer, wenn sie einen Einzelfall haben, sagen können, was da oder dort schiefgelaufen ist.
    Heinemann: Nehmen wir doch mal den Fall Amri. Er hatte Verbindungen zum IS. Er wollte bei einem V-Mann Waffen besorgen. Er hat sich als Selbstmordattentäter angeboten. Er hatte Kontakte zu einem einschlägigen Hassprediger. Wieso ist das kein Grund für einen Haftbefehl?
    "Bei Gefährdern muss man mehr tun, um Abschiebehaft zu ermöglichen"
    Stegner: Über Haftbefehle entscheidet nicht der Innenminister in Nordrhein-Westfalen, sondern Haftbefehle werden bei uns so ausgestellt, dass da Richter erforderlich sind, um dafür zu sorgen, dass jemand in Haft kommt. Wir können darüber reden, das haben wir ja gerade auch getan, ob man bei den Gefährdern mehr tun kann und tun muss, um insbesondere Abschiebehaft zu ermöglichen. Aber es ist nicht so in Deutschland, dass die Politik mal sagen kann, wir verhaften mal die üblichen Verdächtigen. So was gibt es nur in Unrechtsstaaten. Herr Laschet weiß das. Aber natürlich ist es leicht, mit solchen Einwürfen Stimmung zu machen. Ich glaube, diesen Teil, dass wir rechtsstaatlich hohe Hürden haben, den sollten wir nicht aufgeben, auch nicht in Zeiten von Terrorismus.
    Richtig ist aber, dass das bestehende Recht angewandt werden muss, und da gibt es dann mehrere Beteiligte. Da gibt es die Ermittlungsbehörden, da gibt es Richter, die für Haftbefehle verantwortlich sind, dass jemand in Haft genommen wird, und da gibt es das Thema der Verhandlung mit anderen Staaten, dass Rückführungsabkommen stattfinden. Aber was wir eben nicht tun dürfen ist so pauschal mal eben, wir beseitigen mal ein paar Hürden im Rechtsstaat, wir sagen einfach mal, am besten kommen gar keine Flüchtlinge, wir machen Pauschalverdächtigungen, oder wir nehmen gar eine Sprache, die schon ja nach dieser schrecklichen Gewalttat in Freiburg grauenvoll gewesen ist, der Verallgemeinerung. Das ist eine Verhöhnung der Opfer und das finde ich nicht in Ordnung.
    Heinemann: Der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Ralf Stegner. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören. Ihnen und Ihrer Familie ein hoffentlich friedliches Weihnachtsfest.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.