Donnerstag, 18. April 2024

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Ralph Ghadbans Buch über den Islam
"Die Religionskritik wird immer heftiger"

Der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban beobachtet, dass Islamkritik in vielen arabischen Ländern immer lauter wird. Vor allem unter jungen Muslimen. Sie knüpfen an die "Goldenen Zeiten" des Islams an.

Von Thomas Klatt | 09.04.2021
Der Politik- und Islamwissenschaftler Ralph Ghadban.
Ralph Ghadban hat ein Buch über - im besten Sinne - rückwärtsgewandte Islamkritik geschrieben (imago / Müller-Stauffenberg)
Ein islamkritisches Video auf dem Youtube-Kanal Alhurra vom Sommer 2018. Arabische Gelehrte betrauern den Niedergang ihrer einst blühenden Wissenschaften: Der Begründer der islamischen Philosophie al-Kindī, gestorben 873, wurde vom Kalifen al-Mutawakkil vom Hof vertrieben; seine Bücher wurden verbrannt; der berühmte Mediziner Ibn Sīnā, auch bekannt als Avicenna, wurde in der islamischen Welt als Imam der Atheisten verachtet; der Begründer der Optik Haitham wurde des Atheismus bezichtigt; der Begründer der Chemie Dschābir ibn Hayyān, gestorben 815, wurde als Atheist verfolgt; die Chemie in einer Fatwa wurde generell verboten. Aus all dem, so die Kritiker, resultiert bis heute eine Rückständigkeit der muslimischen Welt gegenüber dem Westen. So etwas wagte bis vor Kurzem kaum jemand öffentlich zu sagen, heute wird es in den sozialen Netzwerken von Hunderttausenden Muslimen verfolgt.
"Seit dem arabischen Frühling habe ich festgestellt, dass die Religionskritik immer heftiger wurde, auch öffentlich, und das ist neu. Früher landeten sie alle im Gefängnis", beobachtet der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghadban. Für ihn sind die kritischen Religionsgelehrten, Blogger und Youtuber von heute "Allahs mutige Kritiker". Sie entdecken die Zeit der islamischen Aufklärung von einst, an die sie heute wieder anknüpfen möchten.

Blüte der islamischen Vernunft

"Die goldene Zeit der islamischen Zivilisation beschränkt sich nicht auf Spanien. Sie war auch im Nahen Osten und überall. Als al-Ma'mun mit der Gründung des Haus der Weisheit die Übersetzung der griechisch-hellenistischen Kultur angefangen hat, Medizin und Philosophie und ähnliches, da wurde die griechische Vernunft eingeführt. Und die hat die Entstehung der Mu'tazila, der islamischen Theologen beeinflusst, ermöglicht erst."
Der Abbasiden-Kalif al-Ma'mun gründete 825 in Bagdad das beit al-hikma, das Haus der Weisheit, in dem griechische Werke ins Arabische übersetzt wurden. Diese philosopisch-theologische Denkströmung der Mu'taziliten erforschte nicht nur Gottes Willen, sondern erkannte auch die Gesetze in der Natur. Eine vorher nie dagewesene Öffnung gegenüber den Wissenschaften. Nach wenigen Jahrzehnten war es aber vorbei mit der Blüte der islamischen Vernunft.
Islamischer Universalgelehrter Avicenna - Prägend wie nur wenige Philosophen
Die Geschichte des Islam ist geprägt von Konflikten und Unterdrückung – aber auch von Phasen, in denen Philosophie, Kultur, Wissenschaft eine Blüte erlebten.
"Die Politik hat immer bestimmt, was Religion ist," sagt Ralph Ghadban. "Nachdem sie diese Mu'taziliten vernichtet haben, nachdem die ahl al-sunna gewonnen haben, die die Hadithe in den Vordergrund stellen. Und da hat sich ein Islam entwickelt, der sehr stark von der Politik abhängig ist."
Mitte des 9. Jahrhunderts wurden die Mu'taziliten entlassen. Nur in Persien und Tunesien konnte die Lehre dieser Denker noch eine Zeit lang überleben.

"Wir wissen nichts vom Propheten"

Fortan gab es eine Dominanz der ahl al-sunna, der Leute der Sunna. Die Frömmigkeit ersetzte die Vernunft, schreibt Ghadban in seinem neuen Buch. Die Rechtsprechung – auf Arabisch "fiqh" - übernahm die Funktion der Theologie. Nun galt eine strenge Pflichtenlehre. Nachfolge und Gehorsam gegenüber dem Koran, vor allem aber gegenüber den Sprüchen des Propheten, den Hadithen. Plötzlich aber gab es eine ganze Flut von Hadithen.
Ralph Ghadban: "Wir wissen nichts vom Propheten. Es gibt keine sicheren Kenntnisse von ihm. Die Muslime untereinander haben sich bekämpft und vorgeworfen, dass sie Lügner sind und dass sie Sachen erfinden. Die großen Hadith-Sammlungen, nehmen wir ibn Hanbal. Er schreibt selber, von einem Fundus von 750.000 Hadithen hat er etwa 6000 rausgeholt. Das wissen alle Muslime."
Islamischer Theologe Mouhanad Khorchide - "Mohammed würde den Islam nicht wiedererkennen"
In seinem Buch "Gottes falsche Anwälte" kritisiert Mouhanad Khorchide das Islamverständnis vieler Muslime. Der Prophet habe die Freiheit des Menschen gewollt, sagte Khorchide im Dlf.
Demnach begannen die Muslime Hadithe zu erfinden, um ihre jeweiligen Machtansprüche zu untermauern. Bis zu einer dreiviertel Million vermeintliche Aussprüche des Propheten. Die Theologie wurde auf das Aneinanderreihen von Hadithen reduziert. Wenn es den Herrschern nützte. Dagegen wehren sich islamische Theologen heute - gerade auch in der arabischen Welt. Sie fordern eine Abkehr von der Sunna. Die Religion müsse endlich frei werden von politischer Bevormundung.
Scheich Ayad Jamaladdin etwa fordert in einem Youtube-Interview die religiöse und humane Trennung von Staat und Religion. Es müsse eine größere Distanz zwischen beiden Sphären geben. Auch Mohammed habe am Anfang ohne Polizei oder Armee gelebt. Der Prophet wollte nie einen Staat errichten, so die Kritik des irakischen Religionsgelehrten.

Mekka auf dem Prüfstand

Mittlerweile, so der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban, stehe noch viel mehr auf dem innerislamischen Prüfstand. Nämlich, ob der Islam überhaupt in Mekka und Medina entstanden sei, oder ob das ein Konstrukt der späteren Geschichtsschreibung sei. Denn die Archäologie zeige, dass die ersten Moscheen noch Richtung Jerusalem ausgerichtet waren. Ralph Ghadban.
"Dass fast keine Moschee ihre Gebetsausrichtung Richtung Mekka hatte, das widerspricht total dem islamischen Narrativ. Demnach bekam Mohammed 16 Monate nach seiner Ankunft in Medina im Jahre 622 einen Befehl von Gott, also eine Sura, die ihn auffordert, die Gebetsrichtung von Jerusalem nach Mekka zu richten. Die archäologische Untersuchung zeigt, dass bis tief im 8. Jahrhundert und Anfänge des 9. Jahrhundert Moscheen Richtung Jerusalem zeigten. Das sind Belege, die kann man nicht widerlegen."
Eine muslimische Pilgerin betet, während sie zuschaut, wie Tausende von Pilgern um die Kaaba herumgehen, das kubische Gebäude an der Großen Moschee, vor der Hadsch-Pilgerfahrt in der muslimischen heiligen Stadt Mekka.
Mekka ist das Zentrum des Islam - archäologische Erkenntnisse aber könnten diese Position untergraben (dpa-Bildfunk / AP / Amr Nabil)
Auch die Numismatik, die Münzlehre, lasse Zweifel aufkommen, ob Mekka wirklich der historische Ursprungsort des Islam war: "Die älteste Münze aus Mekka ist aus dem Jahre 201 der Hedschra, über 200 Jahre nach der islamischen Zeitrechnung. Und da fragt man sich: Wäre Mekka das Zentrum der Welt, warum sind keine älteren Münzen zu finden?"
Folgt man Ghadban weiter, hat erst die spätere islamische Historiografie Mohammeds Wirken nach Mekka verlegt. So sollten die Machtansprüche der islamischen Herrscher gerechtfertigt werden. Arabisch sei zur göttlichen Sprache geworden, die Araber zum auserwählten Volk. Die Nachfolger des Propheten sollten aus seinem Stamm Quraisch kommen. Dieser Anspruch wurde Teil der Religion und mit vielen Hadithen untermauert.
Religion - "Der Islam kann auch untergehen"
Der Religionswissenschaftler Michael Blume beobachtet einen "stillen Rückzug" der Muslime. Viele hätten Glaubenszweifel und mit der Religion wenig oder gar nichts mehr zu tun, sagte er im Dlf.
Dann begann der Konflikt zwischen dem hāschemitischen Clan und den Omayyaden. Der erste innerislamische Bürgerkrieg, dem viele Zwistigkeiten und Konflikte bis heute folgten. Ghadban stellt auch jene islamische Geschichtsschreibung infrage, die erzählt, erst Mohammed habe Licht ins Dunkel der arabischen Halbinsel gebracht, erst der Prophet habe den polytheistischen, also an viele Götter und Götzen glaubenden Arabern den Monotheismus beschert. Das aber entspreche kaum den historischen Tatsachen.
"Auf dieser ganzen arabischen Halbinsel herrschte vor der Ankunft Mohammeds ein christlicher König. Man sieht die Spuren überall. Zu behaupten, dass es vor dem Islam in Arabien nichts gab, das ist eine Schutzbehauptung. Und das ist die Dschāhilīya, die Zeit der Unwissenheit."

"Die Sunna ist gegen die Vernunft"

Die Dschāhilīya, die Unwissenheit über die ersten Jahrzehnte des Islam, die ungenauen Quellen, die unsicheren Überlieferungsketten – all dies hätten sich Kalifen und islamische Herrscher immer wieder zunutze gemacht, um ihre eigenen Machtansprüche zu begründen. Die mekkanischen Suren der Frühzeit würden noch ein friedliches Miteinander fordern - ohne Scharia, ohne Übervorteilung von Juden und Christen. Doch der Islam sei gegen den Willen Mohammeds später zu einer politischen Religion geworden, die das Heil des Menschen allein in der Unterwerfung sehe. Dagegen aber würden heute immer mehr Muslime aufbegehren. Ohne Tabus würden nun Fragen gestellt.
"Im arabischen Frühling sind die Menschen zum ersten Mal auf die Straße gegangen ohne die alten Slogans, also nicht gegen Imperialismus und nicht gegen Zionismus. Sie sind für ihre Würde und für mehr Beteiligung an der Politik gegangen. Das sind die zwei Elemente zur Bildung einer demokratischen Gesellschaft. Das kam von innen. Das ist kein Verdienst des Westens."
Immer mehr Muslime entdeckten nun in ihrer eigenen Geschichte die einst blühende Aufklärung, Vernunft und Wissenschaft. Und allmählich scheinen sie sich auch bei Traditionalisten Gehör zu verschaffen. Immerhin fand im Januar 2020 an der konservativen Al-Azhar-Universität in Kairo eine internationale Konferenz über die Erneuerung des religiösen Diskurses statt. Für Ralph Ghadban eine spannende Entwicklung.
"Menschenrechte und Demokratie. Die sind alle gegen die Sunna. Die Sunna hat die Theologie ersetzt. Aber die Sunna ist gegen die Vernunft und nur für die Nachahmung. Und die ist unbeweglich. Die wollen sie abschaffen. Da hat man eine Leere. Es muss etwas Neues entstehen."
Ralph Ghadban: "Allahs mutige Kritiker - Die unterdrückte Wahrheit über den Islam"
Verlag Herder 2021, 320 Seiten, 22 €