Freitag, 19. April 2024

Archiv

Raoul Schrott
Die Erdentstehung als Epos erzählt

Eine Art Gegenentwurf zur Bibel ist das Buch "Erste Erde Epos" von Raoul Schrott. Er erzählt die Erdentstehungsgeschichte an aufschlussreichen Orten und immer verknüpft mit Menschen in unterschiedlichsten Lebenssituationen.

Von Sandra Hoffmann | 29.12.2016
    Die Erde im Weltall, aufgenommen am 26.7.1971
    Wie entstand die Erde? Dieser Frage geht Schrott in seinem Buch literarisch nach. (picture alliance / dpa / NASA)
    "Die Genesis war vielleicht bis Mitte des letzten Jahrhunderts der verbindliche Text, der uns die Welt erklärt hat. Die Genesis hat ihre Relevanz inzwischen völlig verloren, die war im 6. Jahrhundert vor Christus, als sie entstanden ist, sicherlich auf dem neusten wissenschaftlichen Stand. Aber das, was mich interessiert hat: Wie sich ein Weltbild erzählen lässt. Und auf welcher Basis es sich erstellen lässt, aufgrund unseres heutigen modernen Wissenstandes."
    In seinem über 800 Seiten starken Epos "Erste Erde" versucht Raoul Schrott die Entstehung der Welt – vom Urknall bis zur Erfindung der Schrift und dem Auftauchen erster Artefakte wie etwa Höhlenmalereien - anhand der Naturwissenschaften zu verstehen: Göttliche Wunder kommen darin nicht vor.
    Er wählt dafür, gleich wie es die Bibel tut, eine literarische Form; alles, was wir erfahren, erschließt sich erst durch die Erzählungen von Menschen. Sieben Jahre hat Schrott daran gearbeitet, all das, was die Genesis als Schöpfung durch Gottes Hand erklärt, durch selbst erlebte wissenschaftliche Erkundigungen, Reisen und Gespräche mit Forschern ganz unheilig zu durchleuchten.
    Gegenentwurf zur Bibel
    Wenn man also die Bibel als eine der ersten Erzählsammlungen der Welt versteht, das Buch Moses als einen Versuch, Gott zu beweisen und diese Welt zu erklären, so kann man Raoul Schrotts "Erste Erde " als einen Gegenentwurf dazu lesen.
    "Ich wollte das nicht so hoch hängen, ich wollte einfach für mich, ich bin jetzt 52, ich wollte einfach wissen, was da war und was da ist. Und warum ich die Nase vorne habe und die Augen auch und warum nicht seitlich wie die Rehe, warum die Pflanzen grün sind, warum wir durch den Zeigefinger schauen können, wenn wir ihn vor die Nase halten, warum die Welt so ist, wie sie ist. Das ist die allererste und die älteste Geschichte eigentlich, die aber bislang niemand versucht hat, zu erzählen, weil das ja natürlich schwierig ist, all dieses abstrakte, theoretische Wissen anschaulich zu machen, sinnlich zu machen. Und sich dann vor allem zu fragen, ja was bedeutet das für einen selbst."
    Raoul Schrotts Epos gründet auf Erfahrungen, die er selbst gemacht hat, Schicksalen, Entscheidungen, die ihm vorwiegend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erzählt haben, gründet auf Reisen zu aufschlussreichen Orten der Erdentstehungsgeschichte, auf Studien unterschiedlichster Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen.
    Erfahrungen und Erkenntnisse in 28 Erzählungen
    All diese Erfahrungen und Erkenntnisse stehen in 28 solitären Erzählungen nebeneinander und werden als Ich-Erzählung wiedergegeben. So befinden wir uns einmal in einer Silvesternacht mit Raoul Schrott und seiner kleinen Tochter im Bregenzer Wald und beobachten den Mond und welche figürlichen Zeichen sich in ihm erkennen lassen; daraus ergibt sich für den wissenshungrigen Autor zwangsläufig ein Nachdenken über die Entstehung der Planeten.
    Schließlich besteigt er einen aktiven Vulkan am Rande eines Sees in der äthiopischen Wüste, aus dessen plattentektonischen Bewegungen man Rückschlüsse ziehen kann auf die Entstehung des Mondes vor 4,4 Milliarden Jahren.
    Ein anderes Mal gelangen wir durch die Erinnerung einer bedeutenden polnischen Zoologin in ein Gefängnis der Nationalsozialisten, wo sie schwer missbraucht wurde und wovon sie sich mithilfe ihrer Arbeit nur sehr langsam erholt hat. Als Wissenschaftlerin erforscht sie "wie wir ursprünglich aus Reptilien hervorgingen" und sie ist der Meinung, dass wir "auch sie besser begreifen" müssen, um das menschliche Wesen zu verstehen.
    "Solange fleischfressende Tyrannosaurier in [Säugern] eine zu mühsame unbedeutende Beute sahen, konnten sie sich prächtig vermehren: Gewaltherrschaft hielt sie nieder – auch wir bleiben nur menschlich, wenn es etwas über uns gibt – irgendetwas Übermächtiges – Engel Gott – und ihr schreckliches unser reptilisches Wesen bändigt."
    In ihrem evolutionsbiologischen Ansatz verknüpft sie somit ihre eigene berührende Lebenserzählung mit der Genesis des Skeletts, des Gebisses und schließlich der Unterscheidung zwischen Warm- und Kaltblütern. Das sind gewaltige Sprünge durch Zeiten, Länder, wissenschaftliche Disziplinen und Emotionen.
    Im Sachbuch würden wir daran verzweifeln, in der literarischen Erkundung, wie sie Schrott wählt, gelangen wir gerade durch diese Wunderkammern menschlicher Erzählung, Erfahrung und Verknüpfungen zu einer Erkenntnis, die über das Wissenschaftliche hinausreicht.
    "Die Frage des Erzählens ist immer, oder die Frage der Literatur ist es, wie lässt sich ein bestimmtes Wissen mit einem Leben verbinden und wie wirkt es sich in diesem Leben aus. Das heißt, wenn ich ein bestimmtes Wissen besitze, welchen Blick kann ich dann auf die Welt werfen, wie definiert mich dieses Wissen, wie stellt mich dieses Wissen der Welt gegenüber. Und da war das Schöne beim Schreiben, dass man erst einmal die verschiedensten Figuren entwerfen konnte in ihren Lebensgeschichten, quasi 28 Kurzromane schreiben, Figuren und deren Biografien zu erstellen. Für die das jeweilige Wissen, ob das nun Evolutionsbiologie ist, Höhlenmalerei oder wie das Leben entstanden ist, selbstverständlich ist, weil es Teil ihres Leben ist, weil es ihr der Mittelpunkt ist, weil es ihr Beruf ist, weil sie sich damit beschäftigen müssen, weil es irgendeine Notwendigkeit dafür gibt. Und dann konnte man beim Schreiben von sich absehen und durch die Maske all dieser Figuren blicken. Und durch ihre Augen immer wieder andere Blicke auf die Welt gewinnen."
    So heißt es schließlich auch an einer Stelle des Textes:
    "Irgendwo unter den Falten - müder Augen - dem grau melierten Bart, verbergen sich die Passfotos all der anderen Personen in deren Rollen und Blicke ich schlüpfe, die in mir wohnen, ohne ganz ein Ich zu ergeben."
    Erzähler im Staunen
    Und es liest sich wie die Poetik dieses Epos: Nur durch mich, den Erzähler hindurch bekommt all das Weltwissen, das ich durch Menschen erfahre, eine Form. Ich sortiere es, ich gestalte es, ich übersetze es in poetische Sprache - aber ich bin das nicht. Ich bleibe der Erzähler im Staunen. Das hört sich gewiss vermessen und recht waghalsig an.
    Und: Versammelte Raoul Schrott nur all die Interviews der Wissenschaftler, Forscher, Menschen, die er auf seinen Reisen getroffen und begleitet hat, gelänge das aufgrund der Unterschiedlichkeit der Stoffe und Erzähler niemals. Aber der Erzähler, der uns deren Geschichten in "Erste Erde" gestaltet, ist ein Vermittler, ein Medium, das Leben, wie Wissen, wie Emotion bündelt und auf eine Weise transportiert, dass auch wir Leser ins Staunen geraten.
    "Das sind religiöse Gefühle, in dem Sinn, dass sie uns an die Welt binden. Und ich steh jetzt hier und habe das zu beschreiben, da langt das Erzählen hier vor dem Mikrofon nicht, da kann man dann nur ins Stottern kommen, oder Mimik und Gestik benutzen. Und da ist dann die Frage der Poesie da, wie kann ich sprachlich so darstellen, dass ich es einem anderen, dem Leser, in den Kopf setzen kann."
    Gewiss, es ist manchmal schwierig, Erzählung und Forschungsgegenstand, den sie umspannt, in Übereinstimmung zu bringen. Das ist bedauernswert für denjenigen, der dieses Epos vorwiegend auf seine wissenschaftliche Erkenntnis abklopft, die man im Übrigen wie ein ausführliches Glossar am Ende des Buchs auf gut 150 weiteren Seiten zusammengefasst findet.
    "Erste Erde Epos" ist ein literarisches Werk
    Aber wer "Erste Erde Epos" als literarisches Werk liest, das mehr ergründen als erklären, mehr veranschaulichen als beweisen will, der wird reichlich belohnt.
    Zwar lesen sich die Geschichten und Sprachexperimente, die beispielsweise schwarzen Löchern im Zentrum der Milchstraße oder 3,7 Millionen Jahre alten Fußspuren dreier Homini in Tansania folgen, zuweilen etwas übermütig konstruiert, aber im großen Ganzen eben doch auf das Anregendste verdichtet.
    Eben weil wir den Erkenntnissen aus den unterschiedlichsten naturwissenschaftlichen Disziplinen und den Menschen, die sie vermitteln in einer kunstvollen Sprache begegnen. Weder verklärt sie poetisch, was sie vermitteln will, noch verfällt sie in den Gestus der Deutung, der Analyse und noch weniger in den der Reportage.
    "Es ging nicht darum, die Poesie in den Vordergrund zu stellen, nur ihre Möglichkeiten zu benützen, um ihr den Boden zu bereiten, die Bühne zu bereiten, um dann aber ein Erzählen möglich zu machen. Und daher die Form des Epos, weil Epos eine Mischform ist, zwischen Prosa und Poesie."
    Buchinfos:
    Raoul Schrott: "Erste Erde Epos", Hanser Verlag, 848 Seiten, Preis: 68,- Euro