Freitag, 19. April 2024

Archiv

Rassendenken Teil 2
Weiße Flecken auf wissenschaftlicher Landkarte

"Menschenrassen" sind wissenschaftlich nicht belegbar. Doch in Schulbüchern, an Universitäten, in der Art und Weise, wie Wissen produziert wird, pflanzen sich überholte Sichtweisen fort. Dabei müsste gerade die Wissenschaft Ansätze liefern, die Reproduktion rassistischen Denkens aktiv zu durchbrechen.

Von Azadê Peşmen und Lydia Heller | 26.12.2018
Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg-Schwerin war der letzte Gouverneur der Kolonie Togo, hier bei einem Besuch 1960.
Wissenschaft und Bildung sind auch heute noch von kolonialer Vergangenheit geprägt (picture alliance / dpa / Dr. Mummendey)
Usambara-Veilchen, Wissenschaftlicher Name: Saintpaulia ionantha. Entdecker: Walter von Saint Paul-Illaire. Geboren in Berlin, von 1891 bis 1910 Vorsteher des Bezirksamts Tanga, Deutsch-Ostafrika.
Ein Deutscher "entdeckt" eine Blume in Tansania - bis heute trägt sie in der international gültigen botanischen Nomenklatur seinen Namen. War die Pflanze vor 1891 unbekannt? Sicher hatten auch die Bewohner Tansanias einen Namen für sie. Aber wir finden ihn nicht in den Botanik-Lehrbüchern. Wir wissen vieles nicht über die Herkunft unseres Wissens. Oder wollen es nicht wissen. Dass große Teile davon auf Gewalt beruhen etwa. Darauf, dass Menschen ausgebeutet - und deren Wissen angeeignet wurde. Weil sie als nicht viel mehr galten als eine Ressource. Eine unterlegene "Rasse".
Eine Illustration zeigt stilisierte Porträts unterschiedlicher Menschen.
Evolutionsforscher über Rassebegriff - "Nichts anderes als ein gedankliches Konstrukt" Für einen Rassebegriff gebe es heute keine biologische Grundlage mehr, sagte Martin S. Fischer von der Universität Jena, im Dlf. In einer Erklärung fordern Wissenschaftler, diesen nicht mehr im Zusammenhang mit Wissenschaft zu nutzen.
Heute vermeiden viele in Deutschland das Wort "Rasse." Aber die meisten sagen immer noch "Wir". Wie unterscheidet sich dieses "Wir" von dem Konzept "Rasse"? Wer wird Teil von "Wir" und wer nicht? Und: Was haben Wissen und Wissenschaft - noch immer - damit zu tun?
Menschenrassen sind eine Erfindung. Dass es sie gibt, biologisch, ist widerlegt. Das gilt heute als Allgemeinwissen. Und trotzdem: Der aus dem biologischen Rassismus stammende Gedanke lebt noch immer, wonach eine Gruppe von Menschen einer anderen Gruppe über- oder unterlegen ist, aufgrund von Eigenschaften, die alle Mitglieder dieser jeweiligen Gruppen gemein haben sollen.
"Rassismus wird manchmal datiert auf die Zeit der Aufklärung, auf den wissenschaftlichen Rassismus", erklärt Iman Attia, Professorin für Critical Diversity Studies an der Alice Salomon Hochschule Berlin. "Und damit wird meistens gemeint, ein naturwissenschaftlicher, aufgeklärter Rassismus, der Menschen vermisst, und die Gene und die Nasenlängen versucht zum einen zu identifizieren - als einer bestimmten Gruppe eigen und im Unterschied zu einer anderen - und gleichzeitig in Zusammenhang zu bringen mit bestimmten Wesensmerkmalen, Eigenschaften, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und so weiter Dimensionen."
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Um diesen Zusammenhang herzustellen braucht man "Rasse" als biologische Kategorie heute nicht mehr. "Mentalität", "Lebensart", "Identität" sind an ihre Stelle getreten - und vor allem: "Kultur". "Schon bei diesem wissenschaftlichen Rassismus spielt Kultur eine zentrale Rolle", betont Attia. "Man vermisst nicht nur einfach, um festzustellen: Hier gibt es biologische Unterschiede. Sondern die biologische Orientierung oder die genetische oder die naturwissenschaftliche ist eine, die in den Dienst gestellt wird, um Differenzen zu erklären. Differenzen, die zum Teil tatsächlich existent sind, die aber nichts mit Biologie zu tun haben, sondern mit gesellschaftlichen Entscheidungen, bestimmte Menschen zu bevorzugen und andere zu benachteiligen. Es sind verschiedene Arten jemanden zu einem anderen zugehörig, minderwertig zu machen. Kultur ist nur ein Element. Sarrazin ist das beste Beispiel."
"Alle wesentlichen kulturellen und ökonomischen Integrationsprobleme konzentrieren sich auf die Gruppe der fünf bis sechs Millionen Migranten aus muslimischen Ländern", schreibt Thilo Sarrazin, in "Deutschland schafft sich ab". Das Buch, mit dem der ehemalige Berliner SPD-Finanzsenator 2010 Furore macht. "Für diese Probleme ist nach meiner Überzeugung nicht die ethnische Herkunft, sondern die Herkunft aus der islamischen Kultur verantwortlich. Diese prägt einen großen Teil der muslimischen Einwanderer in einer Weise, die mit der Lebensweise und den kulturellen Werten einer säkularen westlichen Gesellschaft kaum kompatibel ist."
Eine alte rassistische Denkfigur: Es gibt "die Einen" und "die Anderen", das Eigene und das Fremde. Und vom Fremden geht eine Gefahr aus. Im 19. Jahrhundert fürchtete man, in Anlehnung an den französischen Diplomaten Arthur Comte de Gobineau, dass durch "Rassen"-Mischung eine "Vermischung des Blutes" stattfinde. Dass deshalb die Vorherrschaft der weißen Rasse gefährdet sei, damit zugleich jede Zivilisation - und dass man deshalb um die "Reinhaltung der Rassen" ringen müsse. Heute heißt es, Menschen seien "aufgrund ihrer Kultur" "nicht integrierbar". Befänden sich nicht auf demselben Niveau wie die Kultur, in die sie sich integrieren sollen.
Wer bestimmt die Norm?
"Auch in der zweiten und dritten Generation dieser Migranten sind Bildungsbeteiligung und Arbeitsmarktintegration weit vom Niveau der Deutschen und der übrigen Zuwanderer entfernt", schreibt Sarrazin weiter. Aber: Vererben Eltern ihren Kindern ihre Kultur - so wie sie ihnen die Augen- und Haarfarbe vererben?
"Wenn man Kultur als Begriff ernst nimmt, dann geht es dabei darum, wie man sich auseinandersetzt mit dem, was an Anforderungen, an Lebensbedingungen, an Zwischenmenschlichem und so weiter entwickelt wird", entgegnet Attia. Kultur kann nichts sein, was sich irgendwie über Generationen völlig ohne Modifikationen, ohne Änderungen, ohne Vermischung entwickelt."
Trotzdem steht "Kultur" heute auch für eine Reihe von Eigenschaften, von denen angenommen wird, dass sie für Menschen in bestimmten Gruppen allgemein charakteristisch sind. Und dass diese Gruppen sich durch diese Eigenschaften von anderen Kulturen unterscheiden - und zwar positiv oder negativ. Aber: Wer legt fest, was eine positive Eigenschaft ist? Und was eine negative? Wer ist die Norm?
Verabredung mit Felicia Lazaridou. Die Psychologin forscht an der Charité Berlin zur psychischen Gesundheit schwarzer Frauen. Was als normale Verhaltensweise gilt, erzählt sie, und was als abweichendes Verhalten - bis hin zu psychischer Krankheit - das wird maßgeblich durch die Psychologie geprägt. In der bis heute Annahmen nachwirken, die aus der Kolonialzeit stammen:
"Allein die Terminologie, die dabei verwendet wird, dient dazu zu behaupten, dass Menschen aus Afrika unterlegen sind. Das ist Bestandteil vieler Theorien in der Psychologie. Sigmund Freud zum Beispiel schreibt viel über den "dunklen Ort", das "dunkle Land" und die Grundannahme, dass Menschen dieses Land besetzen müssen. Er ist sehr metaphorisch in der Art und Weise, wie er spricht. Diesen "dunklen Ort" der Psyche muss man wieder in Ordnung bringen. Oder: Wenn Menschen älter werden, dann bewegen sie sich weg von dieser "primitiven" Seite und wenden sich den "zivilisierten" Aspekten zu."
Die "weißen, zivilisierten Europäer" heben sich ab von den "primitiven Kulturen anhängenden, nicht-weißen Naturvölkern": Nach wie vor wird vor diesem Hintergrund Verhalten pathologisiert, das nicht dem weißen, aufgeklärten, bürgerlichen Wertekanon entspricht.
"In der nigerianischen Kultur ist es ziemlich normal, sich mit Gott zu unterhalten und vielleicht sogar Gottes antworten zu hören", verdeutlicht Lazaridou Wenn man im Westen betet, dann kann es sein, dass Gott einen hört. Aber er würde definitiv nicht antworten. Und wenn man dann hier eine therapeutische Sitzung aufsucht und sagt: Ich habe mich gestern mit Gott unterhalten, würde der Therapeut sagen: Okay, darüber sollten wir reden!"
Deutung sozialer Verhältnisse als Charaktereigenschaft
Die Entstehung der Psychologie ist eng mit Kolonialismus und Industrialisierung verwoben. Und dem Versuch, Methoden zu entwickeln, mit denen Intelligenz und geistige Kapazitäten von Menschen gemessen werden können. Der Maßstab - die "Norm" - waren dabei schon in den Anfängen die Kriterien, mit denen sich Personen auf Machtpositionen beschreiben ließen. Francis Galton etwa, Mitbegründer der Persönlichkeitspsychologie, schloss aus der Analyse von Biographien bedeutender Persönlichkeiten, dass viele berühmte Männer Verwandte haben, die ebenfalls berühmt sind:
"Ich glaube, dass Talent in einem sehr bemerkenswerten Maße durch Vererbung weitergegeben wird: J. Adams, Präsident der U.S.A.; Sohn Samuel, auch Patriot; Neffe J. Quincey Präsident", Francis Galton in "Vererbung von Talent und Charakter", 1865.
Psychologie trägt dazu bei, Auswirkungen sozialer Verhältnisse - Reaktionen auf Lebensumstände - als Charaktereigenschaften zu definieren. Die dann wieder Gruppen von Menschen allgemein zugeschrieben werden: "Drapetomanie" lautete die "Diagnose" amerikanischer Psychologen im 19. Jahrhundert - wenn versklavte Schwarze Fluchtversuche unternahmen. Später "diagnostizierten" sie ihnen einen "Unterwerfungsinstinkt" und während der Bürgerrechtsbewegung hieß es aus der Psychologie, schwarze Männer hätten ihre Aggressionen nicht unter Kontrolle, weil viele von ihnen ohne Vater aufwüchsen.
2007 stellte die Kinder- und Jugend-Gesundheitsstudie des Robert-Koch-Instituts heraus, dass Kinder und Jugendliche "mit Migrationshintergrund" häufiger Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivitäts- und emotionale Probleme zeigten als andere Kinder. Wo die Ursachen für Verhalten liegen, das als problematisch gilt, welchen Belastungen Menschen ausgesetzt sind, die vor allem über einen "Migrationshintergrund" definiert werden - das bleibt zumeist ausgeblendet.
Besuch in der Ausstellung "Die Erfindung von Menschenrassen" im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden. "Was wir hier sehen, finde ich ganz interessant. Weil es nochmal zeigt, wie diese Entwicklungen aus dem 19./20. Jahrhundert nachwirken", erfährt man bei der Museumsführung. "Und wir haben hier eine Installation von Natascha Kelly. Natascha Kelly ist eine schwarze Wissenschaftlerin, die vor 15 Jahren ihre Dreadlocks abgeschnitten hatte, die aufgehoben hat und gesagt hat: vielleicht nutze ich die nochmal."
Sie hängen jetzt in einem Regalfach im ersten Ausstellungsraum. "Und wenn Besucher denken, sie müssten da mal anfassen, dann geht das Licht an. Mit der Idee, dass das so irritiert, dass der Besucher, die Besucherin doch noch mal darüber nachdenkt, warum es überhaupt das Bedürfnis gibt diese Haare anzufassen. Weil, man hat in der Führung eigentlich immer Besucher, die sagen: Aber das ist doch nicht rassistisch, wenn ich da mal die Haare anfassen will. Und genau zu dieser Frage zu kommen: Wer definiert das eigentlich? Und wie kann ein weißer Mensch nachempfinden, wie sich das anfühlt?"
Subtile Aggressionen im Alltag
"Das sind sehr subtile, unauffällige, verdeckte und latent aggressive Ausdrucksformen von Rassismus, die bewusst oder meistens auch unbewusst auftreten", erklärt Amma Yeboah, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie untersucht die Auswirkungen von Rassismus auf die Gesundheit. Welchen Belastungen jemand ausgesetzt ist, der oder die anhaltend über einen "Migrationshintergrund" definiert wird, sagt sie - und welche Folgen das hat - das ist in Deutschland kaum erforscht. Empirische Studien gibt es nicht.
Die US-amerikanische Forschung beschreibt diese Zusammenhänge allerdings schon länger mit dem Konzept "Mikroaggressionen". Nach dem drei Formen subtiler Aggressionen unterschieden werden: "Micro-Assault nennt sich das. Das heißt: ein Angriff, der schon expliziter ist und das kann zum Beispiel eine Bezeichnung sein, mit dem N-Wort. Es kann aber auch ein diskriminierendes Verhalten sein, das heißt, ganz explizit Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer vermuteten Herkunft anders und zwar nachteilig zu behandeln. Und dann gibt es die Kategorie zwei, die Micro-Insult, die Beleidigungen, die auf die Herkunft oder die Identität zielen."
Anfang Dezember 2018 veröffentlichte der britische "Guardian" die Ergebnisse einer Umfrage zu Rassismus-Erfahrungen, die Angehörige ethnischer Minderheiten im Alltag machen. Es ist die erste Untersuchung dieser Art in Großbritannien. Mehr als ein Drittel der Befragten, vor allem Schwarze, berichten darin, dass sie schon einmal fälschlich des Ladendiebstahls verdächtigt worden seien - mehr als doppelt so häufig wie weiße Befragte. Ebenfalls zweimal so oft wie Weiße werden sie in Restaurants, Bars und Geschäften für die Bedienung gehalten. Und ein Fünftel sagt, sie hätten Stimme, Frisur, Kleidung und generelles Auftreten verändern müssen, um in Studium oder Beruf ernstgenommen zu werden.
"Und dann hätten wir die dritte Kategorie", erläutert Yeboah. "Micro-Invalidation, die Ungültigkeitserklärung. Einfach die Erlebnisrealitäten negieren, zum Beispiel zu sagen, ja du hast diese Erfahrung gemacht, das kann gar nicht sein. Wir sind doch alle Menschen. Oder diese Behauptung zu sagen, ich sehe gar keine Farben, ich behandle alle Menschen gleich."
Für Betroffene bedeutet das: Sie werden immer wieder von außen in Frage gestellt und dazu gezwungen, sich zu erklären, die Vorannahmen und Vorurteile des Gegenübers richtigzustellen; letztlich: die Gültigkeit der eigenen Existenz immer wieder zu beweisen.
"Du existierst nicht. Und diese Botschaft ruft natürlich Stress im Gehirn aus. Das heißt, es werden Stresshormone oder Neurotransmitter, im Volksmund sagen wir Hormone, Nervenbotenstoffe, die Stress darstellen, die werden ausgeschüttet und das Gehirn sendet Signale aus und sagt: Du kannst vernichtet werden. Und aufgrund dieser Antwort vom Gehirn können wir auch von einer biologischen Tötung sprechen, wenn es um racial microaggressions geht."
Rassismus wird auch in Bildungseinrichtungen reproduziert
2008 schreibt die Psychologin und Autorin Grada Kilomba in ihrem Buch "Plantation Memories", dass Alltagsrassismus gerade von schwarzen Menschen als Wiederkehr kolonialer Gewalt erlebt wird. Ähnlich wie Kolonialherren "ihren" Sklaven Masken anlegten, um sie zu demütigen und am Sprechen zu hindern - so werden auch heute noch Menschen, die nicht den herrschenden, weißen Normen entsprechen, daran gehindert sich als eigenständige Subjekte zu artikulieren. Das geschehe vor allem an Schulen und Universitäten - an Orten, an denen Wissen hergestellt und vermittelt wird. Und zwar, indem diese Orte von Weißen und weißem Wissen beherrscht werden - das Wissen von Schwarzen und People of Color dagegen werde abgewertet.
Verabredung mit Aretha Schwarzbach-Apithy. Die Erziehungswissenschaftlerin erforscht die Strukturen, in denen weißes Wissen noch immer als überlegenes Wissen konstruiert wird.
DLF: "Vielleicht können Sie kurz beschreiben, wo wir sind?"
Schwarzbach-Apithy: "An der Humboldt-Universität zu Berlin im Hauptgebäude. Und jetzt gehen wir die Treppen hoch. Um uns die Galerie der weißen Menschen anzugucken, die als Rollenmodell dienen für Wissenschaft. Hier brauch ich gar nichts mehr zu sagen, sind natürlich alles nur Männer."
DLF: "Das sind alles Nobelpreisträger für Chemie, ne?"
Schwarzbach-Apithy: "Das finde ich interessant, zum Beispiel, wenn hier ein Mädchen langgeht und die ist gut in Chemie, okay, die sagt sich vielleicht: Wow, schaffe ich das jemals? Unausgesprochen klar, dass das alles das männliche Geschlecht war. (...) Und die Geschichten dahinter, die werden gar nicht erzählt, in den Abbildungen. Wenn Frauen nicht studieren dürften, hätten sie gar nicht die Möglichkeit gehabt den Nobelpreis zu kriegen. Es kommt nur an: es waren nur Männer. Also können das praktisch auch nur Männer."
Zwar wurde die Galerie inzwischen um Porträts von Frauen erweitert - schwarze Menschen allerdings sind nach wie vor nicht vertreten. Sie sind als Akteure in der Produktion von Wissen in Deutschland deutlich unterrepräsentiert. Es gibt zwar Professoren mit Einwandererbiographie. Aber sie stammen fast alle aus Europa oder Nordamerika. Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 stammten nur zwei Prozent der Professoren aus Lateinamerika und nur ein Prozent aus Afrika. Der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zufolge hat nur etwa jeder fünfte Studierende in Deutschland einen "Migrationshintergrund".
"Privileg der Unkenntnis" für weiße Studierende
Dazu zählen allerdings auch weiße Studierende aus anderen Ländern Europa, die nicht von Rassismus betroffen sind. Die Zahl nicht-weißer Studierender ist daher noch weitaus geringer. Und wenn sie es dennoch auf die Universität geschafft haben, erleben sie häufig, dass sein oder ihr Erfahrungshintergrund keine Rolle spielt. Dass Hinweise auf Forschungen nicht-weißer Autoren zu Seminarthemen übergangen werden.
"Dann kommen Reaktionen wie - der Klassiker, der auch schon in der Schule oft gesagt wird: Wir sind gerade nicht beim Thema", erzählt Schwarzbach-Apithy. "Oder: Ach, das ist ja interessant, na dann gehen Sie mal nach Hause, recherchieren und machen das nächste Mal ein Referat dazu. Was bundesweit sich schwarze Studierende immer wieder erzählen, oder auch students of color, ist, dieses 'Nachweis erbringen' der Wahrheit dessen, was jetzt gerade gesagt wird. Während es andere ja nicht machen müssen im Seminar, weil da gibt es einen Common Sense, wo die Dozentin nicht bei jedem Satz sagt: Beweis mir das, zeig mir das Zitat. Das machen sie aber bei uns: Wo steht denn das? Und wenn sie es nicht sagt, sagen zwei, drei Studierende im Hintergrund: Das möchte ich jetzt mal wissen, wo das steht. Kann ja jeder erzählen, und sofort."
Während die Leistungen auch nicht-weißer Studierender daran gemessen werden, wie souverän sie sich innerhalb des "weißen Wissens" bewegen - herrscht für ihre weißen Kommilitonen das "Privileg der Unkenntnis".
"Professorinnen wie auch Studierende können unwissend sein, was schwarze Leute angeht, was deren Geschichte angeht, was deren Kampf angeht, was deren Realität hier angeht", erzählt Schwarzbach-Apithy. "Die können unwissend durchs Leben gehen, da passiert nichts: Die bekommen dafür keine schlechtere Note. Das ist nicht, dass sie dadurch keinen Job bekommen, die werden auch nicht befragt. Während schwarze Leute sehr wohl abgefragt werden, nach dem ganzen weißen Wissen. Die weiße Positionierung und die wissende Positionierung heißt immer auch: Ich habe die Definitionsmacht. Ich definiere auch, was ist richtiges Wissen. Ich kann das validieren. Und ich habe auch die Kontrollmacht, Wissen zu strukturieren, einzuordnen, zu kategorisieren. Und die Kontrolle ist dann nicht mehr gegeben, wenn immer mehr Leute über ihre eigene Universität bestimmen, wenn schwarze Leute in afrikawissenschaftliche Institute gehen, afrikanische Leute. Wenn die plötzlich erzählen, ihre Story! Es gibt ein Sprichwort im Afrikanischen: Der Hunter erzählt eine andere Story als der Lion. So die Leute werden eine völlig andere Geschichte erzählen."
"Was außerhalb der Universität an Wissen vorhanden ist, in die Universitäten bringen"
"Epistemizid" - so nennt der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos das systematische Auslöschen von Wissen. Von Wissen, das als "nicht gültig" angesehen wird, weil es nicht nach den Kriterien funktioniert, die in der weißen, bürgerlichen Gesellschaft seit der Aufklärung als wissenschaftlich gelten. Der Epistemizid begann mit der Kolonisierung - und dauert bis heute an.
"Nicht-akademisches Wissen wurde marginalisiert, zum Schweigen gebracht und wird als irrelevant bezeichnet", kritisiert de Sousa Santos. "Seit dem 16. Jahrhundert ist für Europäer nur das Christentum die einzig ernsthafte und korrekte Religion. Ähnlich war es mit der Wissenschaft: Nur die moderne Wissenschaft, vor allem nach dem 18. Jahrhundert, wurde als einzige schlüssige Wissenschaft angesehen, dementsprechend wurden alle anderen Wissensbestände und Weisheiten, mit denen die Kolonisatoren in Berührung gekommen sind, für irrelevant erklärt."
Lässt sich dieses Wissen zurückholen? Wenn ja, wie? Und: inwiefern kann das dazu beitragen, dass Rassismus aus der Gesellschaft verschwindet?
Treffen mit Boaventura de Sousa Santos in einem Hotel in Lissabon. Er lehrt an den Universitäten von Coimbra und Wisconsin - und gehört zu den wichtigsten Denkern der dekolonialen Theorie. Deren zentrales Anliegen: die Kritik am Eurozentrismus: "Nehmen wir das Beispiel Entwicklung oder Fortschritt. Wir glauben, dass Entwicklung eine Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit ist. Aber das eurozentrische Konzept von Fortschritt oder Entwicklung hat gar nichts zu tun mit Vorstellungen von einem guten Leben, wie es sie in anderen Teilen der Welt gibt. Trotzdem denken wir immer, dass Entwicklung für ein Land bedeutet, so zu werden wie Europa oder Nordamerika. Obwohl wir sogar wissen, dass die Erde kollabieren würde, wenn alle leben würden wie die Menschen dort."
2014 kritisiert Boaventura de Sousa Santos in seinem Buch "Epistemologien des Südens" den universalen Gültigkeitsanspruch des westlichen Denkens. Und fordert "kognitive Gerechtigkeit": Die Anerkennung nicht-westlichen Wissens als gleichwertig. Ohne diese könne es auch keine soziale Gerechtigkeit auf der Welt geben - und Menschen, die bisher ausgegrenzt und marginalisiert wurden, blieben das auch.
"Ich denke, wir sind an dem Punkt, wo wir Wissen demokratisieren müssen" meint de Sousa Santos. "Die 'Epistemologie des Südens' ist ein Appell für eine radikale Demokratisierung des Wissens, für interkulturelle Übersetzung zwischen den verschiedenen Wissensbeständen. Wir müssen das, was außerhalb der Universität an Wissen vorhanden ist, in die Universitäten bringen: Alltagswissenschaft, das Wissen von Frauen, indigenes Wissen, das Wissen der Bauern. In diesem Bereich gibt es sehr interessante Erfahrungen, nicht so sehr in Europa, aber Europa ist sehr klein."
Traditionelle Heilmethoden und alternative Karten
An einigen medizinischen Fakultäten in Brasilien und Indien ist es inzwischen üblich, dass neben westlicher Schulmedizin auch traditionelle Heilmethoden der lokalen Bevölkerung gelehrt werden. Juristische Fakultäten laden regelmäßig Richter ein, die aus indigenen Kollektiven stammen, in denen es keine Gefängnisse gibt - und die Studenten erläutern, wie sie Konflikte über Mediation und Versöhnung lösen. Kritische Geografen klopfen Methoden ihres Fachgebiets auf Diskriminierungsstrukturen hin ab, die aus der Kolonialzeit herrühren.
Berlin-Moabit, Center for Art and Urbanistics. Das Kollektiv Orangotango präsentiert sein Buch "this is not an atlas" - eine Sammlung widerständiger Karten. Auf dem Podium die kritische Geografin Nermin El Sherif von der Universität Amsterdam: "Zum Beispiel die Karten, die alle in der napoleonischen Ära in Äypten, Syrien oder der Levante gezeichnet wurden. Das ganze Gebiet wurde kartiert, um es zu kolonisieren. Dementsprechend war die Einführung dieses Werkzeugs ein Werkzeug, um zu kolonialisieren."
Nermin El Sherif sucht in Archiven nach "alternative Karten", die nicht von staatlicher Seite angefertigt wurden, sondern von den Bewohnern zum Beispiel. Und findet: "Die anderen Karten Ägyptens", die mehr enthalten, als nur gezeichnete Abbildungen: "Es wird detailliert beschrieben, in welcher Straße welches Haus steht, wie viele Menschen in jedem Haus leben und wie diese Nachbarschaft entstanden ist. Wer sie gründete, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelte und so weiter."
Wissenschaft - oder wissenschaftlich arbeiten -, das heißt im europäischen und angelsächsischen Verständnis zumeist: Es gibt eine These, die Wissenschaftler mit Ergebnissen von Beobachtungen, Experimenten, Messungen und Berechnungen begründen oder aus diesen ableiten. Sie machen dieses Vorgehen transparent und damit nachprüfbar. Und dann gilt die These als "Fakt", solange sie nicht widerlegt wird. Und nicht zuletzt, weil jeder nachmessen und nachprüfen kann, gilt dieses Vorgehen als objektiv - und dessen Resultate als universell gültig.
"Wissenschaft ist ein Kampfplatz"
Das allerdings ist nicht die ganze Geschichte. Ausgeblendet wird, dass auch Wissenschaftler innerhalb konkreter Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse leben und arbeiten, dass sie - oft unbewusste - Vorannahmen treffen, Meinungen haben, Interessen verfolgen. Dass das Wissen, das sie so produzieren, nur partikulare, temporäre Gültigkeit beanspruchen kann. Dass der Anspruch auf universelle Geltung mit dazu beiträgt, dass Menschen die Deutungshoheit über sich und die Welt abgesprochen wird. Und: Dass darauf vor allem Wissenschaftler aufmerksam gemacht haben, die aufgrund ihrer Herkunft selbst Unterdrückung erfahren haben.
"Wissenschaft ist kompetitiv. Es ist auch ein Kampfplatz. Es ist ein Teil der Zivilgesellschaft und in der Zivilgesellschaft wird gekämpft um Bedeutung. Da wird gekämpft um Bedeutung und um die Möglichkeiten, die sich dann entfalten können oder nicht entfalten können", meint María do Mar Castro Varela, Politikwissenschaftlerin und Mitautorin der ersten deutschsprachigen Einführung in postkoloniale Theorie. In der Machtstrukturen in der Gesellschaft untersucht werden, die in der Zeit der Kolonialisierung ihre Wurzeln haben. Und die dafür unter anderem fordert, dass sich die herrschende, westlich-weiße Wissenschaft mit ihren Widersprüchen auseinandersetzt - und mit ihrem Erbe, das auf Gewalt und Ausbeutung beruht.
"Das heißt, dass die Art und Weise, wie Wissenschaft gemacht wird, wer Wissenschaft macht, wer in der Wissenschaft welche Position hat, sich radikal verändern muss und das wissen diejenigen, die versuchen, das zu verhindern, und wenn die Vorstellung davon, dass wir Menschen einteilen können nach bestimmten Kategorien, dazu führt, dass bestimmte Gruppen von Menschen diskriminiert werden, dass ihnen Gewalt angetan wird, dass sie marginalisiert und stigmatisiert werden, dass ihnen Gewalt angetan wird, dann ist es etwas, was wir unbedingt angreifen müssen.
Und wo wir dafür Sorge tragen müssen, dass sich im Alltag ein anderes Verständnis von 'Wie wir Menschsein denken können' auch durchsetzt. Beherrschen funktioniert nur dann, wenn wir die, die wir beherrschen, auch verstehen. Deswegen ist es immer so ein bisschen ein Problem, wenn man antirassistische Workshops macht und sagt: ‚Wir wollen, dass die anderen verstanden werden'. Nee! Wir wollen nicht, dass die anderen verstanden werden. Wir wollen nicht mehr, dass die Anderen Andere sind."
Die Autorinnen danken Noa K. Ha, Peggy Piesche und Cengiz Barskanmaz für wertvolle inhaltliche Anregungen und Unterstützung bei der Recherche.
Es sprachen: Tonio Arango, Wolfgang Condrus, Michael Evers, Maximilian Held, Lisa Hrdina
Ton und Technik: Jan Fraune
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Christiane Knoll
Rassendenken Teil 1 - Über die rassistischen Wurzeln von Wissenschaft
(Deutschlandfunk, Wissenschaft im Brennpunkt, 25.12.2018)