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Raststation für Zugvögel

Nachdem sie den kalten Winter in Afrika verbracht haben, kommen Tausende Zugvögel im Sommer in ihre heimischen Wälder zurück. In einem Forstgebiet am Bodensee können Touristen und Naturfreunde die Rückkehrer beobachten und etwas über ihre Reise erfahren.

Von Thomas Wagner | 12.05.2013
    Rechts und links dichtes Gestrüpp. Der kleine Pfad, der am Rande der Konstanzer Kläranlage in ein Waldstück führt, ist fast zugewachsen, so wie im Urwald. Harald Jakobi, ein stämmiger Mann Mitte sechzig, tat gut daran, Gummistiefel anzuziehen. Er führt seine Gäste.

    "… zum Treffpunkt zu den Riedführungen, zum Vogelhäusle, das ist das alte Naturschutzzentrum, das seit 1979 so ganz versteckt am Rande 'Wollmatinger Riedes' liegt."

    Das "Wollmatinger Ried" bei Konstanz – das ist ein rund 430 Hektar großes Naturschutzgebiet direkt am Seerhein, der von Konstanz in den Untersee führt, den südwestlichen Arm des Bodensees. Harald Jakobi ist Naturfreund durch und durch, kümmert sich seit Mitte der 60er Jahre vor allem um die Vogelwelt, die im 'Wollmatinger Ried' Zuhause ist. Saftige grüne Feuchtwiesen, aber auch riesig scheinende Schilfgürtel wechseln sich ab; hinzu kommt eine weitere, rund 300 Hektar große Flachwasserzone. So eine riesige, unberührte Naturfläche, die sich am See-Rhein-Ufer entlang erstreckt, ist im Bodenseeraum einzigartig – und gleichzeitig ein Paradies für Zugvögel.

    "Sein besonderer Wert besteht darin, dass es ein Stück Bodensee-Uferlandschaft ist, das in dieser Vollkommenheit, in dieser Schönheit sonst nirgendwo mehr gibt. Und in diesem Lebensraum existieren Pflanzen und Tiere, die aus unserer Normallandschaft ziemlich verdrängt worden sind. Das ist eine Flachwasserzone, die sehr nahrungsreich ist. Und diese Qualität ist das eine, dass man genügend Nahrung findet. Und auf der anderen Seite ist es genauso wichtig, dass man Zugvögel hier vor Nachstellungen, vor Störungen geschützt sind, weil diese Wasserfläche das ganze Jahr über gesperrt ist und nicht befahren werden darf."

    "Dann heiße ich Sie herzlich willkommen im Naturschutzgebiet 'Wollmatinger Ried'. Ich gebe am Anfang immer so eine kleine Einführung, wo wir uns befinden. Wir befinden uns jetzt hier …"

    In dem kleinen Holzhüttchen hat sich ein Dutzend Gäste eingefunden – Teilnehmer aus ganz Deutschland, die an einer Führung durch das 'Wollmatinger Ried‘ teilnehmen wollen. Die Einführung dauert nur wenige Minuten. Dann geht’s hinaus, ins Freie, über den dicht bewachsenen Pfad zu einem größeren Weg, der hinabführt, zum Ufer des Seerheins.

    Fast alle, die mit wandern, haben ein Fernglas mit dabei, schauen von dem Weg aus immer mal wieder nach rechts und links, auf die Feuchtwiesen, auf die kleinen Baumgruppen, auf die riesigen Schilfgürtel. Wer wie Franz Sieber aus Heidelberg hier mit wandert, hat Freude an der Natur.

    "Mich interessiert der Artenreichtum und die Veränderung der Naturschutzbemühungen. Ich war schon vor 30 Jahren hier in Radolfzell und habe die Fische rücklings schwimmen sehen im Hafenbecken. Und das schmerzt einen Naturschützer natürlich. Dagegen heute die Bemühungen, einen sauberen See, Artenreichtum und Schutzgebiete zu erfahren, das interessiert mich am meisten."

    Die Gruppe bleibt stehen, lauscht gespannt dem Konzert der Natur. Scheinbar unsichtbar finden sich die verschiedensten Vogelarten in den Wiesen zusammen, um gemeinsam ein großes, vielstimmiges Konzert zu geben.

    "Wenige Vögel können ihren eigenen Namen rufen. Aber das ist er: Das ist der Zilp-Zalp."

    Dann, plötzlich, gibt aus der Ferne der Riedwiesen in diesem Konzert der Natur ein altbekannter Zeitgenosse ein Solo:

    "Das war der Kuckuck. Der gehört hier zum festen Inventar. Der brütet ja nicht selber. Der braucht Wirtseltern, die ihm seine Eier ausbrüten und die Jungen aufziehen. Er nimmt nicht alles, was sich da bietet. Sondern die Kuckucke, die hier im 'Wollmatinger Ried' leben, haben vor allem den Teichrohrsänger als Wirt. Und ich hoffe, dass wir den jetzt gerade noch zu hören bekommen."

    Wenn der Teichrohr-Sänger sein Rufen beginnt, lächelt Harald Jakobi vom Naturschutzbund Deutschland zufrieden: Die Teichrohr-Sänger sind wohlbehalten angekommen, nach einer langen, über 6000 Kilometer langen Reise, die sie in Afrika, südlich der Sahara, angetreten haben. Fasziniert spitzen die Teilnehmer der Ried-Tour die Ohren.

    "Wir stehen im Umfeld von Streuwiesen, die einmal im Jahr gemäht werden, ein schütterer Bewuchs von Weiden, ansonsten eine Hahnenfuß-Blumenwiese. Sehr idyllisch auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite genießt das Herz mit."

    Walter Schramm kam aus München zum Kurzurlaub an den Bodensee. Im ‚Wollmatinger Ried‘ mit den zig-tausenden Vögeln findet er eine andere Welt als die, er vom Alltag her kennt.

    "Die Faszination kommt von einem aus der Kindheit vielleicht heraus. Ich bin in einem kleinen Ort aufgewachsen, im Schwäbischen. Jetzt über 20 Jahre in der Großstadt, in München. Immer Verkehr, Stau und Lärm um sich herum und zu wenig Natur. Und das ist natürlich ein wahnsinnig wichtiger Ausgleich für Herz, Geist und Seele."

    Immer wieder bleibt die Gruppe stehen. Einige greifen stumm zum Fernglas. Andere spitzen die Ohren. Franz Sieber aus Heidelberg kann 25 Vogelstimmen voneinander unterscheiden.

    "Vogelstimmen ist ein Lebenselixier. Ich sag mal, das ist ein Glücksbringer. Die Vielfalt der Vogelstimmen, das ist das Interessante. Das kann einem so das Gefühl von Entschleunigung in der Natur wiedergeben. Das ist nichts Künstliches. Das ist etwas Natürliches."

    Die Gruppe ist am Seerhein angekommen: Ein riesiger, abgestorbener Baum ragt altersschwach aus dem Wasser heraus, davor unberührtes Schilf. Am gegenüberliegenden Ufer ein kleines, pittoreskes Städtchen: Links eine Art steinerne Festung, rechts davon Fachwerkhäuser. "Gottlieben" steht auf dem Schild an der Schiffsanlegestelle – ein kleines Örtchen in einem anderen Land.

    "Das ist die Schweiz. Und was ich hier toll finde: Man gehört zusammen. Auch wenn die Währung eine andere ist – die Mentalität und die Freundlichkeit hüben und drüben ist sehr, sehr angenehm."

    Und deshalb ist es Mitwanderer Walter Schramm auch kaum aufgefallen, dass am Ufer des 'Wollmatinger Riedes' nichts darauf hinweist, dass der vorbeifließende Seerhein sogar eine EU-Außengrenze markiert, nämlich die Grenze zur Schweiz.

    Die Gruppe setzt ihren Weg fort. Erst geht’s durchs Sträucher und Dickicht, dann weiter, entlang von großflächigen Wiesen, auf einer Art Damm.

    "Wir sind jetzt am sogenannten Wegli-Rhein, der uns von den Feuchtwiesen zur Beobachtungsplattform führt. Der Wegli-Rhein zeichnet so ein bisschen die alte Uferlinie des Bodensees nach. Denn der Bodensee hatte sein Ufer nicht immer da, wo es jetzt ist. Sondern voreiszeitlich reichte das bis hierhin. Wir gehen sozusagen auf dem alten Uferwall entlang."

    Henning Mehrgott, ein junger Mann Mitte 20, ist der Führer der Gruppe. In Göttingen hat er Biologie mit Schwerpunkt Biodiversität, also Artenreichtum, studiert. Nun macht er ein Praktikum beim Naturschutzbund in Konstanz, zählt Zugvogelarten, führt interessierte Gäste durch das 'Wollmatinger Ried'. Mehrgott bückt sich, kratzt ein wenig Erdreich von der Oberfläche des Weges.

    "Der Uferwall hat eine Besonderheit. Denn sein Untergrund ist vom so genannten ‚Schneckli-Sand‘ aufgefüllt. Den lass ich jetzt mal rumgehen. – Das ist mineralisch, ist nichts mehr lebendig. Ich seh da so kleine Kiessteine drin ..."

    Der ‚Schneckli-Sand‘ ist eine Besonderheit des Bodensees: Er hat die Geheimnisse aus der Entstehungszeit der Bodenseelandschaft konserviert.

    "Also dieser so genannte 'Schneckli-Sand' ist biogenen Ursprungs. Der ist nacheiszeitlich durch Blaualgen entstanden, die auf Schnecken- oder Muschelschalen siedeln und dann Kalk als Stoffwechselprodukte abscheiden. Dieser Kalk ummantelt mit der Zeit dieses Substrat, also die Schnecken- und Muschelschalen und bildet dann solche kleinen Kalkknollen. Und diese Kalkknollen wurden dann vom Wellenschlag des Bodensees dann hier auf den Ufersaum gespült."

    Das Wollmatinger Ried – ein Uferabschnitt voller Geheimnisse, voller Überraschungen, von dem das immerwährende Konzert der Zugvögel fast schon ein wenig ablenken will. Auf dem Weg über die weiten Feuchtwiesen denkt Henning Mehrgott auch darüber nach, ob hier auch in Zukunft noch alles so zwitschert wie derzeit. Denn der Klimawandel, sagen Wissenschaftler, beeinflusst auch das Verhalten der Zugvögel.

    "Also das Zugvogelarten durch den Klimawandel verändert sich in der Tat insofern, als dass viele Vögel, die wir jetzt auch aus dem Garten kennen, zum Beispiel die Kohlmeise, früher anfangen zu brüten, weil sie darauf reagieren, dass es früher warm wird und dass dann früher auch die Nahrungsressourcen, also beispielsweise die Insekten, da sind. Und daran passen die Vögel auch tatsächlich ihr Brutverhalten an, kommen also früher zurück, starten früher mit dem Brutgeschäft und ziehen dann auch früher ihre Jungen groß."

    Die Gruppe ist, nach über zwei Stunden, in einem kleinen Holzschopf angekommen. Der sieht so ähnlich aus wie ein Schießstand: Nur durch kleine Sichtluken können die Teilnehmer die Feuchtwiese davor betrachten. Das Leben dort soll sich so ungestört wie möglich entwickeln können.

    Ute Döring wohnt in Göttingen, meldete sich während ihres Kurzurlaubs am Bodensee spontan zur Führung durch das 'Wollmatinger Ried' an.

    "Der Reiz beim Vogelbeobachten ist, dass es wirklich Zufall ist, ob die die Tiere jetzt sehe oder nicht. Bei Pflanzen, das weiß ich: Da wächst die. Da kann ich im nächsten Jahr wieder hingehen zur Blütezeit. Aber bei den Vögeln bin ich ja nie sicher, ob die sich an diesem Tag wirklich zeigen. Und wenn man sie dann doch sieht, dann ist das ein noch größeres Erfolgserlebnis."

    "Ja, wir sind nach dem Beobachtungstunnel jetzt an dem Steg zur Beobachtungsplattform gekommen. Da laufen wir jetzt mal drauf."

    Ein paar Meter weiter, wiederum am Ufer des Bodensees, müssen die Teilnehmer Treppen steigen: Es geht auf eine große, hölzerne Plattform. Von dort erschließt sich der Blick auf ein Stück unberührter Natur: das stille Wasser des Seerheins, Schwäne und Enten, die zwischen zwei großen, mit schilfbewachsenen Inseln hin- und herschwimmen. Was die Ried-Wanderer auf den ersten Blick nicht erkennen: Sie sind gar nicht vollständig natürlichen Ursprungs.

    "Man sieht hier gerade ein Trupp Lachmöwen, der über uns kreist. Und wir sehen eine große Schilflandschaft. Und gerade hat man uns erklärt, dass man da so Brutplattformen gebaut hat für die Vögel auf diesen Inseln, die jetzt aber mit Schilf zugewachsen sind. Es wirkt schon sehr verwunschen. Das ist etwas, was man so als Otto-Normalverbraucher nicht zu Gesicht bekommt."

    Britta Wahlbrun aus Göttingen ist Biologin und genießt jede Minute der Wanderung durch das ‚Wollmatinger Ried‘. Dreieinhalb Stunden sind nach dem Auftakt der Tour vergangen – die Sonne, die anfangs noch regelrecht aufs Ried gebrannt hat, geht allmählich unter.

    "Hier, bei der Besucherlenkung, geht’s jetzt zum letzten Stück. Das letzte Stück geht jetzt nochmals über eine Wiese mit Schwertlilien. Und dann haben wir nochmals so eine Art Gebüschzone, wo wir so gewisse Auwald-Reste vorfinden. Und hier endet diese Führung. Und auf diesem Weg endet die Führung dann am Ausgangspunkt."

    "Die Stechmücken werden langsam aggressiver. Und ich möchte deshalb auch gerne weiterziehen und zu einem Ende kommen."

    Einige der Gruppe beschleunigen ihren Schritt, packen die Ferngläser zurück in ihre Etuis. Liesbeth Luuv, gebürtige Niederländerin, wird diese Tour so schnell nicht vergessen. Eigentlich, gibt sie zu, hat sich seit ihrer Kindheit eine Wanderung durch so ein riesengroßes Zugvogelreservat gewünscht:

    "Ich hatte einen Vater, der ein großer Vogelfan war. Und als er sie dann nicht mehr so richtig sehen konnte, ging das über in das Hören von Vögeln. Und so ist es auch bei mir: Von Kind an bin ich damit aufgewachsen."

    Für Liesbeth Luuv ist daher klar. Irgendwann wird sie zurückkehren ins 'Wollmatinger Ried' und dann nochmals an einer Wanderung durch die weite, geheimnisvolle Welt sowohl der heimischen als auch der Zugvögel teilnehmen. Damit ist sie nicht alleine. Und dafür gibt es auch einen Grund, ergänzt Ralf Mehderake aus Göttingen:

    "Ich werde auf jeden Fall im Sommer mal kommen. Bei den Vögeln, ja vielleicht noch andere Arten. Also uns man gesagt, dass manche Arten erst im Mai, Juni brüten. Und die könnte man dann nochmals sehen."