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Raus aus dem Turm

Nach dem Kulturkampf im 19. Jahrhundert hatte sich der deutsche Katholizismus eingebunkert. Doch immer mehr Laien wandten sich gegen den Klerus und der interkonfessionellen Gesellschaft zu. Im sogenannten Gewerkschaftsstreit wurde darüber jahrelang erbittert gestritten.

Von Peter Hertel | 24.09.2012
    Gran Marcia trionfale – "großer Triumphmarsch" hieß die Hymne des Heiligen Stuhls zu Zeiten Pius’ X. In der Tradition des römischen Triumphalismus bannte dieser Papst sogenannte modernistische Katholiken und ihre Bewegungen in Italien und Frankreich. Sie hatten es gewagt, enge konfessionelle Einzäunungen zu über-springen. Im Hinblick auf das gemischt-konfessionelle Deutschland dagegen zögerte Papst Pius, obwohl er jahrelang zu einer Erklärung gedrängt wurde. Seine Enzyklika, sein Rundschreiben "Singulari quadam", das er schließlich herausgab, stellte zwar die rein katholischen Arbeiter- und Gewerkvereine als Ideal dar. Aber überraschend untersagte der Papst den Katholiken nicht, mit evangelischen Christen interkonfessionelle Gewerkschaften zu bilden. Am 24. September 1912 ließ Seine Heiligkeit die deutschen Bischöfe wissen:

    "Nicht wenige unter Euch, Ehrwürdige Brüder, bitten Uns um Erlaubnis, die so-genannten Christlichen Gewerkschaften … zu dulden, weil sie eine viel größere Zahl von Arbeitern umfassen als die rein katholischen Gewerkschaften und weil große Nachteile entstünden, wenn dies nicht erlaubt würde. … Wir erklären, dass sie ge-duldet werden können und es den Katholiken erlaubt werden kann, auch ge-mischten Vereinigungen anzugehören."

    Nicht zuletzt die Sorge, katholische Arbeiter würden sozialistischen Gewerk-schaften in die Arme getrieben, hatten den Papst zum Einlenken bewogen. Seine Enzyklika war der Schlussakkord eines grimmigen Streites, der mehr als ein Jahr-zehnt lang die katholische Kirche in Deutschland durchgerüttelt hatte. Begonnen hatte er, nachdem 1899 die katholische Generalversammlung – der spätere Katholikentag – die Katholiken zur gewerkschaftlichen Kooperation mit Protestanten aufgefordert hatte:

    "Betont die Notwendigkeit, … die auf christlicher Grundlage aufgebaute Gewerk-schaftsbewegung zu fördern!"

    Dagegen opponierte eine Minderheit der deutschen Katholiken. Sie wollte nur katholische Arbeitervereine mit einem Geistlichen an der Spitze. Der Konflikt, der Gewerkschaftsstreit, spaltete selbst die Bischofskonferenz. 1906 verkoppelte sich mit dem Gewerkschaftsstreit der Zentrumsstreit. Julius Bachem, Publizist und Politiker der Zentrumspartei, forderte in einem Zeitschriftenartikel:

    "Wir müssen aus dem Turm heraus."

    Die katholische Bastion verlassen sollte die weitgehend katholische Zentrums-partei, indem sie gezielt evangelische Abgeordnete in ihre Fraktionen bringe. Die römische Kurie indes war schockiert über die Katholiken im Land der Reformation Luthers. Kardinalstaatssekretär Rafael Merry del Val, der Mann hinter dem Papst, befand:

    "In Deutschland haben die lutherischen Ideen noch eine große Macht über die Katholiken."

    Und sein Unterstaatssekretär Umberto Benigni programmierte:

    "Die Gegenreformation ist in Deutschland leider im 17. Jahrhundert abgebrochen worden; sie muß jetzt wieder aufgenommen werden."

    Der römische Gegenreformator Benigni gründete, was erst 1916 herauskam, den inquisitorischen Spionagering "Sodalitium Pianum", den Pius-Geheimbund. Mit-hilfe seiner Geheimdienstler durchschnüffelte er den deutschen Katholizismus, um modernistische Abweichler aufzuspüren und sie beim Papst als Ketzer zu denun-zieren. Auf seiner schwarzen Liste standen prominente deutsche Katholiken, zum Beispiel der Sozialethiker und Zentrumspolitiker Franz Hitze. Selbst den Kölner Kardinal Antonius Fischer ließ er überwachen – durch einen französischen Priester, der sich in Köln aufhielt. Fischer hatte nämlich schon 1902 bei seinem Amtsantritt bekundet:

    "Ich werde gewiß als katholischer, aber auch als deutscher Bischof wirken."

    Der standfeste Kölner Kardinal hat mit bewirkt, dass Pius X. es nicht wagte, ein Ver-dikt über die Mitarbeit der Katholiken in interkonfessionellen Organisationen zu verhängen. So konnte sich die Ökumene an der kirchlichen Basis in Deutschland weiter entfalten und festigen. Von der katholischen Kirchenleitung hingegen wurde sie erst 50 Jahre später, nämlich im Zweiten Vatikanischen Reformkonzil, offiziell gebilligt.