Dienstag, 19. März 2024

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Raven Leilani: "Hitze"
Die Affäre als Teil der Familie

Raven Leilanis Roman "Hitze" war letztes Jahr das meistbesprochene Debüt in den USA. Kein Wunder bei der Geschichte: Die 23-jährige Edie zieht bei dem Mann ein, mit dem sie eine Affäre hat - und bei seiner Familie. Edie durchbricht die Grenzen von Klasse, Geschlecht und Hautfarbe.

Von Kristine Harthauer | 22.09.2021
Die Schriftstellerin Raven Leilani und ihr Roman „Hitze“
Die Schriftstellerin Raven Leilani und ihr Roman „Hitze“ (Foto: privat, Buchcover: Atlantik Verlag)
Auf den ersten Blick klingt Raven Leilanis Geschichte ziemlich klischeeverdächtig: Eine junge Frau beginnt eine Affäre mit einem doppelt so alten, verheirateten Mann. Er lebt ein finanziell abgesichertes Vorstadtleben mit seiner Familie. Sie haust in einem winzigen WG-Zimmer in New York, samt Mäuseplage und Studienkredit-Schulden. Doch dieser Roman ist alles andere als gewöhnlich: Bei Raven Leilani wird die junge Affäre Teil einer Familie. Die Affäre, das ist die 23-Jährige Edie:
"Mich stört der Altersunterschied nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass ältere Männer finanziell stabiler sind und ein anderes Verständnis der Klitoris mitbringen, ist da die starke Droge des Machtgefälles."

Die Ehefrau gibt die Regeln für die Affäre vor

Sex und eine Faszination für Autoritätspersonen machen die Probleme aus, die Edie seit ihrer Jugend begleiten. Sie arbeitet als Lektoratskoordinatorin bei einem Kinderbuchverlag. Ein Job, den mit der richtigen Einweisung jeder machen könnte, wie sie selbst sagt. Edie hat keinen besonderen Ehrgeiz, schläft mit vielen Kollegen und träumt eigentlich davon, Künstlerin zu werden. Dabei ist ihr schmerzhaft bewusst, dass sie zwar gut malen kann, aber eben nicht gut genug. Edie beginnt eine Affäre mit Eric. Er und seine Frau Rebecca wollen eine offene Ehe führen, bei der Rebecca die Regeln vorgibt: kein ungeschützter Sex, nur Treffen am Wochenende.
Nach 13 Jahren Ehe ist Eric aus der Übung und er ist nervös. Nicht nur, weil Edie viel jünger ist, sondern auch, weil sie Schwarz ist:
"Ich merke es an der Art, wie er afroamerikanisch sagt. Wie er sich standhaft weigert, das Wort 'Schwarz' zu sagen."

Ein soziales Experiment beginnt

Raven Leilani erzählt davon, was passiert, wenn die Grenzen von Klasse, Geschlecht und Hautfarbe durchbrochen werden, wenn zwei Lebenswelten plötzlich auf engem Raum zusammenkommen. Und sie tut das in einem atemlosen Tempo: Edie verliert erst ihren Job, dann ihre Wohnung. Durch einen Zufall trifft sie die Ehefrau Rebecca. Sie ist es, die Edie zu sich nach Hause holt. Damit gibt sich Rebecca nicht nur als Helferin in der Not. Sie bekommt auch Kontrolle über die Affäre ihres Mannes und sie hat jemanden, die für ihre Schwarze Adoptivtochter Akila da sein kann.
Edie zieht in das große, sterile Haus und es beginnt ein soziales Experiment, in dem sie Forscherin und Erforschte zugleich ist. Jetzt, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, sicheren Boden unter den Füßen hat, beginnt Edie wieder zu malen. Ihr Ziel ist ein Selbstportrait, das aber nicht gelingen will. Stattdessen fertigt sie Stillleben von den Gegenständen im Haus an:
"Ich bringe den Müll hinaus, mache ein Foto von den Mülltüten am Bordstein. Ich putze das Bad und mache ein Foto von der Haarzunge, die ich aus dem Abfluss ziehe, und nachts male ich die Fotos ab und hoffe, mich darin zu finden. Als es nicht klappt, als ich eine Serie gefaltete Wäsche und Mörtel fertig habe, und immer noch nicht dort bin, putze ich weiter."
Edie versucht sich in einer Welt wiederzufinden, in der kein Platz für sie vorgesehen ist. In "Hitze" seziert Raven Leilani das weiße amerikanische Leben der oberen Mittelschicht, in der Schwarze Menschen wie Edie oder Akila hyperpräsent und unsichtbar zugleich sind. Die beiden sind die einzigen Schwarzen in der ganzen Nachbarschaft, von der sie kritisch beäugt werden. Akilas Adoptiveltern machen ihr ein komfortables Leben, aber sie verstehen im Grunde ihre Tochter nicht. So versteckt Akila ihr Haar unter bunten Faschingsperücken, weil niemand ihr zeigt, wie sie es am besten pflegt. Edie ist diejenige, der das auffällt. Sie muss das Korrektiv sein, das machen, was eigentlich Sache der weißen Eltern wäre.

Köper und Beziehungen werden sezierte Welt

Auch sprachlich nimmt Raven Leilani diese Welt auseinander. Der Roman wird aus Edies Perspektive erzählt, durchgehend im Präsens. Ihre Sprache ist direkt, ungekünstelt und gibt ihre Erfahrungswelt ungefiltert wieder. Es entsteht ein Sog, der mitreißt, der die Welt nicht allein beschreibt, sondern sofort auch interpretiert und reflektiert. Als Edie und Eric zum ersten Mal Sex haben, erlebt sie das wie in einem Rausch, der zwar nur vier Sätze lang ist - die aber ziehen sich über vier Seiten, ohne dass man als Leserin, weiß, wo das Ganze hinsteuert.
Auch Körper werden in "Hitze" auseinandergenommen, im wortwörtlichen Sinne. Rebecca ist Gerichtsmedizinerin. Eines Tages nimmt sie Edie mit in den OP-Saal, stellt ihr eine Leinwand und Farben hin und Edie beginnt, die Obduktion zu malen. Rebecca bringe die Toten zum Sprechen, heißt es an einer Stelle. Edie hingegen versucht, mit ihrer Kunst die Unergründlichkeit des Lebens wiederzugeben und sich selbst darin zu finden. Sie, die weder Familie noch Freunde mehr hat, bleibt genauso auf sich allein gestellt wie Akila in ihrer weißen Adoptivfamilie.
Raven Leilani erzählt nicht nur in einer mitreißenden Sprache von den amourösen Verwicklungen und prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen einer Millennial. Sondern sie entlarvt in "Hitze" auch den Hyperindividualismus des reichen weißen Milieus als reine Selbstbespiegelung. Sie macht deutlich, dass das süße amerikanische Versprechen, es aus eigener Kraft ganz nach oben zu schaffen, nicht für jemanden wie Edie gilt: einer Frau, die jung, allein, arm und Schwarz ist. Leilanis Debütroman ist eine flirrende Reise mitten ins kalte Herz der amerikanischen Verlogenheiten.
Raven Leilani: "Hitze"
aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz
Verlag Atlantik, Hamburg. 256 Seiten, 22 Euro.