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Raymond Roussel
Meister des trockenen Humors

Sein erstes Buch floppte, er schrieb trotzdem weiter und ließ seine Bücher selber drucken: der französische Autor Raymond Roussel. Zwei Neuerscheinungen setzen dem legendären Sprachspieler, der die literarische Moderne maßgeblich beeinflusste, ein Denkmal und entführen in seine schillernde Welt.

Von Christoph Vormweg | 13.02.2019
    Buchcover links: Harry Mathews/Georges Perec: „Roussel und Venedig. Entwurf zu einer melancholischen Geographie“, Buchcover rechts: Norbert Wehr (Hrsg.): „Schreibheft, Zeitschrift für Literatur Nr. 91“
    Der Verlag zero sharp und die aktuelle Ausgabe des "Schreibhefts" erinnern an Raymond Roussel (Buchcover links: zero sharp Verlag, Buchcover rechts: Rigodon-Verlag)
    Georges Perec hat den Oulipo-Autor einmal mit einer Ratte verglichen, die versucht, aus ihrem selbst gebauten Labyrinth wieder herauszukommen. Das berühmteste Beispiel ist sein Roman "Anton Voyls Fortgang", der ohne den Buchstaben "e" auskommt. Auch Perecs Vorbild, der 1877 geborene, durch Erbschaft reich gewordene Raymond Roussel führte ein solches literarisches Ratten-Dasein. Denn der erste Schaffensrausch des 19-Jährigen brachte nicht den erhofften Ruhm. Das Buch floppte. Fortan erlegte sich Roussel beim Schreiben geheime, immer vertracktere formale Zwänge auf. Sein Werk sollte, wie er seinem Psychiater sagte, "nichts Wirkliches" enthalten, "keinerlei Beobachtung an der Welt", "sondern nur völlig imaginäre Kombinationen".
    Zwei Literaturdetektive auf Roussels Spuren
    Für Oulipo-Mitglieder gilt Raymond Roussel deshalb als ein "Plagiator durch Vorwegnahme", als ein Vorläufer und Wegweiser. Mit ihrer nach außen hin wissenschaftlichen, von den Zitatgebern bis zum Anmerkungsapparat jedoch frei erfundenen Abhandlung "Roussel und Venedig" wollten ihm Georges Perec und Harry Mathews zum hundertsten Geburtstag ein oulipotisches Denkmal setzen. Ihr Konzept nennt Roussel-Experte Maximilian Gilleßen in seinem Nachwort einen "Akt der Einverleibung". Denn das Rousselsche Theaterstück, um das ihre Abhandlung kreist, ist rein hypothetisch, also nur ein mögliches Werk, das aus seiner Feder hätte stammen können. Dementsprechend ist auch die Annahme, dass die Geographie Venedigs Roussels Werk zugrunde liege, pure, aber hochintelligent inszenierte Fiktion. Denn er selbst war nie in der Lagunenstadt.
    Das klingt so verspielt wie vertrackt. Ist es auch. Die beiden Literatur-Detektive Mathews und Perec erinnern in der Tat an Sisyphus-Gestalten. Doch empfinden sie - im Sinne der Philosophie Albert Camus' – Glück bei ihrem zweckfreien literarischen Tun. Frei nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel, die Recherche der Sinn. Entsprechend fällt das Fazit der beiden Oulipoten aus:
    "Es gibt kein Geheimnis Roussel, sein Werk stellt kein zu lösendes Rätsel dar; einzig unsere Lektüre, unser Durst nach Erklärungen, unsere Lust an Vorder- und Hintergründen erweckt um dieses Werk den Eindruck eines aufzubrechenden Geheimnisses. Wenn es aber ein Geheimnis gibt, dann mit Sicherheit nicht dort, wo wir es suchen."
    Kreative Sprachspiele
    Wenn der Oulipot eine Ratte ist, dann eine ironische, der jeglicher missionarischer Eifer fremd ist. Denn es geht nicht nur um Wortartistik. Man kann das hochkomplexe Opus "Roussel und Venedig" auch als Liebesgeschichte lesen, oder besser: als Einführung in den literarischen Umgang mit tiefstem Liebesleid. Allerdings gehörte Roussel nicht zu den Schriftstellern, die sich damit begnügten, spontane Ausgeburten ihrer Phantasie aufs Papier zu bannen. Vielmehr erkundete er durch seine schriftstellerische Methodik die "Eigengesetzlichkeiten" der französischen Sprache, wie Maximilian Gilleßen erläutert. Bevorzugt arbeitete Roussel mit den im Französischen so häufigen Homonymen: gleichlautenden Wörtern, die verschiedene Bedeutungen haben. Oder er veränderte durch den Austausch eines Buchstabens den Sinn eines ganzen Satzteils. Beispiel:
    "Der Platz des Schurken auf den Türmen des Forts"
    wird durch einen einzigen Lautwechsel zu:
    "die Wette des Dandys auf die Kunststücke des starken Mannes".
    Das zeitgenössische Lesepublikum hat Raymond Roussel und seine Werke schlicht ignoriert. Er schrieb trotzdem weiter und ließ seine Bücher selbst drucken, seine Theaterstücke auf eigene Kosten aufführen. Trotz seiner Weltabgewandtheit gab es Schriftsteller, denen Roussels sprachspielerische Kapazitäten nicht entgingen. Davon zeugt das Dossier des von Norbert Wehr herausgegebenen Schreibhefts 91. Unter dem Titel "Magnetiseure, Nachthellseher" beleuchtet Maximilian Gilleßen hier die sogenannte "Sternenfreundschaft" zwischen Raymond Roussel und dem Surrealisten Robert Desnos. Wie schon im Nachwort zu "Roussel und Venedig", das fast so lang ist wie der Text selbst, gibt er weitere, tiefe Einblicke in das Roussel-Universum: in einer klaren, analytisch genauen, nie akademisch abgehobenen Sprache.
    Die Keimkräfte der Sprache
    Gilleßen macht das Sprachbewusstsein von Roussel nachvollziehbar: zum einen seinen Witz, zum anderen die Kunst seiner minutiösen Beschreibungen. Ja, für Roussels ersten Interpreten Robert de Montesquiou ist es gerade seine sprachliche "Übergenauigkeit", die ihn zu einem Karikaturisten gemacht habe, zu einem "Meister des trockenen Humors". Diese "Übergenauigkeit" lässt sich im Schreibheft 91 auch in der Übersetzung von "La vue" verfolgen, zu Deutsch "Der Anblick". Stefan Ripplinger gelingt es hier, auch die Reimung von Roussels Versen ohne Peinlichkeiten ins Deutsche zu übertragen:
    "Weiter zur Linken bedeckt die anbrandende See
    Die Spuren von Füßen, die zu drei Vierteln eh
    Verwischt waren. Zu sehen sind die von zwei
    Barfuß spielenden Kindern, die dabei
    Übern weichen, feuchten Sand tollen. Ihr Gang
    Hat sich abgedrückt. Doch Abdrücke halten nicht lang."
    Besonders anschaulich gemacht wird das Problem der Übersetzung im Schreibheft übrigens am Beispiel eines Gedichts von Robert Desnos. "L'épitaphe" wird im Original und in drei verschiedenen Übersetzungen abgedruckt. Viel deutlicher lassen sich die Keimkräfte von Sprache nicht verdeutlichen.
    "Indessen schließt das Spiel nicht den Ernst, die Fälschung nicht die Wahrheit aus",
    Vermerkt Maximilian Gilleßen. Denn die Sprachspieler der Moderne sind in puncto Realitätsgehalt nicht zu unterschätzen. Das zeigen auch die Texte, die Jürgen Ritte im Zürcher diaphanes-Verlag in der neuen Reihe "Oulipo & Co" herausgibt: Da kann man mit Jacques Arago auf Weltreise gehen oder sich von François Le Lionnais beschreiben lassen, wie überlebenswichtig die Kraft der Imagination in einem deutschen Konzentrationslager sein konnte. In jedem Fall: Man versteht, warum die von Roussel inspirierten Oulipoten, die ja auch Nicht-Franzosen wie Harry Mathews und Oskar Pastior in ihre Reihen aufgenommen haben, bei ihren Lesungen in der Pariser Nationalbibliothek heute so viele Zuschauer anlocken.
    Denn wer die Macht von Sprache nicht kennt, wird leichter ihr Opfer. Oder anders ausgedrückt: Sprachzwänge sind allgegenwärtig – man denke nur an die Normierungen durch die Verpflichtung zur "political correctness". Umso wichtiger ist es, wenn Schriftsteller unser Bewusstsein für die Möglichkeiten von Sprache erweitern. Raymond Roussel, Georges Perec und Harry Mathews haben hier durch ihre Kompromisslosigkeit jenseits aller Buchmarktmoden Zeichen gesetzt – genau wie das Schreibheft in den vergangenen Jahrzehnten bei uns.
    Harry Mathews / Georges Perec: "Roussel und Venedig. Entwurf zu einer melancholischen Geographie"
    Aus dem Französischen von Hanns Grössel
    Mit einem Nachwort von Maximilian Gilleßen und sieben Zeichnungen von Anton Stuckardt
    Verlag zero sharp, Berlin. 72 Seiten, 12 Euro.
    Norbert Wehr (Hrsg.): "Schreibheft Nr. 91"
    Mit einem Dossier zu Raymond Roussel und Robert Desnos: "Magnetiseure, Nachthellseher"
    Zusammengestellt von Maximilian Gilleßen
    Rigodon-Verlag, Essen. 192 Seiten, 15 Euro.