Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Reaktion auf die Defizite der etablierten Politik

Das Etikett "populistisch" fällt in der politischen Arena schnell. Was sich dahinter verbirgt, untersucht die Soziologin Karin Priester in ihrem Buch "Rechter und linker Populismus - Annäherung an ein Chamäleon". Erhellend sind jene Kapitel, die einzelne Bewegungen wie die Tea Party oder den Chavaz-Sozialismus unter die Lupe nehmen.

Von Christiane Florin | 10.09.2012
    Vor zwei Jahren entdeckten Hobby-Parteienforscher ein besorgniserregendes Objekt: die Sarrazin-Partei. Umfragen attestierten ihr knapp 20 Prozent. Bevor Deutschland sich abschafft, so schien es, schafft es sich eine neue Partei. Wer der schweigenden Mehrheit aufs Maul schaut, um ihr nach dem Mund zu reden, den sortieren Journalisten unter "populistisch" ein. Das klingt erst gefährlich, dann unverbindlich. Und wenn, wie im Falle des Provokateurs Thilo Sarrazin, aus den Ideen doch keine Bewegung wird, fragt praktischerweise niemand mehr so genau nach. Ist "populistisch" mehr als ein Verlegenheitsetikett, irgendwo zwischen radikal und extremistisch? Benutzen es bloß Laien oder auch wissenschaftliche Profis? Karin Priester ist ein Profi. Sie war bis 2007 Professorin für Politische Soziologie in Münster. Zum Populismus hat sie mehrere Aufsätze veröffentlicht. Nun ist ihr Buch zum Thema erschienen. Der Titel: "Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon". Warum sie zum Chamäleon greift, erläutert die Autorin im ersten Kapitel:

    "Der Populismus ist aus sich heraus nicht hegemoniefähig, sondern tendiert durch mimetische Anpassung an seine Umwelt zu politischem Farbwechsel. Dennoch gibt es ein Merkmal, das ihn von anderen Tendenzen und Strömungen unterscheidet: seine diskursive Praxis der Polarisierung zwischen Volk und Eliten, den Kleinen und den Großen, zwischen oben und unten."

    Wie es sich für Bücher mit politologisch-soziologischem Anspruch gehört, wird viel theoretisiert. Karin Priester kreist zunächst den Begriff ein, anschließend beschreibt sie das Spannungsverhältnis von Populismus und Demokratie sowie von Populismus und Faschismus, sie greift zurück in die Geschichte und entwickelt daraus ein Phasenmodell, das idealtypisch den Weg von zunächst unbemerkten Anfängen bis zur Machtübernahme umreißt. Die allgemeinen Überlegungen werden ergänzt durch Beispiele. Priester analysiert in einzelnen Kapiteln den Linkspopulismus eines Hugo Chavez und den Rechtspopulismus der amerikanischen Tea Party, zum Schluss macht sie einen Schlenker zur Occupy-Bewegung. Die Autorin charakterisiert das Chamäleon des Populismus' kurz und knapp. Die sechs grundlegenden Elemente sind für sie:

    "1. Die Gegenüberstellung von ,gemeinem Volk' und Eliten,
    2. die Berufung auf das durch die Eliten noch unverfälschte Urteilsvermögen des Volkes oder seinen Common sens,
    3. die verschwörungstheoretische Denunziation der Machenschaften der Eliten,
    4. die Moralisierung des Diskurses,
    5. die Beschwörung von Krise/Niedergang,
    6. die Legitimationsbasis des 'gemeinen Volkes' als Stimme Gottes."


    Das hat man sich allerdings, abgesehen von der Stimme Gottes, als Journalist fast genauso gedacht. Erhellend sind jene Kapitel, die einzelne Bewegungen genau unter die Lupe nehmen. So beschäftigt sich die Autorin intensiv mit Venezuelas Regierungschef, einem Linkspopulisten, der auch in der deutschen Eine-Welt-Szene seine Fans hat. Karin Priester ist überzeugt: Chávez hat die Armut in seinem Land zwar gemindert, der Preis dafür war aber hoch:

    "Chavez verkörpert einen Populismus an der Macht, für den in Europa der Begriff des Bonapartismus steht – ein Führer, der sich auf die Macht des Militärs stützt, sich mit Hilfe von Sozialprogrammen und patriotischen Appellen eine Massenbasis in den unteren Bevölkerungsschichten schafft, der zwar den Sozialismus im Munde führt, aber zugleich den Aufstieg einer neuen, regimetreuen Aufsteigerschicht bis in die eigenen Familie duldet."

    Eine zweite Bewegung, die Karin Priester in ihrem Buch detailliert untersucht, ist im US-Wahlkampf besonders aktuell: die Tea Party. Denn sie appelliert, so die Autorin, wie alle Populisten, an den vermeintlich gesunden Menschenverstand des einfachen Amerikaners. Priester arbeitet jedoch heraus, dass die Protestbewegung mitnichten aus einfachen Leuten besteht. Die Tea Party: eine Partei der besser Verdienenden. Karin Priester zeigt, warum es dieser gelingt, den Widerspruch unkenntlich zu machen:

    "In der Tea Party organisieren sich Menschen, die an die Verheißungen des amerikanischen Traums von individuellem Aufstieg glauben. Sie fühlen sich weniger von den Reichen und Superreichen bedroht, ist doch deren Reichtum nur der Beweis für die Erreichbarkeit des Traums. Bedroht wird der Traum dagegen von kulturellen und sozialpolitischen Gleichstellungsprogrammen und einem von liberalen Eliten ausgehenden Wertewandel."

    Tea Party und Chavaz-Sozialismus dürften zwar auch die deutschen Leser interessieren, dennoch fragt man sich, warum Priester kein europäisches Beispiel heranzieht. Gerade im Kapitel über die Bedeutung des Charismas hätte sich ein Blick nach Frankreich, Italien oder Österreich angeboten. Die Rolle des charismatischen Anführers werde oft überschätzt, behauptet die Autorin. Sie verzichtet jedoch darauf, Le Pen, Silvio Berlusconi oder Jörg Haider einem gründlichen Charisma-Test zu unterziehen. Auch das deutsche Zündeln mit der politischen Inkorrektheit nach dem Muster "Das wird man doch wohl wieder sagen dürfen" wird nur am Rande beleuchtet. Diese Lücke ist insofern erstaunlich, als Priester betont, dass Populismus in Europa hauptsächlich in seiner rechtsdrehenden Variante auftritt.

    "Im europäischen Kontext zeigt Populismus eine stärkere Affinität zu rechten als zu linken Ideologien. Linkspopulismus stößt hier auf wenig fruchtbaren Boden. In der politischen Praxis hat zwar auch die Linke zwischen "Wir" und den "Anderen" polarisiert. Aber überall dort, wo der Marxismus als Erbe der Hegelschen Philosophie dominierte, ist dieser Diskurs nicht manichäisch, sondern dialektisch geführt worden. … Der Populismus kennt nicht die dialektische Denkfigur der Aufhebung."

    Alles klar? Priester formuliert alles andere als volksnah. Sie vertraut darauf, dass ihr Publikum Hegel und Weber verinnerlicht hat und Worte wie manichäisch nicht nachschlagen muss. Gemeinhin verwenden Intellektuelle das Adjektiv "populistisch" mit abschätzigem Unterton, das Wort Pöbel schwingt mit. Karin Priester vermeidet es dagegen, ihren Studienobjekten von oben herab die Existenzberechtigung abzusprechen. Im Schlusskapitel entwickelt sie ein Modell, das die zyklische Wiederkehr populistischer Bewegungen zeigen soll. Populisten kommen für sie dann zum Zuge, wenn sich Regierte und Regierende wie ein lustloses Ehepaar voneinander entfremdet haben. Oder, um es in der fachterminologischen Sprache der Autorin zu formulieren:

    "Ohne gravierende Fehler und Defizite der etablierten Politik in ihrer Reaktion auf Modernisierung gibt es keinen Populismus als Gegenreaktion. Populisten ernten nur dort, wo andere gesät und ein Vakuum der politischen Repräsentation haben entstehen lassen."

    Das Buch wirkt, trotz des systematischen Anspruchs, wenig systematisch gegliedert. Es gibt knackige Definitionen und anregende Überlegungen, aber eine Dramaturgie ist kaum erkennbar. Ein viel zitiertes Fachbuch zum Thema könnte "Rechter und Linker Populismus" trotzdem werden. In der Wissenschaft sind Chamäleon-Publikationen, die zwischen Aufsatzsammlung und Lehrbuch changieren, durchaus beliebt. Erst recht, wenn sich die Sprache einer ausgeprägten Fachtagungslandschaft optimal anpasst. Zugegeben, das war jetzt eine populistische Bemerkung.

    Karin Priester: Rechter und linker Populismus - Annäherung an ein Chamäleon.
    Campus Verlag, 252 Seiten, 29,90 Euro, ISBN: 978-3-593-39793-1