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Realexistierende Dichterliebe Ost-West

Natascha Wodin, Schriftstellerin aus Westdeutschland, und Wolfgang Hilbig, Dichter aus der DDR, waren ein Liebespaar. "Nachtgeschwister" greift diese realexistierende Seelenverwandschaft auf. Freilich ist dabei Hilbig nicht namentlich genannt - als Jakob Stumm aber spielt er in Wodins Roman die Hauptrolle, bis zu seinem - auch realen - Ende.

Vorgestellt von Ursula März | 03.05.2009
    Schlüsselroman ist nicht ganz der passende Begriff. Denn das Wort Entschlüsselung lässt darauf schließen, dass es eine gewisse Kraft braucht, etwas Verschlossenes, Verstecktes zu öffnen. Der Roman der 1945 geborenen Schriftstellerin Natascha Wodin mit dem Titel "Nachtgeschwister" gleicht indes eher einer angelehnten Tür, die sich schon auf den leichten Druck einer Fingerspitze hin sperrangelweit öffnet.

    So mühelos bietet sich die reale Geschichte, die hinter der literarischen ruht, dem Leser dar. Natascha Wodin erzählt von dem dramatischen, genauer gesagt: alptraumhaften Zusammenleben mit einem Schriftsteller namens Jakob Stumm. Sie entwirft ein Psychopathologramm eines sich, seinen Abgründen, seinem rücksichtlosen Schreibtisch ausgelieferten Dichters - und wer sich ein bisschen im deutschen Literaturbetrieb auskennt, weiß, dass es sich bei Jakob Stumm um keinen anderen als den verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Hilbig handelt. Er und Natascha Wodin wurden, nachdem Hilbig im Jahr 1986 mit einem befristeten Visum aus der DDR nach Westdeutschland gekommen war, ein Paar; ein Liebes- und Ehepaar. Sie lebten zunächst in Nürnberg, dann im pfälzischen Edenkoben, zuletzt am Prenzlauer Berg in Berlin. Dies eben sind, ohne besondere Verschlüsselung, auch die Stationen, an denen entlang sich die Romangeschichte des Romanpaares entwickelt.

    "Der Fernseher war die laterna magica, die ihn fast täglich für mehrere Stunden in ihren Bann zog. Er vergötterte Fellini, Visconti, Godard, Truffaut, aber eigentlich kannte er sie gar nicht. Ihn faszinierten Filme, die von Aliens handelten, von Killerbienen, von weißen Haien, von Vampiren, Zombies und anderen Spukerscheinungen. Alles Unheimliche, wie simpel und durchschaubar auch immer dargeboten, ergriff sofort Besitz von ihm, jeder noch so alberne Gruseleffekt tat bei ihm die beabsichtigte Wirkung, je einfältiger die Gestalt war, in der das Bedrohliche erschien, desto überzeugender wirkte es offenbar auf ihn, desto erregter und angstvoller reagierte er darauf. Manchmal sah er sich zwei oder drei solcher Filme hintereinander an, dafür war ihm Schreibzeit nicht zu schade. Auch ich konnte ihn mit einer x-beliebigen Kinderei in Angst und Schrecken versetzen, indem ich den schwarzen Mann mimte, ein Gespenst oder den Teufel mit Hörnern; er verstand, dass ich ihn zum Narren hielt und lachte, aber er war trotzdem machtlos gegen die Angst, er lief davon und versteckte sich hinter einem Möbelstück, die Ratio konnte bei ihm nichts ausrichten gegen das Gefühl. Alles im Leben schien für ihn unerklärlich und unlösbar zu sein, ohne Ursachen, ohne Zusammenhänge, alles war für ihn Rätsel und Magie. Buch für Buch wälzte er seine Biografie und schien sich immer nur noch tiefer hineinzuschreiben in die Finsternis seiner Figuren, in ihre Ohnmacht, in ihre Ausweglosigkeit, in ihre Rolle des Opfers vor der Macht, die er Staat nannte."

    So wird der Schriftsteller Jakob Stumm alias Wolfgang Hilbig aus der privaten Nahsicht der Erzählerin beschrieben. Mit Recht darf man annehmen, dass, von ein paar Details und Namen abgesehen, hier ein glatter Umzug der erlebten Realität in die Literatur stattfindet, bei dem das Transportgut zwar in neuen Räumlichkeiten, denen eines Prosawerks, ausgebreitet, aber in seiner charakteristischen Beschaffenheit nicht verändert wird. Nun liegt darin, im Fall dieses Romans, etwas Zwingendes. Käme Jakob Stumm im Jahr 1986 nicht aus Leipzig nach Nürnberg, sondern aus Kopenhagen, wäre er nicht alkoholkrank, sondern kokainsüchtig, wäre seine soziale Herkunft nicht die eines Arbeiters im Staat des realen Sozialismus und seine emotionale Herkunft nicht die eines Jungen, der fast die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens im Ehebett der ledigen Mutter schlief und unter dem Dach eines tyrannischen Großvaters verbrachte - dann liefe Natascha Wodins Buch zwar nicht so kerzengerade auf den Büchnerpreis-Träger Wolfgang Hilbig zu. Aber es wäre ein Buch, das seine thematische Intention verfehlt und an thematischer Reichweite einiges einbüßt. Ein Buch über eine Liebesgeschichte, wie es sie so oder ähnlich nicht gerade selten gibt, im Leben wie in der Literatur. Ein Buch über Absolutheit und Abhängigkeit, anrührende Zärtlichkeit und erschreckende Grobheit. Über Wahn und Zerstörungskraft einer Passion, die von der pathetischen Aura existenzieller Einzigartigkeit umgeben ist und sich den Liebenden als Unausweichlichkeit aufzwingt. Über Nächte ohne Schlaf, welchen wahlweise gierige Hingabe oder endloses Gezänk verhindert. Über die Normalität zweisamen Alltags und ihr Gegenteil: Eskalierte Zweisamkeit, die dermaßen in den Ausnahmezustand von Hysterie, emotionalem Terror und Katastrophenszenarien entgleitet, dass jeder normale Alltag so fern scheint wie der fernste Planet.

    "Etwa vier Wochen nach meiner Flucht aus G. bekam ich einen Anruf von Jakobs Lektor, den ich einmal flüchtig kennengelernt hatte. Er machte sich Sorgen, weil Jakob nicht mehr zu erreichen war, seit fast drei Wochen nahm er das Telefon nicht mehr ab und war auch zu einem seit Längerem vereinbarten Termin im Verlag nicht erschienen. Es war mir völlig gleichgültig, wo Jakob abgeblieben war, ich sagte dem Lektor, dass ich meine Beziehung zu ihm abgebrochen hätte und nichts mehr über ihn wüsste. Ein paar Tage später erhielt ich erneut einen Anruf, diesmal von einem Literaturkritiker, der sehr viel von Jakob hielt und Näheres von mir darüber erfahren wollte, wann, wo und unter welchen Umständen ich Jakob zum letzten Mal gesehen hätte. Er teilte mir mit, dass die Polizei seine Wohnung aufgebrochen hatte, auf dem Küchentisch hatte, neben dem Stapel meiner Briefe, ein Zettel gelegen, auf dem mit Jakobs Handschrift stand: Heute ist mein Geburtstag. Wie soll ich mich töten? Da das Wasser in Jakobs Gedichten eine große Rolle spielt, hatte der Literaturkritiker der Polizei empfohlen, für alle Fälle die umliegenden Gewässer abzusuchen, was inzwischen ohne Erfolg geschehen war. Die Polizei hatte meine Briefe beschlagnahmt und würde sich wahrscheinlich noch an mich wenden."

    Im Klima solcher Episoden ist die Liebesthematik des Roman angesiedelt. Seinen literarischen Sinn aber, seine Besonderheit, seine gesamte Würze verdankt er zwei speziellen erzählerischen Vorraussetzungen: der Zeitgeschichte zum einen, denn mit Jakob Stumms orientierungs- und heimatlosem Torkeln zwischen Ost und West nehmen die Probleme des Paares ihren Anfang. Und dem Wesen der Künstlerschaft zum anderen. "Nachtgeschwister" erzählt von der Liebe zweier Schriftsteller aus den beiden Teilen Deutschlands. Ins Ärztemilieu der 90er-Jahre verpflanzt, wäre der Roman womöglich der reine Hassliebekitsch. Hier aber liegen die Dinge etwas komplizierter. Denn es gibt, abgesehen davon, dass die westdeutsche Autorin und Jakob Stumm zu Beginn des Verhältnisses in Leipzig beziehungsweise in Nürnberg an andere Partner gebunden sind, eine Dritte im Bunde. Dies ist die Literatur, genau gesagt, Jakob Stumms Lyrik.
    Sie, die Lyrik, steht am Anfang der Geschichte. Sie wirkt als Auslöser, wie eine zufällig in der Zeitung gefundene Kontaktanzeige. Mitte der 80er-Jahre erwirbt die Ich-Erzählerin den Gedichtband eines ihr unbekannten Autors. Sie hat den Namen Jakob Stumm nie gehört, aus dem Klappentext ist zu erfahren, dass er in der DDR lebt. Mehr weiß sie nicht. Sie schlägt das Büchlein auf, beginnt zu lesen und steht in Flammen. Ein coup de foudre. Die Stimme, die aus den Gedichten spricht, ist der Pfeil, der auf den Kern ihrer Gefühlswelt, ihrer Bewusstseinswelt, ja ihrer ganzen Existenz, zielt.

    "Schon von den ersten Zeilen, auf die mein Blick gestoßen war, ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit, eine Wucht, dass ich zurückprallte und mich buchstäblich an der Tischkante festhalten musste, um nicht vom Stuhl zu fallen. Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat. Von diesem Moment an war nichts mehr so, wie es eben noch gewesen war, in einem einzigen Augenblick hatte sich die Welt für mich verändert, weil es jetzt in ihr diese Stimme gab, die Stimme aus diesem halb verwitterten Bändchen mit Gedichten, die Stimme irgendeines sang- und klanglosen Jakob Stumm."

    Sie schreibt dem Unbekannten, sie ruft ihn immer wieder an und legt sofort auf, wenn er sich mit einem seltsam gepressten, gekrächzten Laut, der als sein Nachname kaum verstehbar ist, am Telefon meldet. Plötzlich schreibt er zurück. Plötzlich ist er da, steht leibhaftig am Nürnberger Hauptbahnhof, bleibt über Nacht und am nächsten Morgen für ganz, nimmt Wohnung und Leben der Schriftstellerin in Besitz.

    "Der Zug fuhr langsam, mit kreischenden Bremsen in den Bahnhof ein, und ich sah ihn sofort. Er war seinem Foto nicht sehr ähnlich, aber ich hatte ihn auf den ersten Blick erkannt. Er stand hinter einer erleuchteten Türscheibe, bereit zum Aussteigen, mit dem Riemen einer unsichtbaren Tasche über der Schulter. Ich sah ihn im Licht ohne selbst von ihm gesehen zu werden auf dem dunklen Bahnsteig. Er schien von nicht sehr großer, gedrungener Statur zu sein, seine Schultern waren nicht ganz so wuchtig wie auf dem Foto, statt des wild gelockten Haars, das auf dem Foto zu sehen war, fielen farblose, ranzig aussehende Strähnen auf den Kragen seiner khakifarbenen Jacke. In der künstlichen Zugbeleuchtung wirkte seine Gesichtshaut grünlich, ich glaubte, etwas Argwöhnisches, Lauerndes in seinen Augen zu erkennen, die nicht nach außen, sondern in sich selbst hineinzusehen schienen. Er wurde mir ohne sein Wissen gezeigt, vorgeführt wie in einem erleuchteten Schaufenster, das langsam an mir vorbeifuhr, damit ich wählen, annehmen oder ablehnen konnte, solange noch Zeit dafür war. Noch einmal entfernte er sich in dem langsam ausrollenden Zug, ich spürte mit jeder Phase meines Körpers die Gefahr, das Unheil, das auf mich zukam, ich sah mich davon stürzen, untertauchen in die Unterführung und für immer verschwinden, aber es war schon zu spät. Er war bereits ausgestiegen und kam zielstrebig auf mich zu, obwohl er mich doch gar nicht kannte, und es war ein ganz anderer Mann als der, den ich eben noch hinter der Zugscheibe gesehen hatte. Dieser hatte ein offenherziges, erwartungsvolles Lächeln im Gesicht, aus ihm strahlte die Vertrauensseligkeit eines Kindes; ich bemerkte seine auffallend klaren blauen Augen, deren Farbe mich an Kornblumen erinnerte, mit federnden, ein wenig hüpfenden Schritten näherte er sich mir, etwas verlegen, aus der Hüfte heraus, reichte er mir die Hand: Tach, sagte er, endlich sieht man sich."

    Die Faszination ist gegenseitig. Was den DDR-Dichter an der westdeutschen Kollegin anzieht, ist unter anderem ihre russische Herkunft. Über diese, über Natascha Wodins Biografie, sind die Leser ihrer seit 1983 erschienenen Romane und Erzählungen im Bilde. Wodin wurde 1945 in einem Barackenlager bei Fürth als Tochter russisch-ukrainischer Emigranten geboren, sie wuchs als ausgegrenztes, deklassiertes "Russenkind" in Nachkriegsdeutschland auf. Das Trauma der Fremdheit und die Furcht vor den Attacken der Umwelt sind die psychologische Maserung ihres Schreibens. In der Verletztheit der Außenseiter erkennen sich die "Nachtgeschwister" auf Anhieb als Schicksalsgefährten und Seelenverwandte wieder. Eben so, mit diesen Begriffen, hat Wolfgang Hilbig in seinem Roman "Provisorium" über die Liebesgeschichte mit einer westdeutschen Kollegin geschrieben, die unschwer als Natascha Wodin zu erkennen war. In Hilbigs im Jahr 2000 erschienenem Buch heißt sie Hedda Rast. "Das Provisorium" rekapituliert Hilbigs Lebensepoche nach 1986, als er im Alkohol, im schieren Lebensdämmer, im Herumirren zwischen Städten, Frauen, Absturz- und Rotlichtkneipen versank. Ein komisches Selbstporträt des Dichters als Ostwestpenner. Wer will, kann nun beide Romane, "Nachtgeschwister" und "Provisorium" nebeneinander legen und vergleichen, wie das Paar Stumm/Rast alias Hilbig/Wodin seine erste sexuelle Begegnung aus jeweils männlicher und weiblicher Sicht literarisiert. Nein, Natascha Wodin bedient den Voyeurismus nicht. Sie schreibt nicht aus der Position der gekränkten, von einem Dichtermonstrum aufgeriebenen Frau, die sich Genugtuung verschafft. Sie ist nicht auf Bloßstellung aus. Sondern auf Klarstellung. Mit seiner ganzen Vehemenz des Verstehenwollens ist ihr Roman ein analytischer, fast psychoanalytischer Versuch, das Rätsel der dichterischen Persönlichkeit zu lösen. Eine Antwort zu finden auf die Frage, wie es sein kann, dass in ein und demselben Menschen ein mit Sprache und Empfindungsfähigkeit Begnadeter steckt und ein halber Psychopath. Ein Mann, der die Impotenz so fürchtet, dass sie eintritt, der sich zu Tode raucht und trinkt, despotisch und infantil verunsichert zugleich ist, vor gegenstandsloser Eifersucht die Wände hochgeht und dabei heimlich erotische Korrespondenzen mit allen möglichen Frauen führt, tagelang im Nachthemd der Geliebten durch die Wohnung schlurft und sich dabei wohler fühlt als in jeder Herrenkleidung. Und im Grunde immer nur das Eine will, was er schon bei seiner Mutter machte: nachts am Küchentisch einer Frau sitzen und schreiben, am Tage dafür schlafen und sich den Rest der Welt vom Hals halten.

    "Er war, wie ich inzwischen wusste, kaum je hinausgekommen aus Leipzig, ihm war nie etwas anderes zu Ohren gekommen als die Sprache der sächsischen Arbeiter, vermischt mit den wüsten Flüchen seines polnischen Großvaters, der der Schrift nicht mächtig war. Jakob war der Sprachlose geworden, der er in dieser Umgebung zwangsweise hatte werden müssen, aber woher kamen seine Gedichte? Noch nie war ich einer so unerhörten Diskrepanz zwischen der Person eines Autors und seinem Werk begegnet. Wer lag neben mir auf dem Bett? Der Dichter oder der Sprachlose oder beide gleichzeitig oder keiner von beiden? Ich spürte in mir selbst eine ungeheure Diskrepanz. Ein Teil von mir verging vor Zärtlichkeit und Liebe für Jakob, der andere empfand nur Grauen vor dem finsteren, martialisch schnarchenden Fremden auf dem Bett, der neben mir seinen Rausch ausschlief."

    Dies ist das Bild des Mannes Jakob Stumm in Natascha Wodins Erzählung. Und dies ist zugleich Wolfgang Hilbig, über den hier einiges zu erfahren ist, was wir noch nicht wussten. Aber wissen wollen? Wissen müssen? Im Sinn der literarischen Notwendigkeit, die sich aus Intention des Romans ergibt, ja. Aber im Sinn des Intimitätsschutzes der öffentlichen Person Wolfgang Hilbig? Einmal abgesehen, ob "Nachtgeschwister" ein gutes Buch ist, und wenn, in welcher Weise - es ist ganz gut, dass das Buch existiert. Es entzieht der Debatte um Kunstfreiheit versus Persönlichkeitsschutz, an deren Konfliktlinie sich vor ein paar Jahren Maxim Biller und Alban Nicolai Herbst vor Gericht wiederfanden, den unterschwelligen Machismoverdacht. Das moralische Problem, das aus Literatur hervorgeht, die auf so wiedererkennbare Weise die private Realität realer Menschen in Erzählstoff verwandelt, kommt natürlich auf Schriftsteller beiderlei Geschlechts zu. Natascha Wodin gibt über Wolfgang Hilbig nicht weniger preis, als Biller und Herbst über ihre Exfreundinnen - die allerdings noch leben. Hilbig nicht. Dies ist ein kategorialer Unterschied. Nicht nur, weil ein Toter sich nicht mehr beleidigt, instrumentalisiert, verunglimpft fühlen kann, sondern weil es die reale Person, die dem Schlüsselroman als Vorbild dient, nicht mehr gibt, sich folglich die Realität bereits in Erinnerung, in ein Gebilde der Vorstellung verwandelt hat.

    "Von seinem Tod erfuhr ich aus dem Fernsehen. Es war ein warmer Frühlingstag, ich war mit meiner Freundin Olga an den Summter See gefahren und kam abends mit einem Arm voll Flieder zurück. In dem Porträt, das von Jakob gezeigt wurde, sah ich ihn in der Küche meiner Wohnung in Nürnberg, auf der rosenüberwucherten Veranda unseres Häuschen in den Weinhügeln, vor dem Haus seiner Mutter in Leipzig. Zuletzt in seiner neuen Wohnung in Berlin. Aber das war nicht mehr Jakob. Ich sah einen alten Mann im letzten Stadium der Verwahrlosung. Er war sichtlich betrunken, brachte nur noch ein paar krächzende, kichernde Laute hervor und schnitt vielsagende Grimassen in die Kamera. Vielleicht, so dachte ich später oft, war unsere gemeinsame Zeit nur eine Rast, ein Aufschub des Untergangs gewesen, in dem er sich schon damals befand, als wir uns trafen, als er mich am Telefon auf eine Tasse Kaffee ins Bahnhofsrestaurant einlud. Vielleicht, so dachte ich, hatte er den Untergang der DDR nicht überlebt. Geblieben ist mir am Ende, was am Anfang war: seine Gedichte. Der kleine, inzwischen schon halb verwitterte Band, mit dem alles begonnen hat. Auf der Rückseite sein Foto. Der Cherub mit dem Heiligenschein und dem verriegelten Gesicht."

    Natascha Wodins Buch besticht durch seine präzise, elastische und bewegliche Sprache. Sie besitzt Bildlichkeit und Erkenntniskraft in gleichem Maß und bewegt sich zwischen Beschreibung und Deutung. Das hohe Lied, das Wodin hier auf die Macht der Dichtung singt, ist ein wenig zu hoch, ein wenig zu nah am Kunstreligiösen. Zugleich ist "Nachtgeschwister" dem Wesen nach klassische Aufarbeitungsliteratur. Unübersehbar dient diese Prosa der endgültigen Überwindung einer auf einen Mann fast krankhaft fixierten Lebensphase. Unübersehbar ergibt sich aus eben dieser Fixierung die Schwäche des Romans, seine Einseitigkeit. Die ungeheure Insistenz, mit der Natascha Wodin das Rätsel des Dichtermonstrums bekniet, hätte man gern auf die Frage angewandt gesehen, warum eine Schriftstellerin es mit dem Monstrum fast ein Jahrzehnt aushielt. Die Antwort wäre vielleicht tyrannische Leidensfähigkeit. Sie eignete sich in womöglich beiden: Jakob Stumm und Hedda Rast alias Wolfgang Hilbig und Natascha Wodin.

    Natascha Wodin: "Nachtgeschwister". Roman.
    Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 234 Seiten. 19,90 Euro.