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Realistisch und schlüssig

Jo Nesbo gilt als der derzeit erfolgreichste norwegische Krimiautor. Seit 2004 werden seine Bücher ins Deutsche übersetzt. Seitdem erobert er die hiesigen Bestsellerlisten: zu Recht. Er versteht es, mit Schicksalen zu spielen, die Leser in den Bann seiner Geschichten zu ziehen. In seinem siebten Krimi "Der Erlöser" spiegelt sich ein aktueller politischer Konflikt in menschlichen Tragödien wider.

Von Ingrid Müller-Münch | 23.10.2007
    Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, bis er nur noch wenige Meter vor dem Mann entfernt stand. Dann vergewisserte er sich, dass ihm niemand den Rückzug versperren konnte. Vor ihm standen zwei Teenagermädchen, die ihren weißen Kaugummiatem in die Kälte bliesen. Sie waren kleiner als er. Er dachte an nichts Besonderes, übereilte nichts. Tat nur, wozu er gekommen war, ohne große Umstände: Er nahm die Pistole auf dem Halfter und streckte den Arm vor.

    Selbstverständlich fällt nun ein Schuss in "Der Erlöser", dem Krimihit dieses Herbstes. Der Tote ist ein Offizier der norwegischen Heilsarmee, der Mörder ein kroatischer Auftragskiller.

    Dann kam Bewegung in die Menschenmenge, die Leute traten zur Seite und eine Frau kämpfte sich vor.
    "Robert!"
    Ihre Stimme war rau und heiser. Sie war blass und trug eine dünne schwarze Lederjacke mit Löchern an den Ellenbogen. Sie taumelte zu dem leblosen Mann und fiel neben ihm auf die Knie. "Robert!"
    Sie legte einen dünnen Finger an seinen Hals. Dann zeigte sie zitternd auf die Band.
    "Hört auf, verdammt noch mal!"
    Die Musiker verstummten, einer nach dem anderen.
    "Der Junge stirbt! Holt den Arzt! Schnell!"


    Damit beginnt "Der Erlöser", der neueste von inzwischen sieben auf deutsch erschienenen Krimis des norwegischen Autors Jo Nesbo. Wieder einmal eine wunderbar verschachtelte Geschichte, mit einem sich hinreißend schlüssig auflösenden Plot. Von der ersten bis zur letzten der über 500 Seiten ist dieses Buch kaum aus der Hand zu legen. Geschrieben von einem Autor, der es liebt, aktuelle politische Konflikte in menschlichen Tragödien wiederzuspiegeln. Diesmal geht es um einen Auftragskiller, einen Kroaten namens Stankic.

    "In "Der Erlöser" ist Stankic einer Person nachempfunden, die ich vor einigen Jahren getroffen habe. Damals berichtete ich über Krieg in Jugoslawien. Dieser Militär, den ich in Zagreb, in Kroatien getroffen habe, war ein Kriegsheld geworden. Und zwar wegen seiner Heldentaten anlässlich eines Angriffs der Serben auf das kleine kroatische an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien liegende Dorf Vokobar. Die meisten Geschichten, die ich in "Der Erlöser" über ihn und sein Leben erzähle, hat mir dieser Mann damals geschildert. So die Geschichte von dem kleinem Jungen, der sich in den Bombenkratern versteckte, und morgens, als die serbischen Panzer auf Vokovar zurollten, aufsprang und eine Landmine an die Panzerwagen heftete, zurücksprang und hoffte, die Mine würde explodieren, ohne dass er selbst dabei mit in die Luft gesprengt würde. "

    So realistisch, wie Jo Nesbo diesen Stankic schildert, glaubt man ihm gerne, dass er eine solch lebendige Figur als Vorbild hat, ja, dass sich "Der Erlöser" aus der Realität speist:

    "All diese Schilderungen sind nicht nur Fiktion. Es ist wiedergegebene Realität. Ich entschloss mich, aus diesem Mann in meinem Roman einen Auftragskiller zu machen. Denn während ich damals in dem Zagreber Hotel das Interview mit ihm machte, kam einer seiner ehemaligen Nachbarn zu uns, mit dem Foto eines Serben in der Hand. Den hatte er soeben in einem Zagreber Café gesehen und meinte nun aufgebracht: Der war doch in Vokovar unser Nachbar, hat sich aber auf die Seite der Besatzer, der Serben geschlagen! Der war ein böser Mensch! Was sollen wir nun mit ihm anstellen?
    Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben. Aber das hat mich auf die Idee gebracht, aus dem Jungen einen Auftragskiller zu machen, sozusagen als Rache für das, was in Vokovar passiert ist. Einen Killer, der zunächst Serben tötet, später dann seine Aktivitäten auf ganz Europa ausweitet. "

    Gejagt wird dieser Killer mit der schrecklichen Vergangenheit von Harry Hole, Hauptkommissar der Osloer Kripo, einem Mann mit einem massiven Alkoholproblem.

    "Ich habe mich schon früh dafür entschieden, dass Harry Hole so etwas wie eine Achilles Ferse hat. Bei ihm ist es der Alkohol. Das hat nichts mit dem Klischee des durstigen amerikanischen Detektivs zu tun, der morgens einen Kater hat und den mit coolen Sprüchen überspielt. Bei Harry ist die Alkoholabhängigkeit eine Krankheit. Sobald er trinkt, kann er nicht mehr arbeiten. In vielen Bereichen ist er ein gemeiner Hund. Er ist rachsüchtig. Die dunklen Seiten des Lebens ziehen ihn an. Auf eine gewisse Art spiegelt er den Typen wieder, den er verfolgt, den er jagt. Der Verbrecher ist eine Art Kontrapart von ihm selbst. Genau deshalb ist er für mich als Schriftsteller eine so interessante Figur. Er ist nicht nur gut, er ist beides, gut und böse. "

    In "Der Erlöser" hat sich Harry Hole angewöhnt, stets einen kleinen Flachmann in der Innentasche seines Jacketts zu verstecken. Eines Tages rettet ihn dieser Flachmann, als er auf einem verlassenen Hafengelände von einem monströsen Hund angefallen wird. Der drückt ihn gegen einen Zaun, hat sich in seiner Wade verbissen, und alles sieht so aus, als hätte Harry Holes letzte Stunde geschlagen. Doch dann kommt der Flachmann ins Spiel.

    Mit letzter Kraft bekam Harry die Hand in die Innentasche und zog die kleine Metallflasche heraus. Er biss mit den Zähnen auf die Metallkappe und drehte. Der Verschluss öffnete sich und der Alkohol rann ihm in die Mundhöhle. Er fuhr wie ein Stoß durch seinen Körper. Mein Gott. Er presste sein Gesicht gegen den Zaun, wobei seine Augenlider zugedrückt wurden und die weit entfernten Lichter des Plaza und des Opera Hotels sich zu weißen Strichen im Schwarz zusammenzogen. Mit der rechten Hand hielt er den Flachmann über den roten Rachen des Hundes. Dann spuckte er Schraubverschluss und Alkohol aus, murmelte "Prost" und drehte die Flasche um. Zwei lange Sekunden starrten ihn die schwarzen Hundeaugen voller Verwirrung an, während die braune Flüssigkeit glucksend über Harrys Bein in den geöffneten Rachen floss. Dann ließ das Tier los.

    Jo Nesbo gilt als der derzeit erfolgreichste norwegische Krimiautor. Seit 2004 werden seine Bücher ins Deutsche übersetzt. Seitdem erobert er die hiesigen Bestsellerlisten, zu Recht. Denn wie nur wenige seiner Kollegen versteht er es, mit Schicksalen zu spielen, die Leser in den Bann seiner Geschichten zu ziehen. In "Der Erlöser" zum Beispiel fasziniert vor allem das Wettrennen zwischen Harry Hole und Stankic, dem Auftragskiller. Ein Rennen, bei dem sich zu guter letzt herausstellt, dass daran mehrere beteiligt waren: als Stolpersteine, als Fährtenverwischer, als Mithandelnde und Sand-in-die-Augen-Streuende. Und sie alle bekommen ihren Platz und ihre Bedeutung:

    "Das Hauptinteresse an einer Geschichte ist doch nicht, ob man den Mörder findet. Man glaubt leicht, dass es das ist, wofür man sich interessiert. Ich glaube allerdings, dass das eigentlich Interessante die Frage ist: welchen Weg wird der Protagonist einschlagen. Oftmals hat ja die Hauptfigur in klassischen Dramen ein moralisches Dilemma, muss sich entscheiden. Und genau diese Entscheidung macht die Sache interessant. Du fühlst mit dieser Hauptfigur. Hoffst, dass sie die richtige Entscheidung trifft. Und oft weißt du selbst nicht genau, was die richtige Entscheidung denn nun wäre. Meine Aufgabe besteht darin, Harry Hole vor moralische Konflikte zu stellen, bei denen es nicht so leicht ist zu entscheiden, was ist nun richtig und was ist falsch. "

    Jo Nesbo ist leicht als geradezu besessener Schreiber auszumachen.

    "Ich reise immer mit meinem Laptop. Ich sitze in Hotellobbies, wie hier gerade, wo sie mich getroffen haben. Auf Flughäfen, in Zügen. Ich schreibe am liebsten umgeben von Menschen, von Lärm und Bewegung. Morgens, sobald ich aufwache, bildet sich in meinem Kopf die Geschichte. In diesem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. In mir findet dann eine Art Brainstorming statt. Dann steh ich auf, trink einen Kaffee, mache mir Notizen. Und wenig später, sobald sich ein Ideenbündel herausbildet, beginne ich mit der Arbeit an meiner Geschichte, meinem Plot. Dafür benötige ich ein Jahr, schreibe den Plot immer wieder neu. Wenn ich mich dann irgendwann hinsetze und mit Kapitel 1 beginne, kenn ich die Geschichte, die ich erzählen will, ganz genau. "

    Deshalb stört ihn auch kein Lärm mehr, kein Herumgewusel, wie kürzlich in einer Kölner Hotellobby, in der er konzentriert vor seinem Laptop saß und an seinem neuen Harry Hole-Krimi schrieb. Vor sich einen Teller gehäuft mit Pommes-Frites und Junkfood. Dabei wirkte er durchtrainiert, kam gerade von einem Tennismatch, entspannt, zufrieden und ein klein wenig verschmitzt. Wie jemand, dem gerade wieder eine besonders boshafte, eine besonders gelungene Wendung in seinem nächsten Krimi eingefallen ist.