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Rebellion als Programm

Am 4. Januar 1947 erschien die erste Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", gedruckt im hannoverschen Verlag "Land und Garten", herausgegeben von Rudolf Augstein. Das Widerständige, Rebellische wurde dem Magazin quasi in die Wiege gelegt. Und es hat sich über Jahrzehnte erhalten.

Von Jochen Stöckmann | 04.01.2007
    Der junge Mann, den die britische Besatzungsmacht Ende 1946 mit der Redaktion einer Wochenzeitschrift betraut, bereitet seinen Kontrolloffizieren einigen Kummer. Rudolf Augstein, knapp 23 Jahre alt und als Leutnant der Wehrmacht eben aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, schart in Hannover ein Dutzend junger Leute um sich und nimmt die Reeducation, die Umerziehung der Deutschen zu Demokraten allzu wörtlich. Nach dem Vorbild angelsächsischer Newsmagazine bringt das neue Blatt mit dem Titel "Diese Woche" statt der gewohnten Leitartikel objektive Nachrichten, die Augsteins Crew in brisante Stories, in aufrüttelnde Geschichten einbettet. Da ist etwa zu lesen, dass Bergarbeiter im Ruhrgebiet von 400 Kalorien leben müssten, das sei die "Hälfte der KZ-Rationen von Bergen-Belsen". Die "Annexionen und Vertreibungen" der Siegermächte, so heißt es, geschähen "im Geiste Hitlers", gegen alle demokratischen Regeln. Leo Brawand, Augsteins journalistischer Weggefährte der ersten Stunde, schildert die Folgen:

    "Das hat natürlich Ärger gegeben. Aber, man muss auch sagen: Das hat er sehr geschickt gemacht. Er hatte hier nämlich nur einen englischen Abgeordneten zitiert, nämlich Victor Gollancz, der sehr deutschfreundlich war und der das im Unterhaus gesagt hat."

    In einem Blatt, das laut Impressum die britischen Kontrollbehörden selbst herausgeben, mag die Besatzungsmacht solche Frechheiten nicht dulden.

    "Augsteins politische Attacken haben dann dazu geführt, dass innerhalb ganz kurzer Zeit es hieß: Entweder das Blatt wird eingestellt, oder aber es erscheint unter neuem Namen und mit einem neuen Herausgeber - und das war dann mit einer vorläufigen Lizenz Rudolf Augstein."

    Am 4. Januar 1947 erscheint mit einer Auflage von 15.000 Exemplaren die erste Nummer des "Spiegels". Von Anfang an arbeiten alle Journalisten im Team, verzichten auf namentliche Zeichnung einzelner Artikel. Auch der Herausgeber bleibt anfangs eher unauffällig. Das zeigt sich 1952, als Rudolf Augstein nach dem Umzug des "Spiegels" nach Hamburg seinen Antrittsbesuch in der benachbarten Redaktion der "Zeit" macht, bei Marion Gräfin Dönhoff:

    "Er sah so bieder aus. Ich erinnere mich noch, dass ich zu einem Kollegen am nächsten Tag sagte: 'Also, ob der das schafft, diesen 'Spiegel' zu machen?' Er kam mir vor wie so ein Abgesandter des Handlungsgehilfenvereins."

    Der Publizist Augstein jedoch gewinnt rasch Profil. Auch innerhalb der eigenen Redaktion dominiert der Herausgeber, schränkt seinen Einfluss 1974 allerdings selbst ein, als er den Mitarbeitern 49,5 Prozent der Unternehmensanteile übereignet. Das war der Lohn der fetten Jahre. Durch die Liaison mit dem kommerziell versierten Verleger John Jahr war die "Spiegel"-Story zu einer der größten Erfolgsgeschichten geraten in jenem Wirtschaftswunderland, dessen politischen Konsens Augstein nie akzeptieren wollte, dessen Kritik er als Pflicht des Journalisten ansah. So bedauerte er noch in den 80er Jahren:

    "Wenn ich das Material über Dr. Konrad Adenauers finanzielle Verflechtungen zur Zeit der Weimarer Republik, wenn ich das 1948 veröffentlicht hätte - damals hatte ich es noch nicht -, dann wäre er nicht Kanzler geworden."

    Dafür aber deckt der "Spiegel" viele andere Skandale auf. Im Herbst 1962 erscheint der Titel "Bedingt abwehrbereit", die Zusammenfassung einer geheimen NATO-Studie über den Zustand der Bundeswehr. Für Bundeskanzler Adenauer die Gelegenheit, gegen die gehasste "Spiegel"-Journaille zu Felde zu ziehen:

    "Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande!"

    Auf Betreiben von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß werden die Redaktionsräume des "Spiegels" durchsucht, der Redakteur Conrad Ahlers und Herausgeber Rudolf Augstein festgenommen. Leo Brawand erinnert sich an die "Spiegel"-Affäre:

    "Dass die Redaktion und die Verfasser - also Conrad Ahlers zum Beispiel - nicht mit dieser brutalen Reaktion gerechnet haben. Augstein möglicherweise: ja. Und zwar sogar fast, wie ich vermute, kalkuliert, denn er war ein Mann, der ja diese Auseinandersetzung und den Kampf wollte."

    Länger als ein viertel Jahr sitzt Augstein in Haft. Der wirtschaftliche Zusammenbruch droht. Doch dann wird das Verfahren gegen Ahlers und Augstein eingestellt. Franz Josef Strauß muss von seinem Ministeramt zurücktreten, der "Spiegel" aber - von Augstein "Sturmgeschütz der Demokratie" genannt - ist endgültig zur Institution geworden.