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Recht praktisch

Das Recht der Scharia gelte in Deutschland nicht, hatte Kanzlerin Angela Merkel behauptet. Die Praxis aber sieht anders aus. Das islamische Recht spielt im deutschen Justizsystem wohl eine Rolle. Die Zahl der Fälle ist aber extrem klein.

Von Melanie Longerich | 14.10.2010
    Sitzungstag für Joachim Lüblinghoff. Doch derzeit ist es leer auf den langen Fluren des Oberlandesgerichts Hamm. Ferienzeit. Während der Leiter des Familiensenats die Tür zum Verhandlungsraum aufschließt, hebt er müde die Schultern, wenn er an die Äußerungen der Bundeskanzlerin denkt. Das Recht der Scharia gelte in Deutschland nicht, hatte die behauptet. Die Praxis aber sieht anders aus. Seit vielen Jahrzehnten.

    "Dass wir die Scharia nicht mehr anwenden, würde bedeuten, dass man sich mit vielen, vielen vielleicht hundert Staaten, vielleicht mehr, in Verbindung setzen müsste, Übereinkommen müssten gekündigt werden. Das ist ein Vorhaben, das ist kaum denkbar wenn nicht unmöglich."

    Joachim Lüblinghoff öffnet die Tür. Der Verhandlungssaal ist lichtdurchflutet. Werden hier deutsche Gesetze bald nicht mehr gelten, sondern die Scharia? Das kritisieren zumindest derzeit diejenigen, die eine zunehmende Islamisierung fürchten. Lüblinghoffs Miene bleibt entspannt:

    "Unter Kollegen ist die Anwendung des Rechtes der islamischen Staaten kein besonderes Thema in Bezug auf die jetzt stattfindende Diskussion."

    Statt nur vor den Folgen zu warnen, geht Lüblinghoff in der Diskussion völlig unter, dass sich deutsche Richter durchaus bewusst sind, welche Verantwortung sie tragen:

    "Dass dies eine juristische Höchstleistung ist, dieses Rechtssystem richtig zu verstehen, richtig auszulegen und richtig anzuwenden."

    Damit er das kann, hat der Familienrichter in seinem Büro ein ganzes Regal voller Gesetzbücher ausländischer Staaten gehortet. Auf Deutsch übersetzt.

    Wenn er und seine Kollegen einmal nicht weiter wissen, können sie auf den Rat Sachverständiger vertrauen. Einer von ihnen ist Hilmar Krüger. Der 72-jährige Professor für ausländisches Privatrecht an der Uni Köln ist spezialisiert auf den Nahen und Mittleren Osten, spricht arabisch, persisch und türkisch:

    "Frau Doktor Merkel versteht hier offensichtlich die Sache vollkommen falsch",

    kritisiert der Rechtswissenschaftler. Immerhin gehe es nicht darum, die Steinigung einzuführen, sondern vor allem um Entscheidungen rund um Ehe und Erbe. Doch wird damit nicht trotzdem die deutsche Justiz unterwandert? Spielen solche Urteile nicht den Islam-Fundamentalisten in die Hände? Professor Krüger kann diese Bedenken nicht mehr hören. Das sei keine Bedrohung, vielmehr gutes altes deutsches Recht seit 1896. Seitdem regelt das Internationale Privatrecht die Behandlung von Ausländern:

    "Wir sagen seit Alters her - wie viele andere Staaten auch - gehen Sie nach Thailand im Osten oder Kolumbien im Westen, wird angewandt das Recht des Staates, dem die Parteien angehören. Und das ist eine Sache, die bislang in Deutschland völlig unstrittig ist."

    Gemäß diesem Kriterium gilt beispielsweise bei einem Paar aus dem Libanon in Deutschland das libanesische Scheidungsrecht. Für Krüger unbedenklich. Solange das nicht gegen den sogenannten ordre public verstoße - und damit gegen Grundsätze deutscher Rechtsordnung. Wenn das der Fall ist, gilt alleinig deutsches Recht, sagt Krüger:

    "Der größte Teil der Scharia ist Privatrecht. Also Zivilrecht, Handelsrecht - auch Prozessrecht. Strafrecht ist nur ein relativ geringer Teil. Nur der ist spektakulär. Wenn man eine Frau steinigt - da hört irgendwo die Gemütlichkeit auf, um es ganz salopp zu formulieren."

    Außerdem ist die Zahl der Fälle extrem klein, in der die Scharia eine Rolle spielt. Etwa 250 Mal im Jahr spricht Lüblinghoff Recht. Bei Scheidungen, Unterhaltsstreitigkeiten, Sorgerecht. Bei etwa einem Prozent der Fälle spielt die Scharia eine Rolle. Mehr nicht.

    Und gerade bei Unterhaltsstreitigkeiten könne das durchaus Vorteile haben, zumindest für Frauen. Neben dem Streit um die Morgengabe beobachtet er dies im seltenen Fall der Polygamie:

    "Nicht nur für die beiden Eheleute selbst, sondern auch bei der Frage, wenn gemeinsame Kinder da sind, wenn Unterhaltspflichten bestehen, sind dann in diesem Fall beide ehemaligen Ehefrauen - angenommen, sie haben einen gut verdienenden Ehemann - sind beide Frauen unterhaltsberechtigt. Falls man es so machen würde, dass man von vorne herein diese Rechtsordnung verwerfen würde, würde man beiden Frauen nicht die Möglichkeit geben, ihre berechtigten Unterhaltsansprüche durchzusetzen."