Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Recht und Moral

Corneliu Porumboius Film handelt von ungerechtem Recht und unerreichter Gerechtigkeit im Rumänien nach der Diktatur. In Cannes wurde "Police, adjective" mit dem Jury-Preis in der Reihe "Un certain Regard" prämiert.

Von Rüdiger Suchsland | 08.01.2012
    Ein junger Mann verlässt morgens ein Haus. Ein anderer, etwas älterer nimmt die Verfolgung auf. Dass der eine den anderen verfolgt, ist sofort erkennbar durch dessen Blicke, dadurch, wie er sich im Hintergrund hält, nahe an den Wänden und Hauseingängen, wie er sein Tempo dem des Vordermanns anpasst, mal verlangsamt, dann wieder beschleunigt. So gehen sie, minutenlang hintereinander durch die Straßen einer kargen Vorortgegend. Das einzig Bunte hier sind eine Rumänien-Flagge und eine Flagge der EU am Eingang der Schule, in deren Tür der verfolgte junge Mann verschwindet.

    Die Kamera zeigt auch später selten den Himmel, bleibt nahe am Boden auf Augenhöhe. Kein Dialogsatz fällt in diesen ersten fünf, sechs Minuten; zu erleben ist ein Kino der Blicke: Man sieht einem Menschen dabei zu, wie er einen anderen beobachtet. Indem wir ihn begleiten, identifizieren wir uns mit ihm.

    Dies ist, gleich zu Anfang des Films, eine Urszene des Kinos: Verfolgungsjagd, Bewegung, Action - hier aber unter der Decke der Alltäglichkeit. Die beiden, Verfolger und Verfolgter, und zugleich der unsichtbare Dritte im Bunde, die Kamera des Regisseurs, werden sich bis zum Ende des Films nicht trennen.

    Dieser Verfolger ist, wie sich herausstellt Polizist, und auch diese Figur des Aufklärers ist ein Urtyp des Kinos wie überhaupt der Moderne: Wahrheitssuche als verdeckte Ermittlung.

    Er heißt Cristi, bald darauf sieht man ihn auf einem Revier. Verbeulte Metallschränke bergen Aktenordner, alte Computer stehen auf roh zusammengehauenen Holztischen. Jetzt wird viel gesprochen, zuerst mit Kollegen über andere, über die Arbeit, dann mit einem Chef über den aktuellen "Fall". Dieser betrifft den jungen Mann, den Cristi verfolgt, weil er Haschisch raucht - nach rumänischem Recht droht ihm dafür eine mehrjährige Haftstrafe. Christi hält seine Ermittlungen für inhaltlich sinnlos, weil der Schüler kein Dealer ist, und für moralisch falsch, weil Haschischkonsum in anderen EU-Ländern längst kein Strafdelikt mehr ist. Der Chef lässt aber nicht mit sich reden. Er liest sowieso die Akten nicht und hört schlecht zu, ihn interessiert nur die formale Erfüllung der Vorschriften. Und um die zu erreichen, übt er Druck auf Cristi aus.

    So erlebt man einen Mensch im Widerstreit: Gerade weil er ein guter Polizist sein will, kann er sich an Formalitäten nicht halten. Mehr und mehr spitzt sich Cristis ethisches Dilemma zu.

    Seine Situation ist im mehrfachen Sinn eine absurde. Tatsächlich denkt man an die Szenarien Kafkas und Becketts, an Romane Sartres und Camus’. Am Ende mündet alles in ein langes sophistisches Streit-Gespräch irgendwo zwischen philosophischem Diskurs und bürokratischer Rabulistik. Es geht darin um das Verhältnis von Legalität und Legitimität, Gesetz und Gewissen, Recht und Gerechtigkeit und um die Pflichten eines Polizisten: Sogar ein Wörterbucheintrag wird aufgesucht, doch auch dort ist keine endgültig befriedigende Definition von "Polizist" zu finden.

    Corneliu Porumboius zweiter Spielfilm erinnert in seinem Sinn für Timing und der Verbindung von langen Szenen mit intensiver Spannung an Robert Bressons "Pickpocket", und besitzt zugleich alle Tugenden des aktuellen rumänischen Kinos: genaueste, geduldige Beobachtung von Figuren und ihren Situationen, zugleich deren clevere Zuspitzung bis hin zu einer - wieder absurden - Situationskomik. Der Film nimmt sich Zeit, ist trotzdem spannend und intensiv, ja kurzweilig. Porumboius Rumänien hat dabei nichts mit jenem betont schmutzigen, moralisierenden Sozialrealismus gemeinsam, der seit Cristian Mungius Cannes-Gewinner "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" das internationale Image des rumänischen Kinos monopolisiert - obwohl Mungius Film schon deshalb ganz untypisch für die "Neue Welle Rumäniens" ist, weil er unter der Ceausescu-Diktatur spielte.

    Die Diktatur ist auch bei Porumboiu präsent. Aber anders: In ihren Folgen für die Köpfe der Menschen, wo sie weiterlebt, und für die Obrigkeit. Folgt man Porumboiu, dann ist Demokratie in der Praxis nur eine Diktatur mit anderen Mitteln und das Antlitz der blinden Justitia des Rechtsstaats nur die Maske schierer Willkür. In diesem Zusammenhang leistet der passive, anständige Polizist Cristi auf seine Art Widerstand.