Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Recht und Religion

Begriffe wie Scharia und Fatwa sind längst Bestandteil des Diskurses hierzulande, ihre Bedeutung, ihre Geschichte kennen aber nur die wenigsten. Der Islamwissenschaftler Mathias Rohe hat nun ein Buch vorgelegt, in dem er Geschichte und Praxis des islamischen Rechts dokumentiert.

Von Alexandra Kemmerer | 17.08.2009
    Drakonische Körperstrafen und willkürliche Todesurteile, kompromisslose Verfolgung Andersgläubiger und harte Diskriminierung von Frauen - solche Bilder prägen im Westen die Vorstellung vom islamischen Recht, das oft mit dem vieldeutigen Begriff der "Scharia" gleichgesetzt wird. Der in Erlangen lehrende Juraprofessor und Islamwissenschaftler Rohe hat jetzt ein Buch vorgelegt, das Entstehung, Entwicklung und gegenwärtige Praxis des islamischen Rechts beschreibt. Was also hat es mit der "Scharia" auf sich? Geht es dabei um eine religiöse Lebensordnung, deren Vorschriften die Gläubigen moralisch binden? Oder um Recht, dessen Beachtung von staatlichen Autoritäten erzwungen werden kann?

    Der Begriff "Scharia" ist vieldeutig. In einem untechnischen Sinne - auch in koranischer Terminologie - bedeutet er "der (von Gott) gebahnte Weg", "der Weg zur Tränke". Als Fachbegriff taucht er in einem weiten und in einem engen Verständnis auf. Das weite Verständnis der Scharia umfasst die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam, also etwa der Vorschriften über Gebete, Fasten, das Verbot bestimmter Speisen und Getränke wie Schweinefleisch und Alkoholisches und die Pilgerfahrt nach Mekka ebenso wie Vertrags-, Familien- und Erbrecht. Das enge Verständnis von "Scharia" erfasst nur deren rechtliche Anteile. Oft werden darunter sogar nur die spezifisch ausgeprägten traditionellen Rechtsvorschriften aus den Bereichen des Familien- und Erbrechts, des koranischen Strafrechts und zum Teil des Stiftungsrechts gefasst.
    Die enge Gleichsetzung von Recht und Religion - wie sie in der Türkei durch die Reformen Atatürks aufgebrochen wurde - stößt auch bei gläubigen Muslimen auf Kritik. Mathias Rohe zitiert den Juristen Abdullahi An-Na'im, der die Durchsetzung der Scharia mittels staatlicher Gesetzgebung rundweg ablehnt. Nur durch ihr weites Verständnis als religiöse Lebensordnung, durch den Verzicht auf den Herrschaftsanspruch über das Recht, könne ihre religiöse Bindungswirkung bewahrt werden, der Reichtum ihrer Auslegungsmöglichkeiten, ihr kreatives und befreiendes Potential. Der aus dem Sudan stammende, heute in den Vereinigten Staaten lehrende An-Na'im begründet die Trennung von Religion und Staat aus der islamischen Rechtstradition. Wegen seiner Ablehnung des islamischen Staates, die er kürzlich in einem Berliner Vortrag bekräftigte, muss er um sein Leben fürchten. Sein Lehrer Mahmud Muhammad Taha wurde 1985 wegen Apostasie zum Tode verurteilt und hingerichtet. Reformen bleiben gefährdet - und gefährlich. Und dies, obwohl Reformer seit dem 18. Jahrhundert eine flexible Fortentwicklung des islamischen Rechts anstreben. Im zweiten Teil seines Buches beschreibt Mathias Rohe diese Strömungen - häufig angestoßen durch die koloniale Begegnung mit der europäischen Kultur. Zugleich aber ist der Idschtihad, das selbstständige Urteilen und Forschen, dem Koran selbst tief eingeschrieben.

    In vielen islamisch geprägten Staaten dominieren noch patriarchalische Vorstellungen und eine entsprechende Rechtspraxis. Extremisten und Traditionalisten versuchen mit Macht, das überkommene Geschlechterrollenverhältnis zu zementieren. Auffällig ist die Fülle neuzeitlicher Literatur zur besonderen Rolle der Frau in der islamischen Gesellschaft. Oft steht vor allem im Vordergrund, was die Frau alles nicht tun dürfe. So wird immer wieder ernsthaft debattiert - und bejaht -, dass sie das Einverständnis des Ehemannes zur Änderung ihrer Frisur benötige. Andererseits sind auch in jüngerer Zeit beachtliche Reformen in einigen Staaten wie Marokko, Algerien, Ägypten, in Teilaspekten aber auch in Iran und in Ägypten zu verzeichnen. Die begleitenden, oft hitzigen rechts- und gesellschaftspolitischen Debatten zeigen den zentralen Stellenwert gerade dieser Fragen für die Zukunft muslimischer Gesellschaften.
    Im dritten Teil seines Buches zeichnet Rohe am Beispiel Indiens, Kanadas und Deutschlands Wege des islamischen Rechts in der Diaspora nach. Die Existenz in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften wirft Fragen auf, die die Tradition nicht beantwortet. In Indien, wo Muslime heute eine Minderheit sind, trägt die einflussreiche Deoband-Schule einen starken Trend zum Traditionalismus. Die Forderung nach Anwendung des islamischen Strafrechts mit seinen harten Körperstrafen wird zwar von den hier lebenden Muslimen nicht erhoben. Doch das islamische Personenstandsrecht, das mit seinen ehe- und familienrechtlichen Normen Frauen massiv benachteiligt, zählt fest zum Kern der kollektiven Identität indischer Muslime. Reformen wie die Schaffung eines einheitlichen indischen Zivilgesetzbuchs scheinen daher auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar. Um kollektive Identitäten geht es auch in Kanada, einem klassischen Einwanderungsland, das sich explizit als multikulturell versteht. Seit 2003 wurde in Ontario und Québec über islamische Schiedsgerichte für Angelegenheiten des Familien- und Erbrechts gestritten. Dort sollte das hanafitische Recht Anwendung finden können, das Frauen zum Gehorsam gegenüber dem Ehemann verpflichtet und im Scheidungsfall das Sorgerecht für die Kinder dem Vater zuspricht. Auch im Erbfall und in Unterhaltsfragen werden Frauen extrem benachteiligt. Gegner fürchten, dass die staatliche Anerkennung solcher Gerichte nur der erste Schritt zur Entstehung einer Parallelrechtsordnung ist, die mit den Grundsätzen des kanadischen Rechts unvereinbar ist. Zwar können staatliche Gerichte Schiedsentscheidungen überprüfen, faktisch aber wirkt bereits die staatliche Anerkennung der religiösen Schlichtungsinstanz wie eine Unbedenklichkeitsbescheinigung. Darum hat der kanadische Gesetzgeber 2006 solchen islamischen Schiedsverfahren vorerst jede rechtliche Wirkung abgesprochen, die Diskussion geht aber weiter. Denn außergerichtliche Mediationsverfahren werden in der muslimischen Gemeinschaft weiterhin praktiziert, ohne jede staatliche Kontrolle. In Deutschland ist eine Inkorporation islamisch-rechtlicher Normen in die nationale Rechtsordnung bislang nicht erfolgt - anders als in Spanien, Griechenland und Großbritannien. Mit guten Gründen warnt Rohe von einer Bildung eigenständiger religiöser Rechtsenklaven nachdrücklich ab. Er verweist auf die Vielfalt muslimischer Lebensformen, die von völliger Abschottung von der pluralen Gesellschaft bis hin zu einer positiven Identifikation mit Demokratie und Menschenrechten reicht. Die mehr als vier Millionen Muslime in Deutschland seien, so sein Argument - eben höchst unterschiedlich: Sunniten, Schiiten, Aleviten und Ahmadis, Fromme und Laue, Schriftgläubige, mystisch Orientierte, Anhänger eines starken Volksglaubens und hochgebildete Religionskundige. Häufig werden ihre Lebenswelten und Ansichten stärker von Migrationshintergrund, Sprachkompetenz und beruflicher Qualifikation bestimmt als von religiösen Haltungen im engeren Sinne.

    Die Vielfalt dieser Modelle macht deutlich, wie verfehlt es wäre, "den Islam" generell in einen Gegensatz zu den Grundlagen europäischer Staaten und Gesellschaften zu stellen, wenngleich diese Auffassung extremistischer Islamisten von vielen Rechtsradikalen und einigen christlich-fundamentalistischen Grüppchen sowie vereinzelten wissenschaftlich wenig seriös arbeitenden Autoren geteilt wird. Andererseits wird deutlich, dass die weitere Entwicklung einer islamischen Theologie im unverzichtbaren europäischen Rechtsrahmen dringlich zu wünschen ist, um hier lebenden religiös orientierten Muslimen die feste Überzeugung zu vermitteln, dass sie zugleich gute Muslime, Deutsche und Europäer sein können, und um insbesondere die Jugend gegen Radikalisierungsversuche zu immunisieren.
    Weil, wie es im vielzitierten Diktum des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Böckenförde heißt, der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann - darum besteht dringender Aufklärungsbedarf, wenn es um das Verhältnis von Recht und Religion geht. Mathias Rohes Buch leistet dazu einen wichtigen Beitrag.

    Mathias Rohe: "Islamisches Recht. Geschichte und Gegenwart". Erschienen ist es bei C. H. Beck, das Buch hat 606 Seiten und kostet 39 Euro 90. Unsere Rezensentin war Alexandra Kemmerer.