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Rechtspopulisten in Europa
Die europäischen Leitplanken funktionieren noch

Die nur knappe Niederlage des österreichischen FPÖ-Politikers Norbert Hofer bei den Präsidentschaftswahlen hat gezeigt, die Rechtspopulisten sind im Aufschwung. Und das nicht nur in der Alpenrepublik. Die EU hat damit ihre Probleme, vor allem wenn in der Folge Grundrechte eingeschränkt werden. Die Möglichkeiten dem entgegenzutreten, sind aber äußerst begrenzt.

Von Alois Berger | 23.05.2016
    Rechtspopulisten im Europäischen Parlament: die Britin Janice Atkinson (UKIP), die Französin Marine Le Pen (Front National), der Niederländer Geert Wilders (PVV)
    Rechtspopulisten sind schon stark im EU-Parlament vertreten: die Britin Janice Atkinson (UKIP), die Französin Marine Le Pen (Front National), der Niederländer Geert Wilders (PVV). (dpa / picture alliance / Olivier Hoslet)
    "Immer wieder Österreich… für immer und ewig."
    Die Freiheitliche Partei Österreichs ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die FPÖ ist keine Randpartei mehr. Das hat der Verlauf der Präsidentschaftswahlen gezeigt. Die fremdenfeindliche und antieuropäische Ideologie der Rechtspopulisten wird die politische Szene Österreichs weiter prägen, und nicht nur die Österreichs.
    Populistische Parteien, die gegen die Europäische Union wettern, haben derzeit in vielen EU-Ländern Auftrieb. In Ungarn, in Polen, in der Slowakei und in Kroatien machen sie nicht mehr nur Stimmung, in diesen Ländern sind sie bereits seit einiger Zeit an der Macht. Heute Mittag hat die Europäische Union eine weitere Warnung an die polnische Regierung geschickt und sie aufgefordert, auf den Boden der europäischen Grundwerte zurückzukehren.
    Doch die Reaktionen aus Brüssel wirken hilflos. Europa sucht nach einer Antwort. Wir müssen die Wahlergebnisse akzeptieren, meint Manfred Weber, Fraktionschef der Christdemokraten und Konservativen im Europaparlament, das sei eben Demokratie, das müsse Europa aushalten. Erst wenn diese Parteien mit ihrer Politik die europäischen Grundwerte verletzten, Demokratie, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, dann müsse Europa eingreifen.
    Grundrechtsverletzungen nur schlecht zu ahnden
    "Durch Populisten in Verantwortung dürfen rote Linien nicht überschritten werden. Wir haben in Europa die Charta der Grundrechte definiert, die unsere Identität, die DNA Europas ausmachen, und die darf durch Populisten nicht beschädigt werden. Andernfalls muss es auch zu Sanktionen kommen."
    Die beiden Türme des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg
    Der Europäische Gerichtshof kann Strafen verhängen. (picture alliance / dpa / Thomas Frey)
    Doch so einfach ist das nicht. Die Europäische Union hat für Grundrechtsverletzungen nur den ganz kleinen und den ganz großen Hammer. Entweder Bitten, Flehen, Drängen oder gleich den zeitweisen Ausschluss eines Mitgliedslandes aus allen Beschlussgremien - dazwischen gibt es nichts. Die normalen Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Union greifen hier in den allermeisten Fällen nicht.
    Wenn die Regierung eines EU-Landes eine Straße durch ein Naturschutzgebiet baut, zu viele Schulden macht oder sonst gegen europäische Gesetze verstößt, dann kann die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof Klage einreichen. Im schlimmsten Fall verhängt der EuGH am Ende Geldstrafen, und zwar Geldstrafen für jeden Tag, an dem das EU-Recht verletzt wird. Das kann von einigen Tausend Euro bis zu vielen Millionen gehen – pro Tag, versteht sich.
    Die EU kann nur selten aktiv werden
    Doch die Europäische Union kann nur in Bereichen aktiv werden, die ihr die Mitgliedsstaaten ausdrücklich übertragen haben. Die Agrarpolitik zählt zu den europäischen Aufgabenfeldern, die Handelspolitik, Teile der Bankenkontrolle, der Finanzpolitik. Doch in Fragen der Justiz beispielsweise, im Gesundheitswesen, bei den Rentenkassen, an den Schulen und Universitäten gilt bislang fast ausschließlich nationales Recht. Die EU darf hier allenfalls Ratschläge und Unterstützung bei der freiwilligen Zusammenarbeit geben. Mehr Rechte haben ihr die Mitgliedsstaaten nicht eingeräumt. Keine Regierung gibt freiwillig Macht ab. Neue Kompetenzen bekommt die EU immer nur, wenn es nicht mehr anders geht.
    Gegen die Verletzung der europäischen Grundwerte in Ungarn oder Polen kann die Europäische Kommission deshalb wenig machen, sagt Sergio Carrera, Professor für Europäisches Recht vom Brüsseler Center for European Policy Studies: "Die Herausforderung ist, dass die Vertragsverletzungsverfahren nur greifen, wenn es um europäisches Recht geht. Das Dilemma mit diesen Staaten ist, dass deren Rechtsverstöße meist nicht unter die EU- Gesetzgebung fallen. Wir reden über die Qualität des Justizsystems, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Gewaltenteilung, also mehr über institutionelle und strukturelle Fragen. Deshalb gibt es jetzt die Kompetenzfragen."
    Zweifel am gegenseitigen Vertrauen
    Als die ungarische Regierung unter dem Rechtspopulisten Viktor Orban vor sechs Jahren begann, den Staat nach ihren Vorstellungen umzubauen, nahm sie als erstes die Medien in die Zange, beschnitt die Religionsfreiheit und entließ den obersten Datenschutzbeauftragten. Die EU-Kommission konnte nur bei der Entlassung des Datenschutzbeauftragten eingreifen. Datenschutz, da ist die Europäische Union zuständig. Die EU-Kommission klagte vor dem Europäischen Gerichtshof und bekam recht.
    Die konkreten Auswirkungen des Urteils waren gering. Unter dem Druck von EU-Kommission und einigen Mitgliedsstaaten ließ sich Ungarn noch zu einigen weiteren Korrekturen seines Kurses bewegen. An der großen Linie seiner nationalistischen Erneuerung Ungarns aber hielt Orban fest, und damit auch an der Einschränkung der Pressefreiheit, des Minderheitenschutzes und der Unabhängigkeit der Verfassungsrichter.
    Der ungarische Premierminister Viktor Orban nimmt am 23.09.2015 im Kloster Banz bei Bad Staffelstein (Bayern) als Gast an einer Pressekonferenz anlässlich der Herbstklausur der CSU-Landtagsfraktion teil.
    Lotet die Belastbarkeit der EU aus: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. (picture alliance / dpa / Nicolas Armer)
    Für den Europarechtsexperten Sergio Carrera vom Center for European Policy Studies ist die ungarische Anti-Europa-Politik kein Kavaliersdelikt. Die EU müsse mehr tun, um ihre Grundwerte zu schützen und in den Mitgliedsstaaten durchzusetzen. "Das ist eine elementare Bedingung für gegenseitiges Vertrauen, wie sie für die Zusammenarbeit unerlässlich ist. In der Kriminalitätszusammenarbeit zum Beispiel, in der Justizzusammenarbeit, bei der inneren Sicherheit, bei Flüchtlingsfragen. Jede Zusammenarbeit in diesen Bereichen baut auf die grundsätzliche Frage auf: Können wir uns gegenseitig trauen? Stimmen unsere Institutionen, unsere Demokratien mit den gemeinsamen Prinzipien überein oder nicht?"
    Europäischer Haftbefehl scheiterte immer wieder
    So haben Richter in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden mehrmals die Auslieferung von Verdächtigen an Ungarn oder Rumänien gestoppt, weil dort die Haftbedingungen unzumutbar seien. Deshalb scheitert der 2002 mühsam ausgehandelte europäische Haftbefehl immer wieder daran, weil in einigen Ländern die Grundwerte nicht eingehalten werden.
    Theoretisch hat die Europäische Union mit dem Artikel 7 ein Instrument, um Mitgliedsländer zur Einhaltung der Grundwerte zu zwingen. Wenn ein Land schwerwiegend und anhaltend gegen die europäischen Grundwerte verstößt, kann dieses Land vorübergehend aus allen EU-Beschlussgremien ausgeschlossen werden.
    Die Nuklear-Option, nennen sie den Artikel 7 in Brüssel. Er ist zu vernichtend, um jemals angewandt zu werden. Die Europäische Union kann damit drohen, so wie sie das heute wieder gegenüber Polen gemacht hat. Aber die polnische Regierung weiß, dass sie da nichts zu befürchten hat. Einen Rauswurf, wenn auch nur auf Zeit, - so etwas passiert nicht in der EU, so gehen die EU-Länder nicht miteinander um, nicht einmal, wenn eine Regierung sich völlig daneben benimmt. Und die Erfahrung lehrt: Jedes Mitgliedsland durchlebt irgendwann einmal eine Phase, in der es für die anderen besonders anstrengend ist. Geduld bringt mehr als Sanktionen, so die Ansicht der meisten Staats- und Regierungschefs.
    Harte Strafen gegen Österreich gefordert
    Vor 17 Jahren wollten einige Länder diesen Artikel 7 schon einmal gegen Österreich anwenden. Das war, als die FPÖ zum ersten Mal mitregierte in Wien. Belgien vorneweg und auch Frankreich wollten ein Zeichen setzen und forderten den zeitweisen Ausschluss Österreichs. Die anderen Regierungen sperrten sich. Am Ende einigte man sich auf die kleine Lösung: Die Brüsseler Amtsgeschäfte mit der Wiener Regierung sollten weiterlaufen, aber keine darüber hinaus gehenden Kontakte. Eine Art Kontaktsperre am Feierabend. Rückblickend erinnert sich der österreichische Europaabgeordnete Josef Weidenholzer, rückblickend war das ein Schlag ins Wasser: "Die Sanktionen waren kontraproduktiv, weil sie haben viele Österreicher aufgebracht gegen die EU, eigentlich die Leute hinter diese Regierung, hinter die FPÖ versammelt und zunächst hat es dieser Regierung sogar einen Sympathievorteil verschafft. Ein Phänomen, das wir ähnlich auch in Ungarn haben, ähnlich auch in Polen gespielt wird. Das sind quasi immer diese Forderungen nach Schulterschluss. Wir müssen uns gegen die Angriffe von außen wehren."
    Jörg Haider im Jahr 2008
    Jörg Haider war maßgeblich daran beteiligt, dass die FPÖ 1999 erstmals an einer Regierung beteiligt war. (dpa/ picture-alliance/ Herbert Pfarrhofer)
    Der größte Fehler der EU-Staats- und Regierungschefs war es vermutlich, die freiwillige Kontaktsperre Sanktionen zu nennen. Das bot der FPÖ die Chance, sich aufzuplustern und über die Einmischung aus Brüssel zu schäumen. Das brachte ihr viel Beifall aus der Bevölkerung. Dabei löste sich das Problem FPÖ in den folgenden drei Jahren fast wie von selbst. Die Politiker der Freiheitlichen zerstritten und verstrickten sich in diverse Skandale. In der Wählergunst stürzten sie von 27 auf 10 Prozent ab.
    Allerdings gibt es Anzeichen, dass die deutliche Kritik aus Brüssel zum Absturz der FPÖ damals beigetragen hat. Viele Österreicher empfanden die sogenannten Sanktionen der EU zwar als unfair, aber unangenehm war es ihnen doch, so am Pranger zu stehen. Unangenehm genug, um die FPÖ nach nur drei Jahren abzuwählen.
    Orban testet die EU
    Der ungarische Sozialdemokrat Peter Niedermüller ist überzeugt, dass die Europäische Union viel öfter und viel deutlicher auf ihre Grundwerte pochen müsste. In seiner Heimat in Ungarn hätten Regierung und Bürger den Eindruck, dass der EU ihre Grundwerte nicht wirklich wichtig seien, dass man da tricksen und feilschen könne. Die Orban-Regierung teste aus, wie weit sie gehen kann, glaubt Niedermüller. Die Europäische Union sende falsche Signale in Richtung Budapest: "Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft, also wir haben gemeinsame Werte, Normen, Vorstellungen. Und wenn ein Land, eine Regierung sagt, nein, wir wollen andere Wege gehen, wir wollen eine illiberale Demokratie aufbauen, dann muss man sagen, Ja. Dann muss einfach die Europäische Union sagen, Du hast dich selber ausgeschlossen, weil Du sagst: Ich will einen anderen Weg gehen."
    Niedermüller versteht die europäische Zurückhaltung nicht. Wie alle mittel- und osteuropäischen Länder würden auch die Ungarn die Europäische Union niemals grundsätzlich infrage stellen: "Der große Teil der ungarischen Bevölkerung kann sich das Leben ohne Europa nicht mehr vorstellen. Also frei reisen, arbeiten dürfen, also diese alltäglichen Kontakte zwischen den europäischen Ländern und Ungarn. Das ist ganz selbstverständlich Teil der Identität vieler Ungarn." Vor die Wahl gestellt zwischen Europa oder Orbans nationalistischen Alleingängen, da wüssten viele Ungarn schnell, was ihnen wichtiger ist, glaubt der Sozialdemokrat Niedermüller.
    Ungarn und Polen wollen sich gegenseitig helfen
    Doch es ist fraglich, ob der Ausschluss von allen Entscheidungen der EU nach Artikel 7 überhaupt noch funktionieren würde. Um Ungarn die Stimmrechte zu entziehen, müssten alle anderen Regierungen zustimmen. Dazu wird es nicht kommen, weil auch die polnische Regierung Probleme mit europäischen Grundwerten hat. Die Partei für Recht und Gerechtigkeit möchte Polen zurückführen auf den Weg der traditionellen, vor allem erzkatholischen Werte. Parteichef Jaroslaw Kaczynski hält liberale Gesellschaften für verwerflich und hat sich mit dem Ungarn Viktor Orban bereits verständigt, dass man sich in Brüssel gegenseitig helfen werde, damit der Artikel 7 nicht angewandt werden kann.
    "Wir sind und bleiben Europa": Teilnehmer der Demonstration in Warschau
    "Wir sind und bleiben Europa": Teilnehmer der Demonstration in Warschau (Tomasz Gzell, dpa picture-alliance)
    Mehr als 200.000 Menschen gingen vor zwei Wochen gegen die Politik der Partei für Recht und Gerechtigkeit auf die Straße. Es war die größte Demonstration seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Polen. "Wir verteidigen die Demokratie", skandierten die Demonstranten und sie ließen keinen Zweifel daran, dass sie die EU für ihren wichtigsten Verbündeten halten: "Wir sind und bleiben in Europa", lautete das Motto ihres Marsches durch Warschau.
    Kritik am Vorgehen der EU-Kommission
    Bereits im Januar hat die EU-Kommission ein Verfahren gegen die Regierung in Warschau eingeleitet. Heute Mittag hat sie in einem ersten Bericht schwere Bedenken gegen die polnische Reform des Verfassungsgerichts vorgebracht und Polen zu Änderungen aufgefordert. Doch nach Ansicht der polnischen Regierung haben ihr die Wähler den Auftrag gegeben, das Land umzubauen. Premierministerin Beata Szydlo sagte kürzlich in Straßburg: Eine gewählte Regierung habe das Recht, über den Einfluss des Verfassungsgerichts zu entscheiden. Frans Timmermans, Vizechef der EU-Kommission, hielt dagegen: "Rechtsstaatlichkeit und ganz besonders die Gewaltenteilung, ist wichtig für uns alle. In der Geschichte Europas haben wir schmerzhaft lernen müssen, wie sehr wir dieses Dreieck aus Demokratie, Respekt vor Menschenrechten und Respekt vor dem Rechtsstaat brauchen. Keines dieser drei Elemente kann aufblühen, ohne die anderen beiden. Man kann nicht die Demokratie als Argument gegen den Rechtsstaat anführen, so wenig wie man die Demokratie als Argument gegen die Menschenrechte benutzen kann."
    Die polnische Regierung hat bereits angekündigt, dass sie zwar bei einigen Punkten nachgeben will, bei der entscheidenden Frage der Unabhängigkeit der Verfassungsrichter aber will die Partei für Recht und Gerechtigkeit hart bleiben. Eine strikte Gewaltenteilung kommt für die PiS nicht in Frage. Der Europarechtler Sergio Carrera hält das ganze Vorgehen der EU-Kommission für falsch: "Ein System, das immer nur einzelne Länder an den Pranger stellt, wird nicht funktionieren. Da fehlt auch die Legitimation. Wir brauchen ein System, das alle Mitgliedsländer gleich behandelt. Jedes Mitgliedsland muss nach denselben Kriterien untersucht werden, wie es mit den europäischen Grundwerten umgeht, wie es diese Grundwerte einhält. Ich kann Ihnen sagen, dass kein Mitgliedsland da frei ist von Verfehlungen."
    Jährliche Überprüfung der Grundrechte im Gespräch
    Eine Arbeitsgruppe im Europaparlament will deshalb eine jährliche Überprüfung aller Mitgliedsstaaten einführen. "Abgeordnete aus fast allen Parteien sind daran beteiligt und sehr engagiert," lobt die niederländische Liberale Sophie in t´Veld, es gebe eine breite Übereinstimmung für die generelle Grundrechte-Überwachung: "Das funktioniert so, dass alle Mitgliedsstaaten, aber übrigens auch die EU-Behörden, also Kommission, Rat und Parlament, unter einem ständigen Monitoring stehen und dann haben wir eine ganze Reihe von Indikatoren, so wie Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Richter, Schutz von Frauenrechten und den Rechten Homosexueller. Jedes Jahr wird dann ein Bericht von unabhängigen Experten gemacht, und die sagen, ja, da gibt es vielleicht in einem Mitgliedsstaat eine Lücke, oder in einem anderen Mitgliedsstaat ein Problem."
    Selbst Abgeordnete der polnischen Partei für Recht und Gerechtigkeit wie auch der ungarischen Fidesz würden den Vorschlag unterstützen, sagt Sophie in t´Veld. Wenn alle für ihre großen und kleinen Sünden kritisiert würden, falle es offenbar leichter, die eigenen Regelverstöße zuzugeben. Spätestens im Herbst werde das Europaparlament diesen Überwachungsmechanismus beschließen, hofft Sophie in t´Veld. Ob am Ende auch Sanktionen stehen, das sei nicht entscheidend: "Es ist ähnlich wie mit dem Stabilitätspakt. Da gibt es auch die Möglichkeit von Sanktionen, aber die wurden bisher noch nie auferlegt. Auch wenn die Mitgliedsstaaten die Stabilitäts- oder Haushaltsregeln verletzt haben. Aber insgesamt kann man sehen, dass alle Mitgliedsstaaten in die gleiche Richtung gehen. Da ist keiner mehr, der sagt, ach Haushaltsdisziplin, das ist mir wurscht oder Staatsschulden, das ist mir auch wurscht. Nein, alle haben erkannt, dass sie wenigstens in die gleiche Richtung gehen, nämlich weniger Defizite, weniger Verschuldung. Und ich glaube, das sollte mit diesem Pakt in Sachen Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte genauso funktionieren."
    Noten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit?
    Das Verfahren, allen Mitgliedsländern Noten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu geben, hat noch einen weiteren Vorteil. Die Mitgliedsstaaten müssen sich endlich auf klare Kriterien für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einigen. In der europäischen Grundrechte-Charta ist das bislang nur sehr vage definiert. Die Gewaltenteilung beispielsweise, die derzeit in Polen wie auch in Ungarn unter Druck steht, kommt in den europäischen Grundrechten nicht vor. Dort geht es allgemein um den Respekt vor demokratischen Grundsätzen. Wie diese Grundsätze ausgestaltet werden, das überlässt die Grundrechte-Charta bislang den Mitgliedsländern.
    Eine regelmäßige und allgemeine Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Praxis aller Mitgliedsländer entspricht auch weit mehr dem Wesen der Europäischen Union als der Entzug der Stimmrechte nach Artikel 7. Ein solch drastischer Schritt würde jedes Vertrauen zwischen den Mitgliedsländern nachhaltig zerstören. Artikel 7 kann deshalb nur die Notbremse sein, wenn sich die Regierung eines Mitgliedslandes vollständig von den europäischen Prinzipien verabschiedet. Die türkische Regierung wäre im Augenblick so ein Fall. In der EU gibt es derzeit keine Regierung, deren Verfehlungen die Anwendung des Artikel 7 auch nur annähernd rechtfertigen würde.
    Es müssen ja nicht immer Geldstrafen sein
    Europas Stärke ist der Dialog. Polen und Ungarn sind in den Institutionen in Brüssel fest eingebunden. Im Ministerrat, im Europäischen Parlament, in den Ausschüssen und in den Fraktionen sind die Politiker aller Regierungsparteien im täglichen Kontakt mit den Abgeordneten und Ministern der anderen EU-Länder. Was immer in Budapest oder in Warschau beschlossen wird, die Regierungen bekommen noch am selben Tag von den EU-Partnern zu hören, was die davon halten. Das schafft einen enormen Druck, sagt Jan Olbycht von der polnischen Bürgerplattform: "Wenn wir über Sanktionen reden, dann muss es ja nicht immer gleich um Geldstrafen oder so etwas gehen. Jemanden nicht zu wichtigen Debatten einzuladen, oder jemanden nicht um seine Meinung zu einem konkreten Problem zu fragen, das sind auch Sanktionen. Und das passiert ja bereits. Polen wird derzeit nicht als wichtiger Mitspieler in Europa behandelt. Das sind in Wahrheit auch Sanktionen."
    Sowohl die ungarische als auch die polnische Regierung achten sehr genau darauf, die EU-Partner nicht zu brüskieren. Sie bemühen sich, ihre umstrittenen Maßnahmen zu rechtfertigen. Bislang ist ihre nationalistische Rhetorik um vieles radikaler als ihre Taten. Das gilt noch mehr für den slowakischen Premierminister Robert Fico, der wüst gegen den Islam und gegen Minderheiten polemisiert. In vier Jahren Regierungszeit hat Fico peinlichst darauf geachtet, der EU keinen Anlass für eine Untersuchung seiner Politik zu geben.
    Die europäischen Leitplanken sind nicht perfekt, aber bisher funktionieren sie.