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Rechtsstreit ohne Grundlage?

Paläoanthropologie. - Als letzter bewohnbarer Kontinent wurde Amerika vom Menschen besiedelt. Das kann inzwischen als gesicherte Erkenntnis gelten. Doch wann und von wem die Neue Welt zuerst besucht wurde, ist umstrittener denn je. Nach achtjährigem Rechtsstreit ist jetzt der Kennewick-Mann aus dem nordwestlichen US-Bundesstaat Washington der Wissenschaft wieder zur Verfügung gestellt worden - und die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Vorfahren der Indianer nicht die ersten in Amerika waren.

Von Matthias Hennies | 11.08.2006
    Der Kennewick-Mann ist der "Ötzi" Amerikas - nur beinahe doppelt so alt: Er lebte vor rund 9200 Jahren. Sein gut erhaltenes Skelett wurde vor zehn Jahren am Ufer des Columbia River im Bundesstaat Washington, dem nordwestlichen Zipfel der USA, entdeckt. Der Vorzeit-Mensch bekam seinen Namen nach der nahe gelegenen Stadt Kennewick, und dann wurde er berühmt - aber nicht weil der Fund so spektakulär war, sondern weil er vor Gericht kam. Bevor Wissenschaftler mit einer detaillierten Untersuchung beginnen konnten, beschlagnahmte die Regierung das Skelett. Vertreter amerikanischer Indianerstämme hatten den Vorzeit-Menschen als ihren Vorfahren reklamiert. Sie verlangten eine Wieder-Bestattung der Knochen, ohne dass sie durch naturwissenschaftliche Untersuchungen entweiht würden. Doch das Skelett ist für die frühe Geschichte des Kontinents noch wichtiger als der Ötzi für Europa: Es könnte helfen aufzuklären, wer die ersten Amerikaner waren - denn das müssen nicht unbedingt Vorfahren der Indianer gewesen sein.

    "Dies ist das älteste Exemplar, das so vollständig ist, dass man daran eine ganze Serie anthropologischer Messungen vornehmen kann. Es könnte als Grundlage dafür dienen, die erste Besiedlung der Westlichen Hemisphäre zu verstehen."

    Professor Loring Brace, Anthropologe an der Universität Michigan, war einer der acht Forscher, die den Kennewick-Mann vor Gericht brachten. Sie klagten gegen die US-Regierung mit dem Ziel, wissenschaftliche Untersuchungen des Skeletts zuzulassen. Nach acht Jahren Rechtsstreit gab das Gericht ihrem Vorschlag statt. In diesem Frühjahr konnte Brace seine Messgeräte endlich am Schädel des Kennewick-Manns ansetzen. Brace ist auf "craniometrische" Untersuchungen spezialisiert, auf Schädelmessungen. Die Nationalsozialisten haben dieses Verfahren für rassistische Zwecke missbraucht, deshalb ist es in Europa noch weithin diskreditiert. Wissenschaftlich eingesetzt, kann es jedoch nützliche Informationen liefern: Denn die Form der Gesichtsknochen hat sich im Lauf der Evolution nicht durch Anpassung an die Umwelt verändert, sondern ist allein durch das Erbgut bestimmt. Wenn man Schädelformen vergleicht, kann man also die Verwandtschaftsverhältnisse der Menschen bestimmen. Brace:

    "Ich messe die Länge des Schädel, die Breite des Schädels und dann eine Serie von Charakteristika des Gesichts: die Länge und Höhe des Nasenknochens, die Breite der Backenknochen, die Breite der Augenhöhlen und so weiter."

    Die Messergebnisse vom Kennewick-Mann hat Brace dann mit seinem Archiv verglichen: In der Datenbank der Universität Michigan ist die Form von etwa 1000 prähistorischen Schädeln aus allen Ecken der Erde gespeichert. Und da zeigte sich: Das Skelett vom Columbia River passt am Besten zu den Ainu und Jomon, der Ur-Bevölkerung Japans. Diese Völker besiedelten die ganze Küste Ostasiens, glaubt Brace, von Kamtschatka im Norden über die japanischen Inseln bis hinunter nach Polynesien. Sie stammen nicht aus Zentralasien und gehören nicht der Volksgruppe der Mongoliden an, von der sich auch die amerikanischen Indianer ableiten. Die ersten Amerikaner waren also andere Menschen, als man lange dachte. Und sie überquerten die Landbrücke zwischen Asien und Alaska gut 2000 Jahre früher, als bisher angenommen: etwa 14.000 Jahre vor heute. Brace:

    "Die gängige Vermutung ist, dass sie zu Fuß herüber kamen in die westliche Hälfte der Welt, aber ich glaube, dass sie in ihren Kanus kamen. Und dann paddelten sie die West-Küste von ganz Amerika hinunter, bis zur Spitze in Feuerland. Die Schädelformen der Menschen aus Feuerland und aus Patagonien stimmen nämlich auch mit den Jomon-Japanern überein. Das war schon eine Überraschung! Und sie wanderten auch am nördlichen Rand von Amerika entlang bis zum Atlantik und zogen dort wieder südwärts bis nach Florida."

    Auch die ältesten Schädelfunde von der Ostküste weisen dieselben Charakteristika auf wie die der Jomon, stellte Brace fest. Nach seiner Theorie sind Vertreter der mongoliden Gruppe aus Zentralasien dann in einer zweiten, späteren Welle über die Landbrücke an der Beringstraße eingewandert. Mit ihnen sind zum Beispiel die Eskimos und die Navajo-Indianer im Süden der USA verwandt. Brace steht mit dieser Sicht nicht allein. Über die Besiedlung des Kontinents wird inzwischen heftig diskutiert. Dass die ersten Amerikaner früher kamen, als lange gedacht, und dass die Einwanderung in mehreren Wellen ablief, glauben mittlerweile viele Forscher. Doch wer diese ersten Amerikaner überhaupt waren - dafür liefert der Kennewick-Mann nun einen ersten anthropologischen Beleg.