Dienstag, 19. März 2024

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Rechtsstreit zwischen Richter und OLG-Präsidentin
"Ein unverhohlener Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit"

Im Streit um die angeblich zu geringe Arbeitsleistung eines Richters mit seiner ehemaligen Vorgesetzten findet Ex-BGH-Richter Wolfgang Neskovic deutliche Worte. Er sagte im DLF, die ehemalige Karlsruher OLG-Präsidentin habe versucht, den Richter zu einer "überzeugungswidrigen Rechtsanwendung zu veranlassen". Dieser Angriff müsse entschieden zurückgewiesen werden. Der Betroffene verdiene jedwede Unterstützung.

Wolfgang Neskovic im Gespräch mit Christoph Heinemann | 01.07.2016
    Wolfgang Neskovic hält das Buch "Der CIA-Folterreport" in den Händen
    Der inzwischen parteilose Politiker Wolfgang Neskovic war Richter am Bundesgerichtshof und saß für die Linkspartei im Bundestag. Im DLF äußerte er sich zum Rechtsstreit um das Oberlandesgericht Karlsruhe und die Überlastung der deutschen Justiz. (imago stock&people/ Reiner Zensen)
    Die ehemalige OLG-Präsidentin hatte in ihrer aktiven Zeit den Richter Thomas Schulte-Kellinghaus schriftlich kritisiert, da er ihrer Meinung nach zu wenige Fälle erledigte. Dieser hatte daraufhin seiner Vorgesetzten vorgeworfen, die richterliche Unabhängigkeit zu gefährden. Darin verdiene er "jedwede Unterstützung", sagte der ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof Wolfgang Neskovic im Interview mit dem Deutschlandfunk.
    Wahrheits- und Rechtsfindung ist "mühselig und zeitaufwendig"
    Neskovic legte dem Verhalten der OLG-Präsidentin eine "politisch motivierte Distanz zur Gesetzesbindung des Richters" zugrunde und betonte: "Die richterliche Arbeitsleistung und Qualität lässt sich nicht nach Stückzahlen messen." Eine ernsthafte und gesetzestreue Wahrheits- und Rechtsfindung sei "mühselig und zeitaufwendig". Hier solle nun ein Richter dafür haftbar gemacht werden, dass die Gerichte sich in einem Notstand befinden, der durch die Politik verursacht werde: "Wir brauchen eine bessere Justiz und die erreichen wir nur mit mehr Personal."

    Das Interview mit Wolfgang Neskovic in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Ist ein Richter ein Richter, oder ist ein Richter Produzent von klar bezifferbarem Rechtsstückgut? Darum geht es in einem Rechtsstreit um das Oberlandesgericht Karlsruhe. Die ehemalige Präsidentin des Gerichts, Professor Christine Hügel, hatte in ihrer aktiven Zeit einen Richter, der an der Nebenstelle in Freiburg arbeitet, scharf kritisiert und schriftlich ermahnt, weil er ihrer Auffassung nach zu wenige Fälle erledigte.
    Der Richter, Thomas Schulte-Kellinghaus, drehte den Spieß um, rief den Dienstgerichtshof an, also das Gericht für Richter, und warf seiner ehemaligen Vorgesetzten vor, die richterliche Unabhängigkeit zu gefährden. Unterstützt wird er von namhaften deutschen Juristen. Unter anderen hat der Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate die frühere Gerichtschefin wegen des Verdachts versuchter Nötigung in einem besonders schweren Fall angezeigt.
    Jetzt könnte man meinen: Na gut, sollen sich die Fachleute die Köpfe einschlagen. Im Kern geht es allerdings um eine Frage, die jede und jeden sehr schnell betreffen kann. Wollen wir, dass an unseren Gerichten Recht gesprochen wird, oder sollen dort Fälle erledigt werden? Und: Welchen Preis kosten uns beide Alternativen?
    Zu den Unterstützern des Freiburger Richters Schulte-Kellinghaus gehört Wolfgang Neskovic, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und ehemaliger Abgeordneter des Deutschen Bundestages, jetzt am Telefon. Guten Morgen.
    Wolfgang Neskovic: Schönen guten Morgen.
    "Für die richterliche Arbeit gilt: Die Mutter der Wahrheit und Gerechtigkeit ist die Zeit"
    Heinemann: Herr Neskovic, wieso unterstützen Sie die Anzeige gegen die ehemalige Präsidentin des Karlsruher Oberlandesgerichts?
    Neskovic: Ja, hier geht es um einen Fall von ganz grundsätzlicher Bedeutung. Es geht darum, einem engagierten und - den Vorgaben unserer Verfassung entsprechend - auf seine Unabhängigkeit bedachten Richter zur Seite zu stehen*. Ich bin mehr als 27 Jahre lang als Richter und knapp ein dreiviertel Jahr als Rechtsanwalt tätig gewesen und in dieser Zeit habe ich vom Amtsgericht bis zum Bundesgerichtshof Erfahrungen im Umgang mit Richtern gesammelt. Dazu war ich acht Jahre lang als Bundestagsabgeordneter Mitglied des Richterwahlausschusses für die Bundesrichter und auch Mitglied des Wahlausschusses für die Wahl der Verfassungsrichter. Und in diesen insgesamt 35 Jahren habe ich noch nie einen solch dreisten und unverhohlenen Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit erlebt und ihn auch nicht für möglich gehalten. Dieser Angriff muss entschieden zurückgewiesen werden und deswegen verdient der betroffene Richter jedwede Unterstützung.
    Heinemann: Herr Neskovic, in zwei Instanzen hat der Dienstgerichtshof der Präsidentin Hügel recht gegeben und dem Richter eben nicht. Hat die Präsidentin vielleicht doch recht?
    Neskovic: Nein, sie hat nicht recht. Ein Kollege hat über den Verfahrensverlauf, den er dort beobachtet hat, in einer Fachzeitschrift gesagt, an dem Verhalten auch dieser Richter wird deutlich, worum es geht. Sie haben sich nicht die notwendige Zeit genommen, um auch auf das, was Herr Schulte-Kellinghaus vorgetragen hat, einzugehen. Für die richterliche Arbeit gilt: Die Mutter der Wahrheit und Gerechtigkeit ist die Zeit, und ein Richter ohne die notwendige Zeit ist wie ein Maurer ohne Kelle. Für mich ist eindeutig und klar - und das zeigt auch die Unterstützung, die in der Strafanzeige von Herrn Strate und anderen namhaften Juristen wurzelt -, hier hat die Präsidentin den Versuch übernommen, den Richter zu einer überzeugungswidrigen Rechtsanwendung zu veranlassen.
    "Ein eindeutiger Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit"
    Heinemann: Sie stellen Ihren Kolleginnen und Kollegen aber ausgesprochen schlechte Noten aus.
    Neskovic: Ja, das muss ich auch. Man muss sich den Sachverhalt noch mal vor Augen führen. Eine Präsidentin, die einen Richter unter Zeit- und Zahlendruck setzt, übt Druck auf eine andere, Zeit sparende Rechtsanwendung aus. Wer diesen Zusammenhang leugnet, verweigert sich der Realität. Darauf hat bereits Herr Professor Fabian Wittreck, ein Strafrechtslehrer aus Münster, in einer Fachzeitschrift unmissverständlich hingewiesen und dementsprechend hat auch die OLG-Präsidentin bislang auch nicht in den anschließenden Gerichtsverfahren jemals erklärt, wie der betroffene Richter höhere Erledigungszahlen produzieren soll, ohne seine Rechtsanwendung zu erläutern.
    Konkret bedeutet das, dass die Maßnahmen der Präsidentin darauf hinausliefen, ihn durch Ausübung von Druck, nämlich die Androhung von dienstlichen Maßnahmen, dazu zu bewegen, seine Rechtsanwendung grundlegend zu ändern, also zum Beispiel weniger rechtliches Gehör, weniger Sachverhaltsaufklärung durch Beweisaufnahmen, mehr Verfahrenskürzungen durch Annahme von Verjährung und so weiter. Und dabei verblieb dem betroffenen Richter nur die "Freiheit", sich selbst zu entscheiden, in welchen Fällen er sich ihrem Willen beugt und nach Zeit sparenden Lösungen sucht, und in welchen Fällen er vielleicht an seiner bisherigen Praxis und seinen Überzeugungen noch festhält. Das ist für mich ein Angriff, ein eindeutiger Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit.
    "Niemand zweifelt daran, dass es sich hier um einen seriösen Richter handelt"
    Heinemann: Wenn der Richter Schulte-Kellinghaus weniger Fälle als seine Kolleginnen und Kollegen bearbeitet, heißt das dann im Umkehrschluss, dass es die anderen an Gründlichkeit fehlen lassen?
    Neskovic: Ja, das wird man so sagen müssen. Man muss dazu feststellen: Bei Herrn Schulte-Kellinghaus wird der Vorwurf der Faulheit nicht erhoben, von niemand. Es ist unstreitig, dass seine persönliche Arbeitszeit deutlich über 40 Stunden pro Woche liegt. Niemand zweifelt daran, dass es sich hier um einen seriösen Richter handelt, dessen Berufsethos und hohe fachliche Qualifikation allgemein anerkannt ist. Natürlich gibt es auch Kolleginnen und Kollegen, die unter dem Deckmantel richterlicher Unabhängigkeit von Faulheit getragene Verhaltensweisen zu verbergen suchen.
    Heinemann: Das kann kein Freibrief sein?
    Neskovic: Nein, das ist kein Freibrief. Meine persönliche Erfahrung hat mir allerdings gezeigt, dass ausgerechnet diese Kollegen mit ihren Erledigungszahlen keine Probleme haben. Sie sind es jedoch, die häufig durch eine inhaltlich schlechte Arbeit das Vertrauen in die Justiz nachhaltig schädigen. Herr Blüm hat dazu ein Buch geschrieben, eine Polemik gegen die Justiz.
    Heinemann: Norbert Blüm.
    Neskovic: Norbert Blüm. Ich habe eine Podiumsdiskussion mit Herrn Blüm und Herrn Schulte-Kellinghaus in Freiburg geleitet und am Ende dieser Diskussion hat Herr Blüm gesagt, einen Richter wie Herrn Schulte-Kellinghaus würde er sich wünschen. Das ist nicht der Richter, den er in seinem Buch angreift.
    "Politisch motivierte Distanz zur Gesetzesbindung des Richters"
    Heinemann: Herr Neskovic, muss eine Gerichtspräsidentin nicht darauf achten, dass das Arbeitspensum auch erledigt wird?
    Neskovic: Ja selbstverständlich muss sie darauf achten. Aber sie muss dabei natürlich die richterliche Unabhängigkeit im Auge haben und die vor allen Dingen stützen und schützen.
    Heinemann: Ja was soll sie denn machen?
    Neskovic: Sie kann nicht mehr machen, als dafür Sorge zu tragen, nicht sich an den Richter zu wenden, sondern an die dafür zuständige Politik. Für die Personalentscheidung ist die Politik zuständig, ist der Haushaltsgesetzgeber zuständig. Er ist derjenige. Was hier geschehen ist, ist genau das Umgekehrte. Die Präsidentin versucht jetzt, und das hat sie so wörtlich in einem Schriftsatz formuliert, ich zitiere das mal, "Durch die gesetzliche Vorgabe der Personalausstattung und das tatsächliche Fallaufkommen wird aber der - auch für den Berufungsführer - " - das ist hier Herr Schulte-Kellinghaus - "verbindliche Maßstab aufgestellt, wie viel der einzelne Richter in seiner jeweiligen Funktion insgesamt zu erledigen hat."
    Und dieser Satz beschreibt, dass nach Auffassung von Frau Professor Dr. Hügel landespolitische Zielvorstellungen, nämlich Ressourcenbegrenzungen im Haushalt, maßgeblich dafür sein soll, wie Richter am Oberlandesgericht Bundesrecht auslegen und anwenden dürfen. Deutlicher kann man meines Erachtens eine politisch motivierte Distanz zur Gesetzesbindung des Richters und zur richterlichen Unabhängigkeit kaum formulieren, und allein diese Äußerung hätte es gerechtfertigt, gegen die OLG-Präsidentin und nicht gegen Herrn Schulte-Kellinghaus dienstrechtliche Maßnahmen einzuleiten.
    "Richter müssen sich unter Zeitdruck nicht in ihrer Rechtsanwendung beeinflussen lassen"
    Heinemann: Herr Neskovic, können Sie beschreiben: Wie urteilen Richterinnen und Richter unter Zeitdruck?
    Neskovic: Unter Zeitdruck müssen sie genau das, was Herr Schulte-Kellinghaus ja macht, sich nicht in ihrer Rechtsanwendung beeinflussen lassen. Sie müssen dann Akten liegen lassen. Die Verantwortung hierfür trägt die Politik. Sie ist diejenige, die für das notwendige Personal sorgen kann. Man kann nicht das Personal reduzieren, die Fälle werden schwieriger und dann die gleiche Qualität erwarten. Es ist nun mal nach unserer Verfassung so, dass der Richter nur an seine richterliche Überzeugung und das Gesetz gebunden ist.
    Das hat jeder Richter zu Beginn seiner Tätigkeit im Richtereid geschworen, und das Verhalten der OLG-Präsidentin diente ganz offensichtlich dazu, den Richter dazu zu bringen, dass er in einer größeren Anzahl von Fällen nicht mehr seiner eigenen richterlichen Überzeugung folgt, sondern einer fremden Auffassung, die seiner Überzeugung widerspricht, aber Zeit spart. Und wer als Richter überzeugungswidrig Recht anwendet, begibt sich in den Bereich der Rechtsbeugung oder mindestens in den Grenzbereich der Rechtsbeugung.
    "Unsere Gerichte befinden sich in einem Notstand, der durch die Politik verursacht wird"
    Heinemann: Was bedeutet dieser Fall für Nichtjuristen, für normale Bürgerinnen und Bürger, die vor Gericht landen könnten?
    Neskovic: Eigentlich das, was Herr Blüm in seinem Buch zum Ausdruck gebracht hat. Sie können nicht mehr darauf rechnen zum Beispiel, dass Ihnen im Sinne des Gesetzes, im besten Sinne des Gesetzes rechtliches Gehör gewährt wird. Sie können nicht mehr damit rechnen, dass Ihr Vortrag richtig gelesen wird. Es gibt Richter, die sagen, wir können in Bauprozessen, weil wir die Zeit nicht mehr haben, die Akten nicht richtig lesen. Es gibt nicht mehr die vom Gesetz vorgeschriebenen Hinweise oder nicht in ausreichender Zahl. Das, was eigentlich im Gesetz als richterliches Verhalten angelegt ist, und das, was dann die Richter unter Zeitdruck leisten können, steht in einem krassen Gegensatz.
    Das beste Beispiel sind die Deals. Wenn ein Herr Ecclestone einen deutschen Gerichtssaal verlässt und darauf hinweist, dass er mit 100 Millionen Dollar sich quasi freigekauft hat, und das als eine wunderbare Schenkung durch den Kapitalismus preist und damit das Gericht und damit letztlich unsere Gesetze verhöhnt, dann macht das deutlich, dass letztlich unsere Gerichte sich in einem Notstand befinden, der durch die Politik verursacht wird, und jetzt soll ein Richter dafür haftbar gemacht werden. Das kann nicht hingenommen werden und genau darum geht es. Wir brauchen eine bessere Justiz und die erreichen wir nur mit mehr Personal.
    "Richterliche Arbeitsleistung und Qualität lässt sich nicht nach Stückzahlen messen"
    Heinemann: Weiten wir den Blick, Herr Neskovic. Die Wörter "Assistenzarzt" und "Übermüdung" sind längst Synonyme. Arbeitsverdichtung, zunehmende Belastung gibt es in vielen Berufsgruppen, übrigens auch im Journalismus. Wozu führt immer mehr?
    Neskovic: Immer mehr führt zu immer weniger, nämlich zu immer weniger Qualität. Die richterliche Arbeitsleistung und Qualität lässt sich nicht nach Stückzahlen messen. Was bei VW am Fließband gilt, lässt sich nicht auf die richterliche Arbeit übertragen. Die Wahrheits- und Rechtsfindung, wenn sie ernsthaft, so wie das Gesetz es vorsieht, angestrebt wird, dann ist sie mühselig und zeitaufwendig. Und mit dem sogenannten kurzen Prozess wird häufig kein Recht gesprochen, sondern nur ein Fall erledigt. Jeder Prozess ist ein Unikat und ein Richter hat die Verpflichtung, sich darum zu sorgen und das auch gegen Zumutungen seitens der Politik und der Verwaltung zu verteidigen.
    Heinemann: Wolfgang Neskovic, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und ehemaliger Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Neskovic: Ja, ich danke Ihnen auch. Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    *Die kursiv markierten Abschnitte wurden nachträglich angepasst. Korrigiert wurden Fehler, die aus der Verschriftlichung der Audio-Datei resultierten.