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Reduzierung von Treibhausgasen
EU-Klimaschutzziele setzen Deutschland unter Zugzwang

Beim EU-Gipfel einigten sich die Staats- und Regierungschefs darauf, bis 2030 deutlich mehr Treibhausgasemissionen einzusparen als bislang verabredet. Zur Umsetzung der neuen Klimaschutzziele muss sich Deutschland in den nächsten Jahren kräftig ins Zeug legen.

Von Volker Mrasek | 14.12.2020
Windränder vor dramatischem Himmel mit Regenbogen entlang einer Autobahn
Um die Vorgaben aus Brüssel einzuhalten, muss unter anderem der ins Stocken geratene Ausbau der Windkraft in Deutschland schnell wieder Fahrt aufnehmen. (imago images/CTK Photo/Grzegorz Klatka )
Ursprünglich wollten die EU-Staaten ihren Treibhausgas-Ausstoß bis zum Jahr 2030 um 40 Prozent verringern, bezogen auf 1990. Jetzt sollen es 55 Prozent sein, obwohl schon das vorherige Ziel nach Stand der Dinge nicht so leicht zu erreichen wäre. Was die Verschärfung bedeutet, erläuterte Patrick Graichen, der Direktor der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende, gleich zu Beginn der virtuellen Pressekonferenz heute Vormittag.
"Die ersten Abschätzungen für die 2019er-Emissionen waren, dass die EU gegenüber 1990 24 Prozent Treibhausgase eingespart hat. Die Briten sind hier schon rausgerechnet. Im Kern heißt das: In den nächsten zehn Jahren machen wir so viel wie in den letzten 30 Jaren. Das heißt: Eine Verdreifachung der Klimaschutzanstrengungen ist das, was im Kern von den Staats- und Regierungschefs am Freitag beschlossen wurde."
Deutschland muss seine Einsparziele erhöhen - von 55 auf 65 Prozent
Deutschland ist der mit Abstand größte Klimasünder in der EU. Sein Anteil an den Gesamtemissionen beträgt knapp ein Viertel. Länder wie Frankreich oder Italien stoßen nicht einmal halb so viel CO2 aus. Also muss auch hierzulande nachgebessert werden. Doch wie stark? In einer Klimaneutralitätsstudie habe sich der Think Tank Agora-Energiewende genau diese Frage gestellt, so Patrick Graichen, weil man das Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren, kommen sehen habe: "Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das deutsche Klimaschutzziel um zehn Prozentpunkte auf minus 65 Prozent erhöht wird."
Laut dem Agora-Chef ist das Wichtigste dabei, die CO2-Emissionen im Stromsektor weiter zu vermindern. Die Energiewende müsse konsequent fortgesetzt werden, durch einen stärkeren Zubau von Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen. Das sei auch der tragende Pfeiler in der Strategie auf EU-Ebene: "Ich brauche sauberen Strom, um die Kohle zu ersetzen und um die Elektrifizierung bei Wärme, Verkehr und Industrie hinzukriegen. Und das heißt, ungefähr 10 Gigawatt Photovoltaik im Jahr bauen, ungefähr 5 Gigawatt Wind onshore bauen und ungefähr 2 Gigawatt Wind offshore bauen."
Erneuerbare Energien müssen schnell massiv ausgebaut werden
Summa summarum entspreche das einer zusätzlichen Leistung von etwa 20 Kohlekraftwerken pro Jahr. Die sei auch nötig, weil der Strombedarf ja steige, zum Beispiel durch viel mehr Elektroautos auf unseren Straßen. Zu schaffen sei solch ein rasanter Aufwuchs der Produktionskapazitäten durchaus, so Patrick Graichen: "Das ist schon gemacht worden. Wir waren jeweils schon ‘mal in manchen Jahren bei diesen Mengen. Diese Peak-Jahre, die wir hatten, sind dann jetzt die zentrale Zubau-Zahl für die nächsten zehn Jahre. Und das muss man jetzt ins Gesetz gießen. Höhere Ausschreibungen, entsprechende beschleunigte Genehmigungsverfahren – alles, was es dazu braucht.
Die stärkere Nutzung von Wasserstoff; weniger Düngemittel in der Landwirtschaft; 14 Millionen Elektro-Pkw im Jahr 2030 und nicht bloß zehn wie bisher angepeilt; sechs Millionen Häuser, die mit emissionsfreien Wärmepumpen geheizt werden und nicht mehr mit Erdöl oder Erdgas; ein stärkerer Ausbau von sauberen Nah- und Fernwärme-Netzen – all das wird jetzt nach den Hochrechnungen der Berliner Energieexperten nötig sein.
Andere Länder zeigen, wie es geht
Allerdings tut sich Deutschland auf diesen Feldern schon heute außerordentlich schwer. Die Emissionen sinken hier kaum oder steigen sogar. Andere Länder in Europa machten vor, wie es geht, so Patrick Graichen: "Gucken Sie sich die Entwicklung in Schweden an. Beeindruckend! Gegenüber 2000 haben die die Emissionen im Gebäudesektor um 80 Prozent gesenkt. Und wie haben die das gemacht? Zwei Strategien: Fernwärme in den Innenstädten und Elektrifizierung in den Ein- und Zweifamilienhäusern mit der Wärmepumpe. Das ist im Prinzip der Weg nach vorne. Und dass wir das in Deutschland nicht hinkriegen, liegt nicht daran, dass das technisch nicht möglich ist."
In der sogenannten Kohle-Kommission hat man sich in Deutschland darauf verständigt, dass das letzte Braunkohlekraftwerk erst 2038 abgeschaltet wird. Die EU-Kommission geht jetzt aber davon aus, dass schon 2030 Schluss ist mit der klimaschädlichen Kohleverstromung. Auch deshalb, weil sich der Preis für jede ausgestoßene Tonne CO2 im europäischen Emissionshandel verteuern soll.
"Wir werden früher aus der Kohle aussteigen"
Deutschland werde sich dieser Entwicklung nicht entziehen können, sagt auch Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung: "Die Zielvorgabe der EU bedeutet für Deutschland, dass wir im Kern alle Klimaschutzmßnahmen, die wir beschlossen haben, uns nochmal neu anschauen müssen. Das geht los bei der Frage Kohleausstieg. Es ist ja sehr wahrscheinlich, dass der CO2-Preis im europäischen Emissionshandel sehr viel stärker steigt, als wir das gedacht haben. Wir werden sicherlich Preise sehen um die 60, 70 Euro. Und deswegen werden wir sehr viel früher aus der Kohle aussteigen, als es die Kohle-Kommission vorgeschlagen hat."
Im zurückliegenden Jahrzehnt hat Deutschland in seinen Klimaschutz-Anstrengungen merklich nachgelassen. In den kommenden zehn Jahren wird es nun durch das verschärfte Ziel der EU umso mehr Gas geben müssen.