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Referendum Griechenland
"Unser Europa droht auseinanderzufallen"

Mit ihrer Politik wollten die Finanzminister und Staatschefs der EU verhindern, dass Griechenland anderen Ländern demonstriert, dass man sich lösen könne von dem, was mächtige Dritte vorschreiben, sagte Günter Verheugen (SPD) im DLF. Den von Yanis Varoufakis angekündigten Rücktritt bezeichnete der frühere EU-Kommissar dennoch als "gutes Zeichen".

Günter Verheugen im Gespräch mit Jasper Barenberg | 06.07.2015
    Günter Verheugen
    Der angekündigte Rücktritt von Varoufakis sei ein gutes Zeichen, es müsse neu angefangen werden, sagte der (dpa / picture-alliance / Grzegorz Momot)
    Ein Rücktritt vom griechischen Finanzminister Varoufakis erleichtere das, was nun unbedingt notwendig sei - neuanzufangen. Und da sei es durchaus hilfreich, wenn man es nun mit neuen Personen zu tun habe, sagte Günter Verheugen.
    Notwendig sei es nun, ein vor allem langfristiges Konzept zur Umstrukturierung der griechischen Schulden zu schaffen. Solche Änderungen seien nicht kurzfristig zu erreichen, sagte Verheugen. Genau das aber habe die Troika und auch die Politik in Berlin stets gewollt - "ein Grundfehler".
    Ein wesentlicher Grund dafür, dass der Streit um Griechenland so verbittert geführt werde und über die eigentliche Sache weit hinausgehe, sei es, dass die EU verhindern wolle, dass das griechische Modell des erfolgreichen Widerstands auf andere Länder überschwappe.
    Bezogen auf das Szenario eines Austritts Griechenlands aus dem Euro sagte der ehemalige EU-Kommissar: "Danach ist die Situation nicht besser. Die Griechen stellen nichts her, womit sie auf dem Weltmarkt durch niedrige Preise und Löhne ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen könnten."
    Von den Staats- und Regierungschefs erwarte Verheugen nun das Signal: Wir stehen zusammen und werfen keinen über Bord.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Am Telefon ist Günter Verheugen, der Sozialdemokrat und frühere EU-Kommissar. Schönen guten Morgen.
    Günter Verheugen: Guten Morgen!
    Rücktritt von Varoufakis ein gutes Zeichen
    Barenberg: Wir haben gerade diskutiert mit dem Korrespondenten. Janis Varoufakis, der griechische Finanzminister, hat seinen Rücktritt angekündigt. Ist das auch aus Ihrer Sicht ein gutes Zeichen?
    Verheugen: Ja, das ist ein gutes Zeichen, denn es erleichtert das, was jetzt unbedingt notwendig ist, dass man mal einen Augenblick innehält und sich klar wird, dass wir neu anfangen müssen, die Vergangenheit hinter uns lassen müssen, diese ganze vergiftete Atmosphäre, diese gegenseitigen Vorwürfe, das ganze Klein-Klein, und da ist es manchmal in der Tat hilfreich, wenn man es mit neuen Personen zu tun hat.
    Barenberg: Warum fällt es eigentlich allen Beteiligten im Moment so wahnsinnig schwer, genau das zu tun, einen Strich darunter zu machen unter die Konfrontationen, die wir erlebt haben in den letzten Monaten und wochenlang, und jetzt konstruktiv zu überlegen? Man spürt doch, dass da sehr viel Verletzung und Verbitterung auf beiden Seiten ist.
    Verheugen: Ja. Ich kann das auch nicht erklären mit einer Auseinandersetzung über eine Sachfrage. Mir kann keine Angela Merkel oder kein Wolfgang Schäuble erklären, dass sie das Schicksal unseres Kontinents abhängig machen wollen von der Frage, wie stark die Renten für die alten Leute in Griechenland gekürzt werden. Das ist ja absurd! Da muss es um etwas anderes gehen und nach meiner Meinung geht es hier darum, dass man verhindern will, dass ein Land wie Griechenland anderen Ländern demonstriert, dass man sich lösen kann von dem, was mächtige Bürokraten und unter Umständen auch mächtige Politiker in Brüssel, in Berlin und anderswo ihnen vorschreiben. Ich glaube, in Berlin hat man eine schreckliche Angst davor, dass andere auf die Idee kommen könnten, na ja, dann ist das bei uns ja vielleicht auch so, dass wir uns wehren können und dass wir nicht alles das machen wollen, was die uns auferlegen. Ich denke, das ist der Grund, warum es ein so verbitterter und so tiefer Streit ist. Aber der geht inzwischen so weit, über die Sache weit hinaus, dass wir wirklich heute konstatieren müssen, unser Europa droht auseinanderzufallen. Und ich übertreibe nicht! Es droht, auseinanderzufallen, und das darf natürlich nicht passieren.
    "Das wird ein Test auf die Europafähigkeit nicht zuletzt der deutschen Parteien"
    Barenberg: Nun ist das Gegenargument, inzwischen wäre jedenfalls ökonomisch ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro durchaus verkraftbar. Was das politisch bedeuten würde und für die Eurozone insgesamt und ihre Bedeutung in der Welt, ist natürlich eine andere Frage. Wo sehen Sie da die großen Gefahren?
    Verheugen: Wissen Sie, ich kenne die Ökonomen, die das sagen. Ich kenne natürlich auch Ökonomen, die etwas anderes sagen. Das hilft uns leider nicht sehr viel, gibt uns nicht sehr viel Orientierung. Ich frage nur diejenigen, die seit einiger Zeit ja schon den Austritt Griechenlands aus dem Euro betreiben: Was glauben die ist danach besser? Wieso sollte die Situation in irgendeiner Weise besser sein? Die Schulden bleiben in Euro bestehen. Diese neue Währung wird dramatisch abgewertet. Die Griechen stellen nichts her, womit sie auf dem Weltmarkt durch niedrige Preise und niedrige Löhne ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern könnten. Das ist wirklich totaler Unsinn. Aber die politischen Folgen, wenn es passiert, dass die Welt um uns herum erkennt, der Zusammenhalt Europas ist nicht mehr garantiert, die können wirklich sehr, sehr weitreichend sein. Darum erwarte ich von unseren Staats- und Regierungschefs diese Woche, dass der Welt ein klares Signal gegeben wird. Wir stehen zusammen und wir kippen keinen über Bord! Das wird ein Test, sage ich Ihnen. Das wird ein Test auf die Europafähigkeit nicht zuletzt der deutschen Parteien. Die müssen jetzt mal zeigen, ob sie das wirklich ernst meinen mit ihren europäischen Bekenntnissen, oder ob in dem Augenblick, wo es ernst wird, die kleinen nationalen und parteipolitischen Interessen überwiegen.
    "Mir scheint, dass gerade die deutsche Politik sich ziemlich verrannt hat"
    Barenberg: Die ersten Reaktionen deuten ja ein wenig in eine andere Richtung, Günter Verheugen. Da ist der Tenor eher, wir haben da eine Grenze erreicht, wir sind nicht bereit, diese Grenze noch weiter zu überschreiten und Griechenland noch mal weiter entgegenzukommen, weil das auch ein verheerendes Signal wäre für alle anderen Staaten, die Reformen nötig haben, und auch ein verheerendes Signal für die Eurozone insgesamt. Welche Hoffnung haben Sie, welche Zuversicht haben Sie, dass sich das noch ändern könnte?
    Verheugen: Sie haben ja gerade bestätigt die Sorge, die ich eben geäußert habe. Es ist präzise das, was man verhindern will, dass dieses griechische Modell auf andere überschwappt. Das Ergebnis wird sein, wenn wir so weitermachen wie bisher, dass die Spaltung Europas in Nord und Süd oder in links und rechts oder in Linkspopulismus und Rechtspopulismus immer tiefer wird, dass es immer schwerer wird, noch gemeinsame Lösungen zu finden. Ich meine, wenn wir schon dieses Griechenland-Problem nicht regeln können, was haben wir für Vorstellungen davon, wie wir mit den großen Weltproblemen umgehen wollen, zu denen wir ja auch eine Meinung haben sollten. Mir scheint, dass gerade die deutsche Politik sich ziemlich verrannt hat hier, und ich weiß, dass das schwer ist zuzugeben, dass man sich geirrt hat, dass die Annahmen falsch waren, was Griechenland liefern kann, dass auch die zeitlichen Vorstellungen vollkommen abenteuerlich waren, in welchen Zeiträumen das geschehen kann, und dass es ganz besonders schwer ist, vor die Wähler hinzutreten und zu sagen, wir müssen euch leider sagen, dass wir teilen müssen mit den anderen und dass unser schönes Geld für einen bestimmten Teil jedenfalls nicht wieder in unsere Kassen zurückkommen wird. Diesen Mut vermisse ich.
    "Wir brauchen eine ganz langfristig ausgerichtete Umstrukturierung"
    Barenberg: Wir wollen uns nicht in die Einzelheiten vertiefen. Aber was wird aus dem Prinzip Hilfen gegen Auflagen, gegen Verabredungen, gegen Bedingungen?
    Verheugen: Wissen Sie, wenn jemand mit einem Herzinfarkt in die Notaufnahme kommt, dann werden die Ärzte nicht als erstes sagen, das kommt vom Rauchen, vom Saufen, vom fetten Fressen und von zu wenig Bewegung, jetzt wollen wir erst mal darüber diskutieren, wie wir das ändern, sondern sie werden erst einmal helfen. Ist das so? - Und ich glaube, so ist es in diesem Falle auch, denn dieses Land steht am Abgrund. Nichts desto weniger ist vollkommen klar, dass hier Änderungen eintreten müssen, aber diese Änderungen - und das ist der Grundfehler der Troika gewesen und ich denke auch der Grundfehler der Politik in Berlin -, diese Änderungen sind nicht kurzfristig erreichbar. Wir hatten doch 2010 die Vorstellung, 2012 ist alles schon wieder in Ordnung. Wir reden hier aber über einen Prozess, der wahrscheinlich über Jahrzehnte gehen wird, und das heißt, was wir brauchen, ist eine ganz langfristig ausgerichtete Umstrukturierung der griechischen Schulden, verbunden mit einem langfristig ausgerichteten Konzept, wie die griechische Volkswirtschaft und die griechische Verwaltung und alles modernisiert werden kann, sodass es den Ansprüchen des 21. Jahrhunderts gerecht wird.
    Barenberg: ..., sagt der SPD-Politiker Günter Verheugen, früher EU-Kommissar in Brüssel. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen und das Gespräch heute Morgen, Herr Verheugen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.