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Reformationen
95 Fragen ohne Lutherbrille

Die Reformation war nicht das Werk eines einzelnen Menschen. Davon ist der EKD-Kulturbeauftragte überzeugt. Johann Hinrich Claussen stellt die "95 wichtigsten Fragen" zur Reformation in seinem gleichnamigen Buch, das alles ist, bloß keine Luther-Jubelarie.

Von Andreas Main | 21.08.2017
    Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD - Berlin Februar 2016
    Johann Hinrich Claussen gelingt es, Reformation herunterzubrechen ohne banal zu werden (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel)
    Johann Hinrich Claussen, der EKD-Kulturbeauftragte hämmert keine 95 Thesen. Er stellt 95 Fragen.
    "Die eigentliche Idee ist eben, kurz, zackig und prägnant und mit einem kleinen Piekser in jeder Frage."
    Mit einem kleinen Piekser. Und auch wenn man dem Rezensenten der Neuen Zürcher Zeitung zunächst zustimmen mag, dass Claussens 95 Fragen "manchmal schlicht klingen":
    "Wie hat Luther ausgesehen?"
    Oder:
    "Wie fand Luther sein Glück?"
    Oder:
    "Warum hat Luther das Poesiealbum erfunden?"
    "Das war richtig Schwerstarbeit"
    Die Antworten sind alles andere als schlicht, oder um nochmals den NZZ-Kritiker zustimmend zu zitieren:
    "Umso interessanter sind die Antworten. Claussen kann komplexe Sachverhalte bestechend einfach schildern, ohne jedoch banal oder überheblich zu werden; für sein Buch brauchen Leser keine Vorkenntnisse, nur Interesse."
    "Ja, weil die Leute das nicht mehr wissen. Deshalb muss man das einfach und klar darstellen - und das ist ganz schön schwierig", sagt Claussen.
    Ein Balanceakt, bei dem Johann Hinrich Claussen niemals abstürzt.
    "Es gibt eine feine Grenze zwischen Elementarisierung und Banalisierung. Und es ist einfacher, über die Reformation ein tausendseitiges Buch zu schreiben als ein Buch von 120 Seiten. Und deshalb habe ich richtig geschwitzt, es einerseits zu kondensieren, einfach zu machen, gut lesbar zu machen - und trotzdem einen Gedanken in jede Seite reinzusetzen. Das war richtig Schwerstarbeit. Ich hoffe, man merkt es dem Buch nicht zu sehr an."
    Nein, es ist dem Buch nicht anzumerken. Auch wenn es mehr als 120 Seiten sind. Nämlich 175, um genau zu sein.
    Reformation im Plural
    Claussen ist Angestellter jener Kirche, deren Reformationsbotschafterin das Reformationsjubiläum organisiert hat. Man könnte Claussen also als EKD-Funktionär bezeichnen. Doch seine Unabhängigkeit ist bestechend. Sein Buch ist keine Jubiläumsbroschüre. Ganz im Gegenteil: Claussens Blick ist nicht verengt. Kritische Punkte werden angesprochen. Claussen hat keine Lutherbrille auf. So bekommt Luther zwar 65 Seiten, ausführlich werden aber auch andere Reformationsströmungen gewürdigt. Zwingli oder Calvin oder andere revolutionäre Reformatoren sind mit 35 Seiten vertreten. Dann geht es um europäische Reformationen - also Plural -, dann um die katholische Reform, früher als Gegenreformation bekannt. Und schließlich macht Claussen den Sack zu, indem er die "kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung der Reformationen" - wieder Plural - beleuchtet sowie abschließend die "Reformationen in der Moderne".
    Das Licht ist auf den Kandelaber gestellt - Jan Houwen stellt ein imaginäres Treffen Luthers und Calvins mit anderen Reformatoren dar, darunter auch John Wyclif.
    Reformation ist mehr als nur Luther (imago stock&people)
    Zwischendurch findet Claussen auch noch Zeit für Spiritualisten wie Sebastian Franck, den heute kaum noch jemand kennt und der alle kirchlichen Institutionen in Frage stellte - auch evangelische. Claussen widmet mehrere Kapitel den Täuferbewegungen, die massiv verfolgt wurden von katholischen und evangelischen Christen. Nicht nur in Münster. Doch auch dieser so ganz andere Flügel der Reformation hat die Welt verändert. Letztlich reüssierten die Täufer, einst vom Theologen Ernst Troeltsch als die "Stiefkinder der Reformation" bezeichnet. Sie expandierten über die Niederlande, England bis in die USA. Wie die verschiedenen Reformationen uns bis heute beeinflussen, beschreibt Claussen so:
    "Der große kulturelle Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa hat darin seine Wurzel, dass die "Stiefkinder der Reformation" hier die Gesellschaft prägen konnten. Wie sie dies taten, ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Ins Auge springt ein aggressiver Konservativismus. Besonders fatal wirkte die "Southern Baptist Convention", die größte Denomination der USA, die über viele Jahrzehnte den Rassismus der Südstaaten steuerte und rechtfertigte. Aber auch die Gospelmusik, die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und ihr gewaltloser Widerstand sind Urenkel der Täuferbewegung. Der Baptistenprediger Martin Luther King war ein Nachfahre von Konrad Grebel, Balthasar Hubmaier und Menno Simons."
    Martin Luther King jr. bei einer Rede am 01. Januar 1960 in den USA
    Martin Luther King als "Urenkel der Täuferbewegung" (imago/ZUMA/Keystone)
    Johann Hinrich Claussen sagt: "Ja, das war auch für mich mein eigenes Lerninteresse. Ich wollte noch mal was lernen beim Schreiben dieses Buches - und ich hatte verschiedene echte Bildungserlebnisse. Erstens: die Pluralität der Reformation. Reformation - kein deutsches Nationaleigentum, sondern eine europäische Bewegung. In allen europäischen Ländern gab es Reformation - und wenn man sich heute Europa anguckt, entdeckt man davon ganz viel wieder. Zweitens: Protestantismus als Flüchtlingsbewegung. Finde ich auch wichtig. Hatte ich vorher so auch nicht drauf, wie stark der Protestantismus geprägt ist von Flucht- und Migrationserfahrung. Und drittens immer dieser Abgleich: Was ist historisch, vergangen, fremd, auch - wollen wir nicht mehr? Und was ist ein Impuls, der uns heute noch beschäftigt? Das waren meine drei Hauptfragen."
    Claussen gelingt genau dies: Er erklärt einer großen Leserschaft, warum die Beschäftigung mit der Reformation oder den Reformationen bis heute relevant und aktuell ist. Und gleichzeitig tut er nicht so, als wäre uns Luther heute nicht fremd.
    "Manchmal gibt es auch ein Finden"
    Als hätte Claussen jene Debatte, die im Frühjahr aufbrach, vorab geahnt: den Streit zwischen einigen EKD-Theologen und einigen Universitätstheologen. Die EKD forderte sie auf, sie sollten Luther und die Reformation bitte schön mal für uns Heutige erklären. Und seine bleibende theologische Aktualität. Warum dies nicht geschehe? Die akademischen Theologen fühlten sich gemaßregelt, sahen sich ihrer Freiheit beraubt.
    Streit gehört zum Protestantismus, sagt Johann Hinrich Claussen, wie die Luft zum Atmen. Bezeichnend, dass in seiner Literaturliste auch jene Theologen auftauchen, mit denen die evangelische Kirche im Clinch liegt. Bezeichnend aber auch, dass er auf die Frage nach der Relevanz des Reformations-Themas nicht ausweicht:
    "Die Frage des je Einzelnen nach seinem Gewissen, nach seinem Glauben. Dieses Ringen, Suchen. Und dass einem das keiner abnehmen kann - das ist das eine. Das Zweite: dass daraus nicht nur ein Suchen entsteht, sondern manchmal gibt es auch ein Finden. Und das kann einen befreien zu einem anderen, entspannteren, engagierteren Leben hier auf dieser Welt", sagt Claussen.
    Lange, viel zu lange lag dieses Buch auf einem Bücherstapel in einem Büro im Deutschlandfunk. Auf einem Stapel unaufgefordert zugesandter Bücher. Es schien wichtigere Lektüre zu geben. Jetzt endlich - ein halbes Jahr später - ist dieses kleine Buch von Johann Hinrich Claussen zu Ende gelesen: ein schlaues, ein herzerwärmendes Buch. Ein Segen, dass dieses Buch sich nicht weiter im Stapel der ungelesenen Bücher versteckt hielt. Das hat es nicht verdient.
    Johann Hinrich Claussen: Die 95 wichtigsten Fragen: Reformation, Verlag C.H.Beck, 10,95 €. Weitere Reformationsbücher zu finden in unserem Dossier "Luther Lesen".