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Reformationsjubiläum
"Luther könnte man im Jahr 2017 mal gelesen haben"

Im Reformationsjubiläum 2017 drohten Theologie und Religion in den Hintergrund zu treten, sagte der evangelische Theologe Volker Leppin im Deutschlandfunk. Es gebe jede Menge Bücher von Kulturwissenschaftlern über Martin Luther - dabei könne man auch einfach Luther selbst lesen. Zum Beispiel seine Freiheitsschrift.

Volker Leppin im Gespräch mit Andreas Main | 15.12.2016
    Eine Lutherfigur steht auf Volker Leppins Buch "Die fremde Reformation" und blickt in die Ferne.
    Eine Lutherfigur steht auf Volker Leppins Buch "Die fremde Reformation" und blickt in die Ferne. (Christian Röther)
    Andreas Main: Die FAZ, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat vor einigen Wochen einen Essay veröffentlicht, der es in sich hat. Geschrieben hat in Volker Leppin. Er ist evangelischer Theologe und Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. In besagtem Essay schreibt er, die Reformation werde nur noch als kulturelle Umwälzung beschrieben, bei die Religion nur noch unter ferner liefen wichtig ist. Ein solcher kulturwissenschaftlicher Zugang greife aber zu kurz. Luther – ohne Theologie? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Volker Leppin, von dem zuletzt das Buch "Die fremde Reformation" erschienen ist. Guten Morgen, Herr Leppin.
    Volker Leppin: Guten Morgen Herr Main.
    Main: Woran machen Sie das fest, dass es im gegenwärtigen Luther-Boom die Tendenz gibt, die Theologie zu ignorieren?
    Leppin: Dazu hilft der schlichte Blick, auf den Buchmarkt zu schauen. Wo kommen die meisten Bücher her, auch die erfolgreichsten? Ganz offen gestanden auch die beneidenswert erfolgreichsten. Hervorragende Bücher, spannend geschrieben mit interessanten Einsichten in Luthers Verhältnis zur Politik, in Luthers kulturelle Umstände, sein Verhältnis zur Leiblichkeit. Ungeheuer spannende Ansätze, von denen wir auch in der Kirchengeschichte und der Theologie gelernt haben und auch lernen müssen. Diese Ansätze dominieren momentan in einer Weise den Buchmarkt, dass ich in der Tat die Sorge habe, dass das, was Luther bewegte - Theologie und Religion, in den Hintergrund tritt.
    Professor Volker Leppin ist Kirchenhistoriker an der Universität Tübingen. In seinem jüngsten Buch bettet er den Reformator in spätmittelalterliche Frömmigkeitstraditionen ein und sieht in ihm weniger die Zäsur oder den Innovator schlechthin.
    "Luther ist ein Thema"
    Main: Die übergroße Mehrheit aller Publikationen, die aus Anlass des Reformationsjubiläums erscheinen, sind geschrieben von überwiegend männlichen Historikern und von Journalisten mit historischem Anspruch. Dieses Phänomen, was spiegelt das wider, was sagt das über unsere Gegenwart?
    Leppin: Es sagt zumindest aus, dass Luther offenbar ein Thema ist, das nach wie vor einen Markt gewinnen kann. Ein Journalist wird sich nicht einem langweiligen Thema zuwenden, nehme ich mal an. Das heißt, es ist eine Erwartung da, dass jemand, der eine gute Schreibe hat, auch ein Publikum dafür findet. Aber es heißt zugleich, dass nicht die Experten für seine theologischen Fragen zumindest im Vordergrund dieser Debatten stehen.
    Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass theologische Zugriffe sicherlich zum einen auch unter dem Verdacht stehen, dass man im Grunde vorurteilsbehaftet rangehe. Ein Lutheraner will seinen Luther möglichst gut darstellen. Zum anderen auch, dass Theologie sehr schnell im Bereich des "ach, doch etwas Komplizierten" abgeschoben wird.
    Main: Fühlen Sie sich also quasi missverstanden und unterbewertet?
    Leppin: Naja, so unglücklich bin ich in meiner Situation nicht. Das würde wahrscheinlich die Wahrnehmung falsch beschreiben. Die Perspektive eines einerseits Beteiligten, der zugleich versucht, sich im Vorfeld von 2017 zurückzulehnen und sich zu fragen: In welchem Spiel machst du da mit? Ich selbst argumentiere ja an bestimmten Stellen auch kulturwissenschaftlich und tue das gerne und lasse mich ein auf diese Debatten und frage auch oft, ob ich damit die Theologie nicht an bestimmten Stellen doch zu kurz kommen lasse.
    Main: Ich verstehe Ihre Position auch nicht als ein Lamento. Dennoch müssen Sie sich ja vielleicht als Theologe auch die Frage stellen lassen, wie konnte es dazu kommen, dass Ihnen – als Profession – auf diese Weise die Butter vom Brot genommen wird?
    "Kirchenhistoriker haben Jahrhunderte lang Luther theologisch verengt"
    Leppin: Es gibt sicherlich zwei Gründe. Man sollte erstmal bei dem Grund anfangen, der im eigenen Fach liegt. Wir selbst haben natürlich Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg Luther theologisch verengt. Wenn man hundert Jahr zurückblickt, da gab es zwei Themen für Luther 1917. Das eine war die Theologie, das andere war die Nation – in der Kombination hoch problematisch. Wir mussten in dem Fach Kirchengeschichte seit etwa den 60er Jahren dazulernen, dass es sozialhistorische Ansätze gibt - eben all das, was heute unter Kulturgeschichte gefasst wird. Das ist der eine Aspekt.
    Folge von 9/11
    Der andere Aspekt, der von außen kommt: Das sind sicherlich die Folgen des 11. September, dass das Thema Religion wieder mit einem Mal da ist, aber mit einer solchen Wucht, mit einer solche Breite da ist, dass auch Menschen sich dem Thema Religion zuwenden, die nicht genuin aus einem religionsorientierten Hintergrund kommen, sondern die mit ganz anderen Fragestellungen herkommen und sich nun das Thema Religion zu eigen machen. Auch das ist zunächst einmal ein Gewinn, dass neue Perspektiven entstehen. Aber es kann eben dazu führen, dass der Gegenstand Religion damit verengt wahrgenommen wird.
    "Leute, was passiert da?"
    Main: Um beim Beispiel Islam zu bleiben, wie allenthalben seit dem 11. September 2001, jenem Massenmord, über den Islam geredet wird … da sind ja viele Beteiligte unterwegs, die man als ahnungslos bezeichnen könnte – vor allem in Talkshows: die üblichen Verdächtigen. Ist es nicht letztlich unvermeidlich angesichts eines Phänomens, das man eben auch als Wiederkehr der Religion bezeichnet, dass Mitspieler dabei sind, die vielleicht nicht aus der Fachwissenschaft kommen?
    Leppin: Etwas, was unvermeidlich ist, muss deswegen nicht gut sein. Das heißt, wenn ich etwas wahrnehme, das zu diesem Problem gehört, dass man es nicht umgehen kann, sehe ich unsere Aufgabe auch darin, den Finger in diese Wunde zu legen und zu sagen: Leute, was passiert da? Und da passiert eine Eroberung eines Terrains, die es mit sich bringt, dass wichtige Aspekte dieses Terrains fortbleiben.
    Der Teufel - ein schwarzer Hund in Luthers Bett
    Main: Schauen wir uns mal die wichtigen Aspekte dieses Terrains an. Wenn Sie mehr über Theologie sprechen wollen im Reformationsjubiläum, dann heißt das, über Dinge sprechen, die die meisten heute kaum mehr verstehen. Also etwa über apokalyptische Strömungen, die damals verbreitet waren, vor allem auch über eine massive Angst vor Tod und Teufel. Der Teufel als reale Bedrohung, wie ist das heute vermittelbar?
    Leppin: Es ist als das Fremde vermittelbar. Und das finde ich dann wiederum das Spannende. Gerade Kulturhistoriker versuchen ja, fremde Kulturen zu verstehen. Das heißt, eigentlich müsste ein kulturhistorischer Ansatz sagen, ja, jetzt schaue ich auf dieses Fremde, jetzt schaue ich darauf, wie ein Martin Luther den Teufel schildert. Das hat der Theologe Heiko Augustinus Oberman vor 30 Jahren in seiner Biographie ganz intensiv getan, darauf zu gucken, was bedeutet es, dass jemand wie Martin Luther berichtet, ihm habe sich ein schwarzer Hund ins Bett gelegt und er habe gemerkt, der schwarze Hund, das sei eigentlich der Teufel gewesen.
    Der Beweis dafür ist, er hat den Hund gepackt und zum Fenster hinaus geworfen und hat hinterher geschaut und unten lag kein Hundekadaver. Also muss der überlebt haben, das konnte nur der Teufel, es war kein echter Hund. So schildert Luther seinen Umgang mit dem Teufel.
    "Die Fremdheit macht die Wucht Luthers aus"
    Das ist fremd. Und diese Fremdheit müssen wir heute vermitteln als Ausdruck dessen, dass Luther sich in einer Welt bewegte, in der dieser Teufel eine permanente Realität hatte. Das macht auch teilweise die Wucht Luthers aus.
    Main: Warum aber sollen sich Menschen heute mit etwas beschäftigen, was selbst Ihnen extrem fremd ist?
    Leppin: Ich gehe immer davon aus, ich kann gerade durch Fremdes viel lernen. Wenn ich hier immer wieder das höre und bestätigt bekomme, was ich ohnehin denke, dann mag mir das gut tun, aber Horizont erweitern - das kann ich nur dadurch, dass ich mit Fremden konfrontiert werde.
    Main: Wir haben bisher vor allem über die Rezeption von theologischer Forschung gesprochen, letztlich die publizistisch-mediale Seite. Wie sieht es aus, sofern Sie das überblicken können, auf der Ebene des Reformationsjubiläums, wie es die EKD feiert, die Evangelische Kirche in Deutschland. Werfen Sie ihr auch vor, sich nicht an den theologischen Kern der Reformation vorzuwagen?
    Leppin: Ich werde zumindest sagen, die EKD hat lange gebraucht, um sich diesem Kern zu nähern, hat das in verschiedenen Etappen getan. Es gab dann vor wenigen Jahren die Orientierungsschrift "Rechtfertigung und Freiheit". Das war im Grunde der Moment, in dem die EKD gesagt hat, jetzt beschäftigen wir uns mit Theologie. Das ist leider an bestimmten Stellen dann auf eine Weise geschehen – ich spreche als Beteiligter an diesem Papier -, die dafür gesorgt hat, dass es viel Aufregung von katholischer Seite gab.
    "Die Aufregung katholischer Theologen war berechtigt"
    Ich glaube, es ist auch etwas Berechtigtes daran, dass katholische Kollegen, auch ein katholischer Kardinal wie Kasper sagten, das Ökumenische ist zu wenig in dieses Papier hineingekommen. Interessanterweise ging der Lernprozess weiter, und es liegt mittlerweile ein gemeinsames Papier von der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD vor zum Thema "Healing of memories". Da, würde ich sagen, ist tatsächlich die EKD mit der Deutschen Bischofskonferenz zum Eigenen der reformatorischen Theologie gekommen.
    Wenn man bedenkt die Reformation beginnt mit dem Bußruf: "Unser Herr und Meister Jesus Christus, als er sagte, tut Buße, meint er, dass unser ganzes Leben Buße sein soll." So lautet die erste These gegen den Ablass. Nun erscheint ein Papier, das unter dem Gesichtspunkt "Healing of memories" sagt, wir schauen erst mal auf die schwierigen und negativen Folgerungen der Auseinandersetzungen der Konfessionen.
    Man wird einen Gottesdienst im kommenden März abhalten in Hildesheim mit dem EKD-Ratsvorsitzenden und dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. Da wird wirklich Theologie betrieben.
    "Heil allein aus Gnade"
    Main: Jetzt treiben wir mal weiter Theologie. Sie müssen uns mal kurz und knapp ein paar theologische Kernbegriffe Luthers erklären. Dann können Hörer ja selbst entscheiden, was sie mit der Theologie des Doktor Martinus Luther heute noch anfangen können. Beginnen wir also mit "sola gratia – Allein durch Gnade". Wie erklären Sie das heute?
    Leppin: Ich fange mit dem Historischen an und versuche, es dann auf die Gegenwart beziehen. Historisch heißt es, jemand, der von Gnade spricht, sieht sich in einer Situation im Angesicht Gottes, in der er sein Leben droht zu verfehlen und so unter der Sünde steht, dass Gott ihn gar nicht anerkennen kann, ihm nicht das Heil geben kann. Und in dieser Situation gibt Gott das Heil allein aus Gnade, nicht weil der Mensch etwas verdient hat, sondern Gott schenkt die Gnade. Das sind nun die Formulierungen, die einigermaßen in das 16. Jahrhundert passen und mit Begriffe wie Sünde und Gnade für uns heute schwer nachvollziehbar sind.
    Wenn ich aber versuche, es in die Gegenwart zu übersetzen, dann geht es bei dem "Allein aus Gnade" darum, dass wir den Sinn unseres Lebens nicht selbst produzieren können. Das ist eine Botschaft für das Jahr 2016/17, dass wir in einer gegenwärtigen Konstellation sind, in der wir permanent versuchen, unseren eigenen Sinn zu produzieren. Wir rennen ins Fitness-Studio, wir machen irgendwelche Leistungswettbewerbe, irgendwelche Rankings. Wir versuchen ständig, unserem Leben durch äußere Leistung Sinn zu geben.
    Und da hinein kommt die Botschaft: Das kannst du nicht! Und das musst du nicht! Der Sinn deines Lebens wird dir von außen geschenkt.
    Luther im Gegensatz zur "mittelalterlichen Leistungsgesellschaft"?
    Main: Jetzt haben Sie diesen Kernbegriff reformatorischer Theologie theologisch gedeutet. Ein Kulturwissenschaftler, ein Historiker würde es wie tun? Wovon hebt Luther sich damit ab?
    Leppin: Da sind wir an dem Punkt, wo die Gefahr einer Vereinfachung da ist. Wenn ich nicht die Feinheiten der theologischen Debatte nachvollziehe, dann droht sehr schnell, die Botschaft "Allein aus Gnade" zu einem Gegensatz zu einer dann sogenannten 'mittelalterlichen Leistungsgesellschaft' zu werden.
    Damit wird übersehen, dass theologisch gesprochen im Mittelalter permanent auch "allein aus Gnade" gesprochen wurde. Ein Thomas von Aquin hat das getan, viele Theologen des späten Mittelalters. Das heißt, nun beginnt der Punkt, an dem ich ganz feine Differenzierungen vornehmen muss. Das, was dann das Spezifische bei Luther ausmacht, ist, dass er, um die Gnade zu betonen, sagt, dann bleibt auf Seiten des Menschen auch nichts als "allein der Glaube".
    Allein durch den Glauben wird die Gnade zugeeignet. Nicht mal das ist die singuläre Besonderheit Luthers. Der Kommentar zum Römer-Brief, den er gelesen hat von Petrus Lombardus, hatte auch die Formulierung im Lateinischen "sola fide" – allein durch Glauben und setzte hinzu: ohne vorangehende Werke. Nun kommen wir ins ganz feine theologische Pro-Seminar, in dem wir dann auseinandernehmen müssen, was heißt das, ohne vorausgehende Werke. Das heißt, dass Petrus Lombardus davon ausgeht, allein durch den Glauben, der sich dann in Werken verwirklicht.
    Während Luther nicht nur sagen würde, allein durch den Glauben ohne vorauslaufende Werke, sondern überhaupt allein durch den Glauben ohne Werke. Das heißt, allein schon der Glaube führt dazu, dass ich das Heil bekomme - und ich stehe dann nicht mehr unter dem Zwang, gute Werke zu tun, tue sie aber freiwillig.
    "Schau auf die Wunden"
    Main: Jetzt versuche ich es mal zu formulieren, was womöglich der Kern Luthers ist und Sie müssen mir dann bestätigen, ob ich falsch oder richtig liege. Ich versuche es mit meinen Worten: Jahrelang ringt Luther mit sich, mit Gott und der Welt, bemüht sich, er ackert, um mit gottgefälligem Leben Erlösung zu finden. Aber er erkennt, das geht so nicht. Allein der Glaube, allein die Gnade kann ihm helfen. Und die kommt von Gott, von Christus. Ist es das, ist das der Kern? Oder verstehen ich Luther nach wie vor nicht richtig?
    Leppin: Letztlich ist das in der Tat der Kern, wobei man noch mal die Abfolge seiner Erkenntnisse mit in den Blick nehmen müsste. Das erste, worauf er blickt, sind nicht die abstrakten Begriffe Gnade und Glaube, sondern ist Christus. Sein Beichtvater Johann von Staupitz sagt: Das, worüber du die ganze Zeit nachdenkst – komplizierte Prädestinationslehre, das ist eigentlich nicht dasjenige, worum es geht, sondern schau auf Jesus Christus und seine Wunden.
    Wenn man das liest, eingebettet in einen theologischen und kulturwissenschaftlichen Horizont, dann muss man nur mal in eine mittelalterliche Kirche gehen mit spätmittelalterlicher Ausmalung und sich einen Schmerzensmann anschauen, dann weiß man, worum es ging: eine Identifikation mit dem Leidenden. Das war eigentlich der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung Martin Luthers.
    "Rauskommen aus dem theologischen Sumpf"
    Main: Sie haben uns jetzt Kernstücke der Theologie Luthers erläutert. Während Historiker das in ihren Publikationen oder in Interviews eher in homöopathischen Dosen machen, was womöglich leichter zugänglich ist für die breite Masse. Womöglich ergänzt sich das sogar und ist es gar nicht schwarz und weiß.
    Leppin: Natürlich ergänzt es sich. Wenn man sich zu solchen Punkten nur äußert, heißt es nur, man möchte eine bestimmte Position stark machen, die im Gesamten droht, nicht stark genug zu sein. Aber natürlich – das will ich auch noch mal ganz deutlich sagen – brauchen wir diese kulturwissenschaftlichen Studien. Wir brauchen sie auch, um aus den eigenen theologischen Sumpf heraus zu kommen.
    Leppin: Natürlich ergänzt es sich. Wenn man sich zu solchen Punkten nur äußert, heißt es nur, man möchte eine bestimmte Position stark machen, die im gesamten droht, nicht stark genug zu sein. Aber natürlich – das will ich auch noch mal ganz deutlich sagen – brauchen wir diese kulturwissenschaftlichen Studien. Wir brauchen sie auch, um aus den eigenen theologischen Sumpf heraus zu kommen. Natürlich ist das auch ungeheuer wichtig.
    Main: Es ist wichtig, um aus dem eigenen Sumpf herauszukommen - welchen Sumpf sehen Sie?
    Leppin: Man kann sich die ganze Zeit selbst bespiegeln in theologischen Fragen und damit die konkrete Anbindung an die Geschichte verlieren. Auch das ist in der evangelischen Lutherforschung immer wieder geschehen. Es gibt eine große Tradition der Lutherdeutung, die Luther auf hohem wissenschaftlichem Niveau jenseits der Zeiten verankert. Die sagt, es ist nicht Mittelalter, er ist nicht Neuzeit, steht außerhalb der Zeiten. Da ist ein historisch heutzutage nicht mehr akzeptabler Zugriff. Da mussten wir durch die Kulturwissenschaften rausgezogen werden aus diesem im Grunde auf eine Heiligsprechung hinlaufenden Umgang mit Luther.
    "Gefahr chronologischer Verengung"
    Main: Die Kulturwissenschaften – vor allem auch in Form von Wirtschaftswissenschaften - oder sozialwissenschaftliche Forschung wirft den Blick auf größere europäische Prozesse. Wir beide reden wieder auch die ganze Zeit über die Person Luther und seine Theologie. Mir scheint ja auch, dass diese Personalisierung manchmal ein Teil des Problems ist.
    Leppin: Genau ja.
    Main: Es wird nur noch über Luther-Bücher gesprochen, anstatt über Reformationsbücher. Es wird nur über Lutherjahr gesprochen und nicht über ein Reformationsjahr. Wenn man sich zu viel auf Luther konzentriert, das ist auch schon eine Falle – aus meiner Sicht.
    Leppin: In der Tat – das ist es. Es führt auch dann zu chronologischer Verengung. Wenn man den europäischen Blick weitet, dann beginnt die Reformation auch nicht 1517. Wer eine europäische Perspektive hat, muss sich von dem alten Modell lösen: "Am Anfang war Luther". Der muss darauf schauen, es gibt eine Bewegung in Böhmen um Jan Hus, die im 15. Jahrhundert einsetzt.
    Wenn ich die Verbindung von Ökonomie und kirchlichen Fragen ansehe, dann bin ich in Norditalien und den Niederlanden und sehe, wie da im Zuge der Renaissance eine ganze Menge sich schon entwickelt. Ich bin in Frankreich und sehe, wie sich dort der französische König mit seiner Kirche verselbständigt. Das ist ein gewaltiges Szenario, das die Reformation Anfang des 15. Jahrhundert beginnen lässt und eben nicht am 31. Oktober 1517 in Wittenberg.
    Main: Ich möchte jetzt abschließend von Ihnen einen Tipp bekommen, wie wir als Rezipienten in diesem Reformationsjubiläum am besten mit Luther und der Reformation umgehen sollten. Wir sollten – das ist Ihr Plädoyer – einerseits das Fremde anerkennen und dennoch versuchen zu überlegen, was hat das mit mir zu tun. Ist das der richtige Zugang, habe ich Sie richtig verstanden?
    Leppin: Das ist der richtige Zugang. Und den gewinnt man am besten, gar nicht mal, dass man Reformations- oder Lutherbücher liest, sondern dadurch, dass man Luther liest. Luthers Freiheitsschrift gibt uns einen Eindruck davon, wie fremd ein Autor ist, der davon redet, dass Seele und Christus sich wie Braut und Bräutigam vereinen können, und wie nah ein Autor sein kann, der davon spricht, dass der innere Mensch von äußeren Bindungen befreit werden muss und befreit werden kann durch Jesus Christus. Das ist auch ein Text, der über 500 Jahre hinweg ansprechen kann, der nicht allzu lang ist. Den könnte man im Jahre 2017 mal gelesen haben.
    Main: Empfiehlt der evangelische Theologe Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Danke Ihnen für Ihre Einschätzungen – vielen Dank.
    Leppin: Vielen Dank Ihnen.