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Regionalwahlen in Frankreich
"Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese"

Die zweite Runde der Regionalwahlen in Frankreich sei für den rechtsextremen Front National ein schwerer Dämpfer gewesen, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im DLF. Aus Sicht des SPD-Politikers hat die französische Gesellschaft in der Stichwahl gezeigt, dass sie ihre Grundwerte verteidigen will.

Martin Schulz im Gespräch mit Doris Simon | 14.12.2015
    Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments
    Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments (picture alliance/dpa/Rolf Vennenbernd)
    Martin Schulz bewertet den Wahlausgang in Frankreich als gut. Mit einer höheren Wahlbeteiligung als in der ersten Runde der Regionalwahlen und einer "Mobilisierung des Willens" habe man die Demokratiefeinde stoppen können, sagte er im Deutschlandfunk.
    Die Entscheidung der Sozialisten von Präsident François Hollande, Kandidaten in einigen Regionen zurückzuziehen, um die konservativen Konkurrenten zu stärken, sei richtig gewesen, so der SPD-Politiker Schulz. Beide demokratische Großparteien hätten sich entschlossen gezeigt, die Republik nicht in die Hände des FN fallen zu lassen. Der Wille zur Verteidigung gemeinsamer Grundwerte sei wichtig.
    Trotz einer großen Unzufriedenheit vieler Franzosen mit der wirtschaftlichen Situation sei der FN nicht so stark, wie es scheine. Das werde etwa durch die Wahlbeteiligung deutlich. Sie lag in der Stichwahl gestern um fast zehn Prozentpunkte höher als bei der ersten Runde der Abstimmung, bei der der FN noch als stärkste Kraft abschnitt. Im Falle noch höherer Wahlbeteiligungen bliebe FN-Chefin Marine Le Pen eine aussichtslose Kandidatin, sagte Schulz: "Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese."

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: In Frankreich haben die konservativen Republikaner von Ex-Präsident Sarkozy die zweite Runde der Regionalwahlen für sich entschieden und sieben der 13 Großregionen gewonnen. Fünf gingen an die regierenden Sozialisten. Der Front National, der noch in der ersten Runde vorne lag, gewann keine einzige Region. Aber das heißt längst nicht, dass er an Stimmen verloren hat. Das liegt eher daran, dass viel mehr Menschen als bei der letzten Wahl zur Wahl gingen, und es lag vor allem auch an den Sozialisten. Die haben nämlich in mehreren Regionen ihre Kandidaten zurückgezogen. Dadurch wurde nicht nur der Front National verhindert, sondern zugleich die politische Konkurrenz ins Amt befördert, eben die konservativen Republikaner. - Am Telefon ist jetzt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments (SPD). Guten Morgen!
    Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Simon.
    Simon: Herr Schulz, ist das aus Ihrer Sicht ein guter Wahlausgang?
    Schulz: Ja, in jedem Fall. Der Front National hat einen schweren Dämpfer hinnehmen müssen, hat viele Stimmen mobilisiert, wie schon im ersten Wahlgang, aber man sieht, dass bei einer höheren Wahlbeteiligung und bei der Mobilisierung des Willens der demokratischen Mehrheit im Lande diese Demokratiefeinde gestoppt werden können.
    "Man darf dieses wichtige Land nicht in die Hände dieser Leute fallen lassen"
    Simon: Aber eine große Zahl von Franzosen hat ja dieses Mal genauso wie beim ersten Mal Front National gewählt. Wäre es da nicht demokratischer gewesen, auf taktische Absprachen zu verzichten, also auch auf den Rückzug eigener Kandidaten der Sozialisten, vielleicht auch klüger, weil sich der Front National ja wie viele Parteien, wenn sie mal regieren, selber entzaubern könnte?
    Schulz: Wenn Sie eine Partei haben, die tatsächlich seriös regieren könnte oder regieren wollte, dann wäre das überlegenswert. Aber Ihre Frage muss man in zwei Teilen beantworten. Erstens einmal: In Frankreich hat sich gezeigt, dass es einen Willen gibt zur Verteidigung der republikanischen Werte: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Das sind ja nicht irgendwelche Worte, sondern dahinter steckt ein Konzept, das von Front National negiert wird, schlicht und ergreifend für falsch erklärt wird. Und dass sowohl die Mitte-Links- als auch die Mitte-Rechts-Bewegung, die gemäßigten Demokraten beider großen Lager sagen, wir lassen die Republik nicht in diese Hände fallen, das finde ich gut. Das ist ein großer Erfolg für Manuel Valls, den Ministerpräsidenten, der genau diesen Appell an die Wähler gerichtet hat. Zweitens: Das Programm des Front National ist, raus aus dem Euro und Wiedereinführung von Grenzen. Die französische Wirtschaft, die genau vom Euro und vom Export und Import stark abhängig ist, wäre binnen weniger Monate am Ende. Man darf dieses wichtige Land nicht wegen des Landes selbst, aber auch nicht wegen Europa in die Hände dieser Leute fallen lassen.
    Simon: Sie finden das ausdrücklich gut, dass Ihre Schwesterpartei in Frankreich Kandidaten zurückgezogen hat und am Ende dann die Republikaner gewinnen?
    Schulz: Im Gegensatz zur Partei von Nikolas Sarkozy, den sogenannten Republikanern, also der früheren UMP, die sich durch die konsequente Haltung der Sozialisten jetzt in sieben Regionen in der Mehrheit sehen, haben die umgekehrt ihre Kandidaten in einigen Regionen eben nicht zurückgezogen, was aber sicher zu schweren Auseinandersetzungen in der Partei führen wird. Denn die beiden großen Gewinner, Herr Estrosi im Süden und Herr Bertrand im Norden, zwei Schwergewichte in dieser Partei, haben sich gestern in ihren Reden ausdrücklich bei den Wählern der Linken für ihr Vertrauen bedankt. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Nicolas Sarkozy propagiert hatte. Ich glaube, dass die heute Morgen heftige Debatten haben werden. Aber wichtiger, viel wichtiger als das ist der Wille zur Verteidigung gemeinsamer republikanischer Werte. Der hat gezogen, der hat zehn Prozent mehr an die Wahlurnen gebracht. Es war eine Wahlbeteiligung von 59 Prozent. Ich glaube, dass bei einer normalen Wahlbeteiligung von zwischen 75 und 80 Prozent bei Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen das bleibt, was sie bisher auch war: eine aussichtslose Kandidatin.
    "Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese"
    Simon: Herr Schulz, bleiben wir noch mal kurz bei den Zahlen. Seit dreieinhalb Jahren regieren Francois Hollande und seine sozialistische Regierung Frankreich. Heute ist der Front National die stärkste Partei. Treibt die Politik der Sozialisten dem Front National auch die Wähler in die Arme?
    Schulz: Ich glaube, dass die französische Politik seit jeher ein größeres Protestpotenzial hat, als wir das in Deutschland kennen. Erinnern Sie sich an die Zeiten in den 70er-, 80er-Jahren. Sie, Frau Simon, kennen sich ja relativ gut aus. Da hatte die Kommunistische Partei um die 25 Prozent. Wenn Sie sich anschauen, in welchen Regionen damals die KPF stark war, sehen Sie, dass dort heute der Front National stark ist. Ich glaube, es gibt ein großes Maß an Enttäuschung aktuell, das dem Front National Wähler zutreibt. Das ist richtig.
    Simon: Aber es liegt nicht an den Sozialisten?
    Schulz: Es liegt ganz sicher daran, dass die Menschen unzufrieden sind mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Wirtschaftswachstum gering. Frankreich hat eine tiefe soziale Spaltung, die die sozialistische Regierung in den drei Jahren, in denen sie jetzt im Amt ist, noch nicht hat überwinden können. Das ist richtig. Die Wachstumsschwäche ist auch kein spezifisch französisches Problem. Das haben wir in der Eurozone außerhalb Deutschlands in vielen anderen Ländern, die auch konservativ regiert werden. Das ist insgesamt das Resultat einer Politik innerhalb der Eurozone, die viel zu wenig auf Wachstum und Investition gesetzt hat und viel zu stark auf ausschließliche Haushaltssanierung. Darunter leidet Frankreich stark. Dennoch glaube ich, dass die Unzufriedenheit hoch ist. Nur ich will Ihnen eines noch mal zu bedenken geben, um über den Front National sich keine Illusionen zu machen, und das tue ich nicht. Frau Le Pen ist eine Fraktionsvorsitzende in meinem Parlament. Ich muss jede Woche mit ihr mich auseinandersetzen. Der größere Teil der Wählerinnen und Wähler in Frankreich sitzt in der Wahlenthaltung. Auch bei diesen Regionalwahlen ist eine Wahlbeteiligung von 59 Prozent, zehn Prozent höher als im ersten Wahlgang, aber es ist ja keine hohe Wahlbeteiligung. Deshalb noch mal: Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese.
    Simon: Herr Schulz, wenn Frankreich den Rechtspopulismus wählt, auch wenn es jetzt erst mal andere Parteien wieder in die Regionen an die Macht befördert hat, wie sollten eigentlich Deutschland und andere EU-Länder reagieren? Zuschauen, weil es ja eine demokratische Entscheidung ist? Kann man mit einer Frau Le Pen zusammenleben?
    Schulz: Die Politik in Europa ist so, dass wir alle zusammenhängen. Die Zeiten, in denen Sie sagen konnten, was in einem Land geschieht, ist für ein anderes Land nicht maßgeblich und da darf sich ein anderes Land auch nicht drum kümmern, die sind vorbei. Wenn in Griechenland gewählt wird, dann schauen wir Deutsche nach Griechenland, so als würde bei uns gewählt, und wenn in Deutschland gewählt wird, tun das die Griechen umgekehrt. Erinnern Sie sich mal an den Sommer diesen Jahres, wie sehr die Wahlen in Griechenland unsere Innenpolitik bestimmt haben. Nein, natürlich geht uns das an, und im Übrigen: Ich wiederhole, Frau Le Pen ist Fraktionsvorsitzende im Europaparlament. Dort werden Gesetze verabschiedet, die sind für alle Bürgerinnen und Bürger Europas bindend. Deshalb kann man sich sehr wohl mal anschauen, was in Frankreich geschieht.
    "Vorsichtig sein mit Maßnahmen gegen Rechtspopulisten"
    Simon: Sie haben jetzt den Blick auf Europa geweitet. In der EU regieren, in Frankreich noch nicht, aber in der EU regieren immer mehr Populisten. Krasse Beispiele auf der rechten Seite sind zum Beispiel Ungarn und jetzt entwickelt sich da auch einiges in Polen. In Ungarn hat die EU ewig gewartet, bis sie Verfahren eingeleitet hat gegen Verstöße gegen EU-Recht. Wie lange wird sie in Polen noch zuschauen?
    Schulz: Ich will nichts beschönigen, aber, Frau Simon, wir haben nicht lange gewartet im Europaparlament, bis wir Debatten über Ungarn geführt haben.
    Simon: Aber bis dann was passierte durch die Kommission schon.
    Schulz: Sie müssen sich über Folgendes im Klaren sein. Sie müssen, wenn Sie ein Verfahren einleiten gegen einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union, nachweisen, dass der Mitgliedsstaat Europarecht vorsätzlich und systematisch gebrochen hat. Das ist nicht ganz einfach, das einem Land nachzuweisen. Und wenn Sie ein Verfahren einleiten, mit dem Sie dann anschließend scheitern, dann tun Sie denjenigen, die testen, wie weit sie gehen können, den Gefallen, weil Sie dann nämlich genau aus denjenigen Opfer machen, die eigentlich Täter sind.
    Simon: Aber es gibt ja noch Methoden davor. Man kann das ja deutlich ansprechen.
    Schulz: Richtig, und das ist die öffentliche Debatte, und das haben wir im Europaparlament ja auch in umfassender Form getan und Sie haben auch umfassend darüber berichtet. Und wir diskutieren jetzt über Polen, wir beide hier am Telefon, und das ist ja nicht der erste Fall, wo über ein Land diskutiert wird, und ich gebe immer eines zu bedenken. Bevor wir Maßnahmen ergreifen, ist die Erfahrung, die wir seit Haider in Österreich gemacht haben, die: Wenn die Rechtspopulisten das Argument in die Hand bekommen, äußere Kräfte, Fremde, andere Länder, fremde Institutionen würden versuchen, sich in die Innenpolitik ihres Landes korrigierend einzumischen, haben sie den größten Zulauf. Deshalb rate ich dringend dazu, dort immer sehr vorsichtig zu sein mit Maßnahmen. Etwas anderes ist die Debatte. Was sich da in Polen abspielt, hat Staatsstreich-Charakter und ist dramatisch. Ich nehme an, dass wir in dieser Woche im Europaparlament, spätestens in der Januar-Sitzung darüber umfassend diskutieren werden.
    Simon: Der Vorsitzende des Europaparlaments, Parlamentspräsident Martin Schulz von der SPD war das. Herr Schulz, vielen Dank!
    Schulz: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.