Samstag, 20. April 2024

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Regisseur Peter Greenaway
"Kunst sollte immer eine Opposition zum Status quo sein"

Eigentlich wollte er eine Dokumentation über den russischen Filmemacher Sergej Eisenstein und dessen Zeit in Mexiko drehen - doch dann kam alles anders: Im Gespräch erzählt Regisseur Peter Greenaway, warum er doch einen Spielfilm über sein Idol drehte und warum Tod und Sex die zentralen Themen des Films sind.

Peter Greenaway im Gespräch mit Florian Fricke | 11.11.2015
    Der britische Filmregisseur und Künstler Peter Greenaway beim Fototermin für die Aufführung seines Films "Goltzius and the Pelican Company" in Rom, aufgenommen am 11.11.2014.
    Der britische Filmregisseur und Künstler Peter Greenaway (picture-alliance / dpa / Claudio Onorati)
    Florian Fricke: Lernten sie das Werk Sergej Eisensteins auf einer Filmschule kennen?
    Peter Greenaway: Ich ging nie auf eine Filmschule. Ich wollte und will immer noch Maler werden, ich bin also im falschen Beruf gelandet. Ein italienischer Journalist fragte mich neulich: Wie kommt es eigentlich, Mister Greenaway, dass sie ihre Karriere als Maler begonnen haben und nun als Filmemacher arbeiten? Ich antwortete scherzhaft: Weil ich immer darüber enttäuscht war, dass es für Gemälde keinen Soundtrack gibt.
    Fricke: Als sie Eisenstein für sich entdeckten, waren sie gerade 17. Hatten sie zuvor von ihm gehört?
    Greenaway: Nein. Das griffen wir auch im Film noch einmal auf. Wenn ich versuche mit Anderen über Eisenstein zu reden, dann schauen die mich meist mit schiefem Kopf an und sagen: Sie meinen Einstein? Kaum jemand kannte ihn, und das hat sich auch kaum geändert hat, vermute ich.
    Fricke: Aber er beeinflusste ihr Werk?
    Greenaway: Ich glaube schon, ja. Ich weiß nicht, wie es ihnen geht, aber für mich brachte Kino eigentlich nicht viel Neues hervor. Nach allgemeiner Auffassung schärfte Eisenstein das Verständnis von der Blickrichtung. Aber das hat Van Eyck schon 1450 vorweggenommen. Schauen sie sich seinen Genter Altar an, die Anbetung des Lammes. Seine andere große angebliche Erfindung ist die Theorie der Filmmontage. Eisenstein entwickelte die nicht alleine, da wären noch Pudowkin, Wertow und Dowschenko zu nennen. Aber für mich ist Montage nur ein Modell, um gedankliche Verbindungen herstellen zu können. Poesie funktioniert über Assoziationen, anders als Prosa. Das heutige Kino basiert aber vor allem auf Prosa, es orientiert sich immer wieder am Buchladen. "Herr der Ringe" oder "Harry Potter" - das sind keine Filme, sondern illustrierte Bücher.
    "Ich hoffe, dass die Zuschauer die vielschichtigen Spielereien verstehen"
    Fricke: In welcher Verfassung war Sergej Eisenstein, als er nach Mexiko kam?
    Greenaway: Er ritt immer noch auf der Welle seines Erfolges. Weltweit hatte das kinointeressierte Publikum "Panzerkreuzer Potemkin" gesehen, jedenfalls bestimmt in Hollywood. Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks und Mary Pickford waren jedenfalls gleichermaßen geschockt und beeindruckt. Sie luden Eisenstein ein, weil sie gerne einen amerikanischen Eisenstein-Film ermöglicht hätten. Er nahm an. Angeblich wurden über 20 Projekte angedacht, auch eins über Karl Marx und das Kapital, was in den USA natürlich nicht so gut ankam. Aber kein einziges wurde verwirklicht. Eisenstein, mit der Überzeugung gekommen, der größte Filmregisseur zu sein, konnte nicht einfach mit leeren Händen zu Stalin zurückkehren. Flaherty und Chaplin überredeten ihn, nach Mexiko zu gehen, wo sie Freunde hatten, um dort einen Dokumentarfilm zu drehen. Und wieder scheitert er. Ursprünglich wollte ich einen Dokumentarfilm über diesen gescheiterten Film drehen. Aber dann begann ich just for fun Dialoge zu schreiben. Dokumentarfilme bleiben immer außerhalb eines Themas, Spielfilme haben da ganz andere Möglichkeiten. Und je mehr Dialog ich schrieb, desto mehr Leben kam in die Figuren. Ich wusste auch von seiner Homosexualität. Das findet sich alles in den Archiven in Moskau, zum Beispiel die Korrespondenz zu seiner späteren Ehefrau Pera Attaschewa. Die ist im Film die Frau am anderen Ende der Leitung.
    Fricke: War er denn wirklich noch Jungfrau, als er nach Mexiko kam?
    Greenaway: Anscheinend ja, aber es kommt auch auf die Definition an. Heißt das für eine Frau, dass sie ihr Jungfernhäutchen verliert? Heißt es für einen Mann, dass er seinen Penis in eine Vagina einführt? Eisenstein spielte mit der Vorstellung einer politischen und sozialen Jungfräulichkeit. Und dieses Bild von mir, eine kleine sowjetische Flagge in seinen Hintern aufzurichten, bezieht sich natürlich einerseits auf die eigentliche sexuelle Handlung. Aber man kann es auch so sehen: Vielleicht war der Sturm auf den Winterpalast des Zaren in St. Petersburg das Ende der russischen Jungfräulichkeit. Es ist eine Allegorie, eine poetische Geste. Und ich hoffe, dass die Zuschauer diese vielschichtigen Spielereien verstehen.
    "Revolutionen scheitern am Ende immer"
    Fricke: Ihre These ist also, dass Eisenstein erst in Mexiko seine empathische filmische Seite entdeckt hat, und zwar durch die Konfrontation mit Sex und Tod?
    Greenaway: Lassen wir uns doch bitte akademisch und pompös bleiben. Ich bevorzuge die Ausdrücke Eros und Thanatos, das verleiht der Geschichte diesen gewissen klassischen Hintergrund. Denken sie doch nur mal kurz darüber nach: Sex und Tod, oder Eros und Thanatos, sind nun einmal essenziell, so behauptet das auch mein Film. Über Sie weiß ich zum Beispiel gar nichts. Aber ich weiß, dass zwei Menschen miteinander geschlafen haben um sie zu zeugen, und sie werden auch sterben, so leid es mir tut. Sie rasieren sich die Haare, und das Sonnenlicht scheint gerade durch ihre großen Ohren. Das kann ich beobachten, aber sonst weiß ich über sie so wenig, wie über die anderen 70 Milliarden Menschen. Was könnte also noch wichtig sein? Ihre Entstehung, über die sie nichts wissen. Salvador Dalì behauptet dabei gewesen zu sein, als seine Eltern ihn zeugten, aber wie, das bleibt sein Geheimnis. Über den Tod wissen wir genauso wenig, weil im Moment des Sterbens gleiten wir schon ins Vergessen. Da bleibt nichts mehr zu assoziieren. Diese beiden Phänomene sind nicht verhandelbar, um die kommen wir nicht herum.
    Fricke: Würden sie denn sagen, dass das damalige Mexiko der genaue Gegenentwurf zum sowjetischen Russland darstellte?
    Greenaway: Nun, sie hatten gerade eine Revolution hinter sich gebracht, die sieben Jahre dauerte. Und darauf war Russland etwas neidisch. Aber stimmen wir nicht darin überein, dass Revolutionen am Ende immer scheitern? Weil die konservativen Kräfte letztendlich obsiegen. Napoleon zerstörte die Französische Revolution, und in Russland endet es mit Stalin. Die ganze Euphorie, der Idealismus, alles verpufft. Schauen sie sich den Arabischen Frühling an, was da alles hervorkommt. Das Übel, das man schon kennt, scheint doch das kleinere Übel zu sein. Ich bin ratlos. Für mich gibt es auch nicht die Geschichte, sondern nur Geschichtsschreibung.
    "Sich nicht gemein machen mit bourgeoisen Ideen"
    Fricke: Wie, glauben sie, wird der Film in Russland aufgenommen werden?
    Greenaway: Die Russen hassten das Projekt, und ich bekam eine Menge entsprechender Mails, sogar Drohungen. Aber Nikita Michalkow, der Putin sehr nahe steht und wohl der größte russische Mainstream-Regisseur ist, lud uns zum Moskauer Filmfestival ein. Und nun habe ich Einladungen aus Wladiwostok, Odessa und Kiew. Jemand fragte mich vor drei Tagen, ob ich ihm nicht heimlich eine Blu-ray-Disc schicken könne, weil so viele Menschen ihn gerne sehen würden. Wir haben sogar ohne irgendwelche Einflussnahme einen russischen Verleih gefunden. Ich wollte einen Film drehen, der Eisenstein feiert. Seine größte filmische Begabung war der Schnitt, aber er durfte sein mexikanisches Material nie schneiden. Von daher werden wir nie erfahren, was aus dem Film hätte werden können. Es ist eine Hommage, die seine Fähigkeiten als Cutter unterstreicht. Der Film ist gedacht als ein hoch artifizielles Schnittfeuerwerk, das sich allerdings mehr an der digitalen Revolution orientiert ist, als am klassischen Filmschnitt.
    Fricke: Und was erzählt "Eisenstein in Guanajuato" über Peter Greenaway selbst?
    Greenaway: Viele meiner Filme widmen sich Außenseitern, die außerhalb des Status quo stehen. Haben sie "Der Kontakt des Zeichners" gesehen, meinen ersten Film, der meine Eintrittskarte war in die Filmwelt? Oder "Verschwörung der Frauen", der in Deutschland sehr gut lief? Oder "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber"? Das sind alles Figuren, die gegen den Strich gebürstet sind. Kunst sollte immer eine Alternative sein, eine Opposition zum Status quo. Sich eben nicht gemein machen mit all diesen bourgeoisen Ideen, die gerade den Mainstream bilden. Meine Filme haben auch nie ein Happy End, das überlasse ich Hollywood, wo das Happy End obligatorisch ist. Aber vor allem - und das sage ich in aller Dankbarkeit und fern von jeglicher Arroganz - scheint es allgemein bekannt, dass wir schöne Filme machen, selbst wenn man die Idee dahinter nicht versteht. Und das ist mir sehr wichtig.