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Reha-Kampf

Jedes Jahr erleiden etwa 270.000 Menschen in Deutschland eine Schädelhirnverletzung. Glücklicherweise sind 90 Prozent davon nur leicht. Doch immerhin fast zehn Prozent sind mittelschwere oder schwere Schädelhirnverletzungen.

Von Renate Rutta | 16.03.2010
    Torsten Ritter sitzt in einem Rollstuhl und hat vor sich eine Tastatur. Den folgenden Text hat er eingetippt, die Stimme stammt von einem Sprachcomputer.

    "Guten Tag, ich bin Torsten Ritter und 27 Jahre alt. Wie Sie sehen, sitze ich im Rollstuhl und kann nur mithilfe dieses Computers sprechen."

    Das war nicht immer so. Torsten Ritter war 18 Jahre alt und stand kurz vor dem Abitur, als er einen schweren Autounfall hatte, bei dem sich der Wagen mehrmals überschlug. Die Diagnose im Krankenhaus lautete: schweres Schädelhirntrauma.

    "Das schlimmste für mich ist, dass ich nicht mehr sprechen kann. Dass ich nicht mehr laufen kann, kann der Rollstuhl ausgleichen oder ein Hilfsmittel, bei dem ich mich im Stehen fortbewege."

    Heute sitzt er also im Rollstuhl und ist dauernd auf Hilfe angewiesen. Nicht wenige Schädelhirnverletzte müssen – so wie er – quasi alles, was zum Leben gehört, mühsam wieder erlernen. Dabei profitieren viele von neuen Erkenntnissen. Professor Claus-Werner Wallesch von der BDH-Klinik Elzach:

    "In der Reha haben wir gelernt, die Lernfähigkeit des Gehirns besser zu stimulieren, als wir das früher gemacht haben. Also ein Gehirn lernt dann am besten, wenn man es richtig müde macht, also dass man doch große Behandlungsintensitäten in der Reha einsetzt. Also die Reha entwickelt sich immer weiter weg von der Kurortmedizin zu einem Ort, wo seitens der Patienten sehr viel gearbeitet werden muss."

    Jede Schädelhirnverletzung ist anders. Neu ist, dass heute Hilfsangebote und Aufbauprogramme darauf eingehen und individuell zugeschnitten werden können. Doch beklagt wird, dass die stationäre Behandlung heutzutage viel kürzer sei als noch vor zehn Jahren üblich. Professor Paul Schönle von der Maternus-Klinik Bad Oeynhausen:

    "Wir haben seit den 90er-Jahren ein sehr differenziertes neurologisches Rehasystem entwickelt, das sogenannte Phasenmodell, wo praktisch vom Koma bis zur beruflichen Wiedereingliederung der ganze Ablauf bedacht ist und organisiert ist. Nur ist es so, dass das nur die Anfangsphase betrifft aber nicht die langfristige Phase. Dann kommen die Patienten aus der Reha nach Hause und da fallen sie in der Regel in ein Loch, ein tiefes Loch. Weil vor Ort in der Gemeinde, in der Stadt meist keine ausreichenden Rehamöglichkeiten vorhanden sind."

    So kommt es, dass die Verletzten in manchen Fällen ihre anfänglich gewonnenen Fähigkeiten wieder verlieren.

    "Problem ist da, dass die genehmigte Zeitdauer für die Reha einfach zu kurz sind bei Hirngeschädigten. Wenn wir uns vorstellen, wie lange ein kleines Kind braucht, um gehen zu lernen, dann sind es über ein Jahr, eineinhalb Jahre unter Umständen. Wenn nach einer Hirnschädigung der Betroffene nicht mehr gehen kann, dann soll das in drei Wochen wiederhergestellt sein oder in sechs Wochen. Das ist völlig unrealistisch."

    Was also häufig fehlt, ist ein durchgehender Gesamtbehandlungsplan für den Patienten – und es mangelt an Unterstützung für die belasteten Angehörigen. Professor Wallesch:

    "Alle erwarten, dass der Angehörige eben dem Betroffenen hilft und ihn unterstützt. Auf die Belastung der Angehörigen schaut niemand, ob er das überhaupt will, ob er das überhaupt kann. Auf die Depressionen des Angehörigen schaut niemand. Also hier fehlt ein Hilfs- und Unterstützungsangebot – das andere Länder haben, zum Beispiel Finnland."