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Reichtum und Recht
Juristin Katharina Pistor erklärt den Code des Kapitals

Die renommierte Privatrechtsexpertin Katharina Pistor geht in "Der Code des Kapitals" der Frage nach, wie Reichtum entsteht. Dabei kommt sie zu dem Schluss: Das Privatrecht ist nicht nur ein mächtiges Werkzeug für die Ordnung des Sozialen, es spielt auch bei der Entstehung von Kapital eine zentrale Rolle.

Von Caspar Dohmen | 14.12.2020
Hintergrundbild: Die "Justitia", Göttin der Justiz und der Gerechtigkeit, steht auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt am Main. Vordergrund: Buchcover
Das Recht – prinzipiell ein „mächtiges Werkzeug für die Ordnung des Sozialen“ sei „fest in den Dienst des Kapitals gestellt“ (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt & Suhrkamp Verlag)
"Je mehr ich las, desto stärker war ich davon überzeugt, dass das, was mit einer Untersuchung des globalen Finanzsektors begonnen hatte, mich zum Quell des Reichtums geführt hatte: der Herstellung des Kapitals."
Schreibt die Juristin Katharina Pistor in der Einleitung ihres Buches. Angefangen hatte sie ihre Untersuchung nach der schweren Finanzkrise eigentlich, weil sie wissen wollte, was die strukturellen Ursachen für die stetige Expansion des Finanzsektors seien.
Dabei stieß sie auf die zentrale Rolle des Privatrechts, wenn es darum geht Kapital zu schaffen, ob Vertrags-, Gesellschafts- oder Eigentumsrecht. Das Recht – prinzipiell ein "mächtiges Werkzeug für die Ordnung des Sozialen" sei "fest in den Dienst des Kapitals gestellt", schreibt die renommierte Privatrechtsexpertin, die an der Law School der Columbia University in New York lehrt.
Rechtliche Codierung kann Vermögen schaffen und schützen
Für den Nationalökonomen Karl Marx spielt bei der Bildung von Kapital in seinem gleichnamigen bahnbrechenden Werk der Produktionsprozess eine zentrale Rolle, bei dem der Arbeiter den Mehrwert erzeugt, der zu einem gehörigen Teil von dem Kapitalisten vereinnahmt wird. Die Rechtsgelehrte Katharina Pistor stellt dagegen das Recht in das Zentrum ihrer politökonomischen Betrachtung:
"Nicht ein physischer Produktionsprozess, sondern die rechtliche Codierung ist das Entscheidende. […] Kapital ist, kurz gesagt eine rechtliche Qualität, die hilft, Vermögen zu schaffen und zu schützen."
Vorreiter dieses Modells waren demnach die englischen Landlords. Ursprünglich hatte die feudale Bodenordnung eine gemischte Nutzung vorgesehen. Es gab Land in Gemeinbesitz, sogenannte Commons. Aber die Adligen beanspruchten ab dem 15. Jahrhundert eine vorrangige Nutzung dieses Bodens, auch um ihn verkaufen oder beleihen zu können. Ihre Rechtsberater setzten diese Auffassung vor den Gerichten durch. Und dieses Muster wiederholte sich für die unterschiedlichsten Güter. Katharina Pistor:
"Sobald wir erkennen, dass das Kapital seine vermögensbildende Fähigkeit seiner rechtlichen Codierung verdankt, können wir auch sehen, dass im Prinzip jedes Gut in Kapital verwandelt werden kann. In diesem Sinne gibt es am ‚neuen Kapitalismus‘ nichts Neues. Das sich verändernde Gesicht des Kapitalismus einschließlich seiner jüngsten Hinwendung zur ‚Finanzialisierung‘, lässt sich damit erklären, dass alle Codierungstechniken von realen Gütern, wie etwa dem Landbesitz, zu dem übergegangen sind, was die Ökonomen gerne als rechtliche Fiktionen bezeichnen: Vermögenswerte, die durch Unternehmens- oder Trust-Schleier geschützt sind, und immaterielle Vermögenswerte, die im Recht geschaffen werden."
Etwa für die Kapitalisierung geistigen Eigentums. Katalysator für diese Entwicklung ist das angelsächsische Common Law.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Stephanie Kelton von der Stony Brook University im US-Bundesstaat New York und Mariana Mazzucato, Professorin für Innovation und Werttheorie am University College in London (v.l.)
Die Wertedebatte - Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbindenDiese Ökonominnen entrümpeln die Wirtschaftswissenschaften von alten Glaubenssätzen und entwickeln neue Theorien für das 21. Jahrhundert: Mariana Mazzucato, Kate Raworth, Esther Duflo, Stephanie Kelton und Carlota Pérez.
Anwälte können neues Recht schaffen
Die Autorin macht dem Leser begreiflich, welch zentrale Rolle die Anwälte dort bei der Schaffung von Privatrecht innehaben. Diese Möglichkeiten nutzt die Anwaltsindustrie bis heute im Sinne ihrer Mandanten. Sie forme – so Pistor – ständig "neue Rechte", wofür sie auch keine Erlaubnis brauche. Diese Möglichkeit, ständig neues Recht zu schaffen, das - so Pistor – "nur gelegentlich von einem Gericht überprüft wird", habe dem Common Law gegenüber anderen Rechtssystemen einen Wettbewerbsvorteil bei der Codierung von Recht verschafft, etwa gegenüber dem kontinentaleuropäischen Civil Law. Es lässt diese umfassende private Rechtsschöpfung durch Anwälte nicht zu.
In der Praxis bedienen sich die Kapitalisten und deren Anwälte heute vor allem zwei Rechtsordnungen des Common Law: dem englischen Recht und dem Recht des US-Bundesstaates New York. Die Leser lernen bei Pistor, warum dies trotzdem gravierende Konsequenzen für die restliche Welt hat, denn Staaten akzeptieren heute gewöhnlich das Privatrecht, welches Wirtschaftsakteure ihrem Handeln zu Grunde legen.
"Es ist möglich, Güter in den Modulen des einen Rechtssystems zu codieren und sie dennoch von den Gerichten und Regulierungsbehörden eines anderen Landes anerkennen zu lassen und ihnen Geltung zu verschaffen. Auf diese Weise kann eine einzige nationale Rechtsordnung den weltweiten Kapitalismus aufrechterhalten."
Pistor eröffnet brillanten Denkkosmos
Weil Recht mobil geworden ist, benötige das globale Kapital eben keinen Weltstaat oder globales Recht, um zu gedeihen. Aber auf irgendeinen Staat bleiben die Kapitalisten dennoch angewiesen, wenn sie ihre codierten Rechte durchsetzen wollen. Deren Anwälten sei dabei sehr wohl bewusst, dass die Gerichte, die von ihnen geschaffenen privaten Rechtskonstruktionen sehr wohl für nichtig erklären könnten. Die Autorin schreibt:
"Deshalb haben sie auch zunehmend darauf gedrängt, juristische Streitigkeiten außergerichtlich beizulegen oder der Schiedsgerichtsbarkeit dem offiziellen Verfahrensweg den Vorzug zu geben. Doch auch das bringt die Anwälte in eine eigenartige und potenziell recht angreifbare Lage: Sie sind auf die Autorität des staatliche Rechts angewiesen, meiden aber die Gerichte, die traditionellen Hüter des Rechts, aus Angst davor, dass diese sich in ihre Codierungsbemühungen einmischen könnten."
Dies ist nur ein Bruchteil des brillanten Denkkosmos, den Katharina Pistor in ihrem wegweisenden und bei aller Komplexität auch für Fachfremde verständlich geschriebenen Buch spannt. Lässt sich das Kapital überhaupt noch gesellschaftlich einbinden? Ist ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen Kapital und Gesellschaft möglich? Nur, wenn es eine "wohlgeordnete Gesellschaft" gebe, so Pistor, die dem "Kapital eventuell die Stirn bieten könnte" und ein Interesse des "vagabundierendes Kapitals" an einem Deal mit der Gesellschaft.
Die Rechtsgelehrte zeigt einige Schritte auf, mit denen die Demokratien ihrer Ansicht nach die Oberhand über das Kapitel zurückgewinnen könnten: Staaten sollten etwa künftig generell von einer Vorzugsbehandlung des Kapitals absehen, den Akteuren die Wahl der Rechtsordnung für die eigenen Interessen erschweren oder frühere Begrenzungen der Kapitalcodierung wiederbeleben. Staaten könnten etwa verbieten, dass spekulative Verträge vor Gericht durchgesetzt werden können. Es geht um immens viel und es ist keineswegs sicher, dass die Einhegung des Kapitals gelingt. Ganz im Gegenteil. Pistor schreibt mit Blick auf die Angriffe gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in vielen Staaten zum Schluss unmissverständlich:
"Wenn sich diese Tendenzen fortsetzen, wird die reine Macht wieder die Herrschaft über die Rechtsordnung innehaben, so wie sie es über den größten Teil der Menschheitsgeschichte hinweg auch schon tat – und damit wird es uns allen schlechter gehen."
Katharina Pistor: "Der Code des Kapitals. Wie Recht Reichtum und Ungleichheit schafft",
Suhrkamp Verlag, Übersetzung: Frank Lachmann, 440 Seiten, 32 Euro.