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Reihe Einheitscheck
DDR im Schulunterricht

Die DDR gerät 25 Jahre nach dem Fall der Mauer immer mehr in Vergessenheit. Marie-Luise Strutz versucht Schülern zu vermitteln, wie das Leben damals war, wie ihre Jugend in der DDR aussah. Für Zehntklässler wirkt dabei vieles fremd.

Von Franziska Rattei | 19.06.2014
    Trabbi auf der Straße, Mai 2011
    Gehörte in der DDR zum Straßenbild: Der Trabi. (picture alliance / dpa / Radek Petrasek)
    Mit Tesafilmstreifen klebt Marie-Luise Strutz eine Deutschlandkarte an eine Stellwand - ohne Ost-West-Grenze. Davor steht ein Tisch mit Erinnerungsstücken. Alte Russischbücher aus ihrer Schulzeit, Staatsbürgerkunde-Mitschriften in Schönschrift, eine Ostberliner Zeitung vom April 1989. Damals war Marie-Luise Strutz 14 Jahre alt; etwas jünger als die Schüler, die sie heute in Bremen-Walle besucht. Die Zehntklässler waren noch nicht geboren, als die Mauer fiel. Damit sie der DDR, dieser anderen Welt, trotzdem nachspüren können, hat Strutz ein Schulprojekt entwickelt; eine Art fahrendes Museum. Sie selbst ist als Zeitzeugin das Hauptausstellungsstück.
    "Es gibt Lehrer, die ein unglaubliches Interesse haben, sich damit zu beschäftigen und dieses Interesse an diese Schüler weitergeben. Und dann gibt es Schulen, da sind alle sehr unbedarft und sehr: Huch, was ist das jetzt, davon haben wir noch gar nichts gehört. Da muss man wirklich bei Null, bei gar nichts sozusagen, mit denen losgehen und anfangen. Und dann gibt es auch diese Mischung. Irgendwie wissen sie was, und irgendwie haben sie auch schon mal was gehört. Sie wissen noch nicht so ganz, ob sie sich damit näher beschäftigen möchten. Eigentlich ist es jetzt so eine geniale Chance, mit den Schülern jetzt so loszugehen und ihnen Geschichten - ein bisschen anders als mit Folien und Arbeitsblättern – zu erklären. Und ich hoffe einfach immer, dass mir das gelingt."
    Als die rund 40 Schülerinnen und Schüler ins Klassenzimmer kommen, ist Marie-Luise Strutz nervös. Aber das Bedürfnis, ihre Lebensgeschichte zu teilen, ist größer. Die meisten Jugendlichen wissen nicht, welchen Wert Meinungsfreiheit hat; die Freiheit zu wählen oder zu reisen. Strutz will den 16- und 17-Jährigen von einem System erzählen, in dem all das nicht selbstverständlich war. Mit einer zitternden Hand fährt sie sich noch einmal durchs rotbraune, akkurat geschnittene Haar, dann begrüßt sie ihr Publikum.
    "Ich möchte Euch bitten, dass Ihr die Hände aus den Hosentaschen nehmt und aufrecht steht, weil so eine typische DDR-Staatsbürgerkunde-Stunde begann - bei uns an der Schule. Und der Lehrer begrüßte: 'Für Frieden und Sozialismus – Freundschaft!', und Ihr hättet antworten müssen: 'Freundschaft!'. Das macht Ihr bitte nicht. Ich sag einfach nur: Guten Tag, ich freu' mich, dass Ihr da seid, und jetzt dürft Ihr Euch setzen."
    Fast alle hören Marie-Luise Strutz aufmerksam zu. Auch, als sie alte Familienfotos an die Wand projiziert.
    "Das ist meine Mutter, und meine Mutter war die einzige Hausfrau in unserer Klasse. Das hatte eigentlich nur den Grund, dass sie nicht wollte, dass wir in staatliche Einrichtungen gehen. Denn wir waren Christen. Das war damals eine politische Kampferklärung an den Staat eigentlich. Wenn man treu weiter in die Kirche ging, dann bedeutete das, dass man sonntags eben nicht zu Demonstrationen ging oder zu irgendwelchen DDR-Feierlichkeiten, Pionier-Nachmittagen oder irgendwelchen Vergnügungen ging, sondern dass man um 10 in der Kirche saß."
    Trotzdem ließen die Eltern Marie-Luise und ihre drei Geschwister Pioniere sein und zur FDJ gehen, der "Freien Deutschen Jugend". Die Kinder sollten sich nicht ausgegrenzt fühlen, aber doch verstehen, dass der Sozialismus nicht die einzige Lebensphilosophie war. Schon früh lernten die Strutz’schen Kinder Zurückhaltung gegenüber Fremden – möglicherweise Stasi-Mitarbeitern. Gleichzeitig sollten sie freundlich sein, etwa zu Verkäuferinnen - damit sie bei Gelegenheit an Erdbeeren, Fliesen oder andere selten verfügbare Waren kamen. Marie-Luise lässt ein paar DDR-Mark durch die Reihen wandern.
    "Mark ist viel leichter als Euro. Spielgeld."
    Anschließend gibt sie eine Plastikdose mit sauer gewordener Sahne herum – so hat es früher gerochen in dem Lebensmittelladen bei ihr um die Ecke.
    "Puh. – Ich sagte ja zu Euch, dass man genug zu essen und zu trinken hatte. Das stimmt. Aber leider war es auch in den Geschäften so, dass sich auch keiner Mühe gegeben hat. Dann stank es eben nach einer Weile so."
    Die sozialistische Propaganda von Produktivität der DDR konnte die jugendliche Marie-Luise irgendwann nicht mehr ernstnehmen.
    "Ich geb es ehrlich zu: Ich hab es nicht mehr geglaubt. Schon gar nicht 1989. Denn: Was wir hatten, war eben Deutschlandfunk oder die ARD oder das ZDF, und ich gebe es auch zu, dass ich das vollständige Kabinett der Bundesregierung aufsagen konnte, mit sämtlichen Vor- und Nachnamen und sämtlichen Funktionen, aber nicht gewusst hätte, wie der Landwirtschaftsminister der DDR hieß. Denn ich lebte gedanklich – wie so viele andere auch – schon im Westen. Und den habe ich mir groß, bunt und schön vorgestellt."
    Die Euphorie hat inzwischen nachgelassen, aber Einigkeit und Recht und Freiheit haben für Marie-Luise Strutz noch immer einen unschätzbaren Wert.
    "Wenn Ihr diese drei Wörter: Einigkeit und Recht und vor allem diese Freiheit - wenn Ihr mit dieser Freiheit lebt, und wenn Ihr das Beste aus Eurem Leben macht – das würde ich Euch sehr wünschen. Und wenn Ihr jetzt noch Fragen habt, dann dürft Ihr sie natürlich sehr gerne stellen."
    Nach einer guten Stunde Vortrag sind die Zehntklässler ziemlich erschlagen von den vielen Informationen. Aber ihr Interesse an der ehemaligen DDR ist geweckt. Sie fragen nach, wie genau es zum Mauerfall kam, wie lange man auf einen Trabi warten musste und ob es wirklich keine Bananen gab in Ost-Deutschland. Für die Schüler von heute eine fremde Welt.