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Reihe Einheitscheck
Mythos West-Berlin

In den 80er-Jahren herrschte in West-Berlin eine ganz besondere Subkultur, die auf viele Menschen eine Anziehungskraft ausübte. Einige sahen in der Mauer weniger ein Symbol eines Unrechtsstaats, sondern vielmehr eine künstlerische Herausforderung. Eine Ausstellung spürt dem Mythos West-Berlin jetzt nach.

Von Claudia van Laak | 06.11.2014
    Graffitis auf der Westseite der Berliner Mauer am 29. April 1984
    Die Mauer als künstlerische Herausforderung. (AFP / JOEL ROBINE)
    "Ja, wir sind jetzt auf dem Vorplatz vom Künstlerhaus Bethanien, auf dem Mariannenplatz."
    (Musik: Ton – Steine – Scherben/Rio Reiser) "Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da und Mensch Maier musste heulen, das war wohl das Tränengas, und er fragte einen, ist hier heut ein Fest, so ähnlich, sagte einer, das Bethanien wird besetzt."
    "Es gibt ja das berühmte Lied von Ton, Steine, Scherben. Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da. Das ist einer dieser besetzten Komplexe, der gesamte Bethanien-Komplex wäre ja abgerissen worden, wenn das nicht Leute illegal besetzt hätten, dann wären hier irgendwelche Hochhäuser."
    (Musik) "Doch die Leute im besetzten Haus riefen, Ihr kriegt uns hier nicht raus. Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Mosch aus Kreuzberg raus."
    Wolfgang Müller lehnt sich zufrieden auf dem Gartenstuhl zurück, nimmt einen Schluck Kaffee. Hinter ihm das Bethanien, ein Trutzbau aus grau-gelbem Backstein, im 19. Jahrhundert als Diakonissen-Krankenhaus errichtet. Ein Symbol für die Kreuzberger Hausbesetzer-Szene. Auf dem Tisch vor Wolfgang Müller: sein Buch über die Subkultur in Westberlin. Der 57-Jährige war Teil dieser Szene: als Musiker, Autor, Performer, bildender Künstler.
    "In den 80er-Jahren gab es eben viele Leute, die nach Westberlin gerade gekommen sind, weil sie da bestimmte Qualitäten gesehen haben, zum Beispiel eine bestimmte Zeit, die man braucht, um etwas zu entwickeln. Um Gedanken zu formulieren, braucht man Zeit. Und wenn das alles nur noch unter einem ökonomischen Diktat steht, man soll in kürzester Zeit seine Leistung bringen, dann ist die Qualität nicht nachhaltig, meiner Meinung nach."
    Müller blättert zufrieden in seinem - 579 Seiten dicken - Buch. Für den Künstler war die Westberliner Szene von damals Avantgarde.
    "Da ist ja unglaublich viel entstanden. Da sind politisch, künstlerisch, musikalisch und so weiter. Da sind viele Gedanken angedacht worden im Keim, die später erst sichtbar wurden."
    Die Mauer – damit hatte man sich in den 80ern arrangiert. Mehr noch: Für einige Westberliner Künstler hatte sie einen besonderen Reiz, zum Beispiel für Frank Schreiner, Künstlername "Stiletto".
    "Also die Mauer: eine faszinierende Installation, ein faszinierendes Monument, ein Denkmal. Alle haben es sich mit und hinter der Mauer relativ gemütlich gemacht. Hat ja auch alles nix gekostet."
    Die linke Westberliner Subkultur wollte der offiziellen politischen Linie nicht folgen. Für Stiletto zum Beispiel war die Mauer weniger ein Symbol des SED-Unrechtsregimes als vielmehr eine ästhetische Herausforderung. Für einen künstlerischen Wettbewerb entwarf der heute 55-Jährige Bänke aus grauem Beton, die entlang der Mauer aufgestellt werden sollten. Politisch unkorrekt und mit Ironie-Faktor.
    "Als Meditationsbank, als Ruhebank für den ermüdeten Mauerbetrachter mit großen Rückspiegeln. Damit man vor Überraschungen geschützt ist, falls der Russe doch mal von hinten kommt."
    Die links-autonome Szene fühlte sich dem Revolutionär aus Nicaragua näher als dem DDR-Bürgerrechtler. Der Freudentaumel nach dem Mauerfall fiel aus. Von den lieben Brüdern und Schwestern in der DDR wollte man nichts wissen. Stattdessen sang die Punkband "Mutter" in Richtung Osten: Du bist nicht mein Bruder, Du bist nicht meine Schwester.
    (Musik) "Du bist nicht mein Bruder, du bist nicht meine Schwester(…)."
    Sänger der Band "Mutter" ist Max Müller, der Bruder von Wolfgang Müller. Der behauptet zwar, sich das alte Westberlin nicht zurückzuwünschen, trotzdem fremdelt er auch ein Vierteljahrhundert später noch immer mit den aus der DDR stammenden Politikern.
    "Es sind ja auffälligerweise sehr viele Ex-DDRler, Merkel und Gauck, Katrin Göring-Eckhardt. Das ist die alte Staatsfeindlichkeit, die hat sich verbündet mit dem Konservativen, mit dem Marktliberalen, das ist verhängnisvoll."
    Schwingt da nicht doch ein wenig Nostalgie mit nach den schönen alten Westberliner Zeiten? Wer nachfühlen will, wie es damals war, der kann ab nächster Woche das Ephraim-Palais besuchen. Am 14. November eröffnet dort die Ausstellung: "West:Berlin – eine Insel auf der Suche nach Festland". 25 Jahre nach dem Mauerfall hat Kurator Thomas Beutelschmidt versucht, den Mythos Westberlin zu ergründen. Es ist wieder Zeit für den Blick nach Westen, sagt der Kulturwissenschaftler.
    "Das war natürlich sehr spannend für viele, sich auf den Osten zu konzentrieren, da ist der Westen ein bisschen hinten runtergefallen. Von daher ist es erklärlich, dass das Pendel nun ein bisschen zurückschlägt."