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Reihe Einheitscheck
Wie Neumünster die DDR-Flüchtlinge aufnahm

Bis Ende 1989 kamen mehr als 13.000 Übersiedler aus der DDR nach Schleswig-Holstein. Sie alle mussten zunächst in die zentrale Aufnahmestelle nach Neumünster und wurden dann in Turnhallen, Ferienwohnungen und Jugendherbergszimmern einquartiert.

Von Dietrich Mohaupt | 16.10.2014
    Mittagszeit - es herrscht buntes Treiben in der Cafeteria der Jugendherberge in Neumünster. An einem Tisch etwas abseits sitzt Astrid Arend. Gemeinsam mit dem ehemaligen Herbergsleiter Willi Treetzen blättert die groß gewachsene Mitt-Vierzigerin in einem Fotoalbum – Erinnerungen an ihre ersten Tage und Nächte im Westen.
    "So kennen Sie das Foyer noch?"
    "Genau, so kenne ich das noch. Die Sitzgruppe mit so einer Knutschecke hinten drin. Und die war immer belegt, zu jeder Zeit."
    Im Dezember 1989 hatte die gelernte Erzieherin zusammen mit ihrem damaligen Freund ihre Heimat in Mecklenburg-Vorpommern verlassen. Mit dem Zug ging es über Lübeck damals nach Neumünster, wo sie erst einmal in der Jugendherberge einquartiert wurden. Deren Bettenkapazität war kurzfristig von 240 auf über 600 aufgestockt worden – alles war vollgestellt mit Notbetten, sogar die Sauna und die Turnhalle, erinnert sich Astrid Arend. In dem Fotoalbum findet sie ein Bild von ihrem ersten Nachtquartier im Westen.
    "Wir kamen mit zwei Rucksäcken und zwei Reisetaschen jeweils bepackt hier an. Dieses Bild, da habe ich noch ganz gute Erinnerungen dran, denn genau dieses erste Bett, was auf dem Bild zu sehen ist, war nämlich meins! Da habe ich oben gelegen, unten ein fremder Mann – im Nachbarbett mein damaliger Freund und unten halt auch wieder ein fremder Mann."
    Insgesamt 30 Betten dicht an dicht – Privatsphäre Fehlanzeige, aber immerhin ein Dach über dem Kopf. Gemeinsam mit dem Ex-Herbergsvater macht Astrid Arend sich noch einmal auf den Weg zu der alten Turnhalle.
    "Ja – ich glaube jetzt erinnere ich mich, diesen Weg bin ich ja nun seit 25 Jahren auch nicht mehr gegangen."
    Es hat sich einiges verändert – aus der großen Turnhalle sind zwei kleinere Fitnessräume geworden, aber Astrid Arend erkennt sie wieder. Erinnerungen kommen hoch.
    "Da haben dann schon mal des nachts Leute, die hier geschlafen haben, das Fenster aufgemacht, und es sind zwei weitere Leute eingestiegen, die gar kein Bett hatten. Und in der Mitte standen zwei Sofas sich gegenüber – da haben dann diese Menschen gelegen und sich erst am nächsten Morgen angemeldet, da erinnere ich mich auch dran."
    Jugendherberge - Übergangswohnung - eigene Wohnung
    Das "Abenteuer Jugendherberge" war schon nach ein paar Tagen für Astrid Arend und ihren Freund vorbei – zu Weihnachten konnten sie bereits in eine Übergangswohnung und kurz darauf in ihre erste eigene Wohnung umziehen. Astrid Arend ist Neumünster treu geblieben – heute lebt sie im eigenen Haus in einem Vorort. Nach 15 Jahren als Leiterin einer Kinderbetreuungseinrichtung arbeitet sie jetzt als Heilpädagogin.
    Insgesamt waren bis Ende 1989 mehr als 13.000 Übersiedler aus der DDR nach Schleswig-Holstein gekommen – sie alle mussten zunächst in die zentrale Aufnahmestelle nach Neumünster. Die ersten kamen schon im Sommer, nach der Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich – pro Tag vielleicht eine Handvoll, erinnert sich Petra Markowski-Bachmann vom Roten Kreuz. Mit ein paar Kollegen war sie damals für die Betreuung der Flüchtlinge in der zentralen Anlaufstelle zuständig.
    "Wir saßen quasi Tag und Nacht in dem Büro und hofften, dass das wieder jemand geschafft hat, haben die Züge, die am Bahnhof Neumünster ankamen, abgewartet. Abends um elf Uhr kam der letzte Zug, und so lange hat man dann im Büro gesessen und gewartet, ob es noch jemand geschafft hat."
    Dieses "Büro" war damals ein Provisorium mitten in der Innenstadt von Neumünster – ein paar Schreibtische, ein Lagerraum für Spenden, eine Teeküche, das war's.
    "Wir waren untergebracht in einer ehemaligen Kneipe, da gab es keine Unterbringungsmöglichkeit, also kein Zimmer, wo jemand hätte schlafen können. Und wenn es dann abends um elf noch jemand geschafft hat, bis zu uns zu kommen, dann hat man auch erstmal gemeinsam einen Kaffee getrunken und erzählen lassen und dergleichen mehr. Und dann mussten wir ja noch ein Bett finden."
    Wohnraum in Neumünster wurde bald knapp
    Und das wurde im Herbst 1989 immer schwieriger. Zeitweise bildeten sich lange Schlangen vor der zentralen Anlaufstelle, Wohnraum in Neumünster wurde knapp. Viele Flüchtlinge mussten auf Zimmer in Hotels und Pensionen in ganz Schleswig-Holstein "verteilt" werden. Immer wieder boten auch Privatleute Ferienwohnungen an – und gerade damit gab es dann zuweilen auch Probleme.
    "Eine Schwierigkeit war, dass voller Engagement und Enthusiasmus der Vermieter uns anrief und sagte: Ich habe eine Ferienwohnung, da kann sofort eine Familie einziehen, das ist alles wunderbar ausgestattet. Da hat sich aber keiner Gedanken darüber gemacht, wie lange sollen die Menschen da leben, und wo sollen die dann hin. Denn – dieser Vermieter wollte unter Umständen ja die Wohnung ab der nächsten Saison auch gerne wieder vermieten."
    Später gab es – in Einzelfällen – auch richtig Streit mit Vermietern, die zusätzlich zu der Miete noch deftige Entschädigungen und Erstattungen für Renovierungsarbeiten in den Wohnungen kassieren wollten.
    Als dann nach dem Mauerfall am 9. November die Zahl der DDR-Übersiedler noch einmal sprunghaft anstieg, wurde es richtig eng in Neumünster. Manchmal kamen so viele auf einmal, dass es wirklich schwierig wurde, erinnert sich Torsten Geerdts, damals Mitarbeiter der zentralen Aufnahmestelle in Neumünster, heute DRK-Landesvorsitzender:
    "Es gab mal so die Aussage kurz vor Weihnachten: Kann man die Grenzen ein Stück weit noch mal wieder dichtmachen, damit man da den Zustrom regelt? Das hat eher dazu geführt, dass noch mehr Menschen kurz vor Weihnachten kamen und wir uns überlegt haben: Wo bringen wir die bloß alle unter? Aber auch das wurde organisiert, also es ging alles, in der Krisensituation rückte dieses Land zusammen."