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Reihe: Fragen nach Identität
"Wir" im Osten und im Westen

In den Bundesländern der ehemaligen DDR ist heute noch ein Großteil der Funktionsträger in Politik, Verwaltung und Wirtschaft westdeutsch sozialisiert. Über Zugangsgerechtigkeit und Diskriminierungserfahrung müsse dringend gesprochen werden, sagt deshalb auch Festspiel-Intendant Thomas Oberender.

Von Bastian Brandau | 26.12.2017
    Ein Passant läuft am 09.11.2017 an einem original erhaltenem Stück der Berliner Mauer an der ehemaligen Zonengrenze entlang. Am Abend des 9. November 1989 hatte das damalige Mitglied des SED-Politbüros, Günter Schabowski, fast beiläufig in Ost-Berlin verkündet, dass ab sofort Reisen in den Westen möglich sind. In dieser Nacht fiel die Mauer. Allein in Berlin starben nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen mindestens 140 Menschen durch das DDR-Grenzregime. An der deutsch-deutschen Grenze kamen laut einem Forschungsprojekt mindestens 327 Menschen aus Ost und West um Leben.
    Es waren die DDR-Bürger, die die Mauer zum Einsturz gebracht haben, erinnert Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele. (dpa / picture alliance / Ralf Hirschberger)
    Es beginnt mit den Worten: Die Mauer ist gefallen, so heißt es allgemein, wenn es um 1989 geht. Dabei sei jedem klar, dass eine Mauer nicht einfach so fällt, sondern dass es DDR-Bürger waren, die sie zum Einsturz gebracht haben, sagt Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele. Die Mauer ist nicht gefallen, so hat er einen Text überschrieben, der im September in der Wochenzeitung die "ZEIT" erschienen war. Und in dem Oberender seinen Unbehagen über den Umgang mit der Vergangenheit der DDR-Bürger Luft machte. Nicht, weil er die DDR zurück wolle.
    Aber: "Es gibt sicher eine Marginalisierungserfahrung, die viele Menschen gemacht haben, und die sich in solchen Sprachformen ausdrückt. Es ist eine Entfremdung von der eigenen Geschichte, die sprachlich gestützt und manifest wird. Man hat das Gefühl, in dieser Art, die Geschichte zu betrachten, führt zu ihrem Verschwinden, statt zu ihrem Erinnern. Und ist zumindest eine Lesart, die nicht für alle die gleiche ist" - und die für Frank Richter direkt zur Identität führt.
    Richter hat lange Jahre die sächsische Landeszentrale für politische Bildung geleitet, seit einigen Monaten ist er Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche.
    Identität mit Herkunft verknüpft
    Über Identität zu reden, heiße immer, über die Geschichte und die Herkunft zu reden. Nur so könne man die Herkunft eines Menschen begreifen.
    "Und es sind ganz spannende Geschichten. Und es sind ganz andere Geschichten als die der Menschen im Westen. Oft sind es Fluchtgeschichten, oft sind es Traumageschichten, oft sind es die Geschichten des Abgeschiedenseins, des Eingesperrtseins im mehrfachen Sinne des Wortes. Es sind die Geschichten der Kränkungen, und der Demütigungen, Geschichten, die mit dem Gefühl zusammenhängen, wir werden wohl bis zum Ende unseres Lebens Deutsche Zweiter Klasse sein."
    Funktionseliten überwiegend westdeutsch sozialisiert
    Ein Gefühl, das Soziologen durch Statistiken untermauern können. Bundesminister, Abteilungsleiter in Bundesministerien - fast ausschließlich westdeutsch sozialisiert. Und ähnlich sieht es in den Ländern der ehemaligen DDR aus, wo nach 1990 zahlreiche West-Beamte beim Aufbau halfen. Wo aber auch heute noch ein großer Teil der Funktionseliten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft wiederum westdeutsch sozialisiert ist.
    "Was wäre in Bayern los, wenn 80 Prozent der Funktionseliten aus Menschen bestünden, die aus Schleswig-Holstein eingewandert sind. Alles tolle Schleswig-Holsteiner, trotzdem würden die Bayern so ein Grundgefühl nicht loswerden, dass diese Ordnung nicht ganz ihre eigene ist, weil diese Funktionsträger dieser Ordnung von woanders herkommen oder mehrheitlich kommen. Ich plädiere dafür, diese Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft als einen Sachverhalt möglichst nüchtern zur Kenntnis zu nehmen und es zu vermeiden, diesen Sachverhalt zu personalisieren und zu moralisieren."
    Flüchtlingskrise als Katalysator
    Was allerdings gerade in der hitzigen sächsischen Diskussionskultur der vergangenen Jahre schwer gefallen ist. Die Ankunft vieler Flüchtlinge im Jahr 2015 habe in der Diskussion um die eigene Identität wie ein Katalysator gewirkt.
    "Und bei manchen in Ostdeutschland entstand der Eindruck, jetzt werden wir sozusagen in die Zange genommen, und vom eigenen bleibt nichts mehr übrig. Das hat dazu beigetragen, dass es im Osten heftigere Debatten um die Flüchtlingsfrage gegeben hat als etwa in Westdeutschland."
    Eine Art Stellvertreter-Diskussion sei das auch gewesen, sagt Festspiel-Intendant Thomas Oberender. Über die Identität der Deutschen, mehrere Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung. Angesichts des Erfolgs der AfD in Ostdeutschland müsse man aber den Normenverfall viel stärker diskutieren. Etwa über Gewalt gegen Flüchtlinge, Anschläge auf Unterkünfte, die es eben vermehrt in Ostdeutschland gibt.
    "Das ist für mich auch im Hinblick auf die ostdeutsche Frage; ich möchte über die Normen sprechen, über die Zugangsgerechtigkeit, über Diskriminierungserfahrung die man gemacht hat, die man immer noch macht. Die uns nachdenklich machen müssen, ja, warum diese Zahlen so sind, wie sie sind. Aber ich möchte das nicht mit einer Identitätsdebatte verbinden, die darauf hinausläuft, dass man in Dresden nur ein guter Deutscher sein kann, wenn möglichst unter sich bleibt. Das dürfen wir halt nicht zulassen."
    Oberender wünsche sich eine Entlüftung der Sprache, wie er es nennt. Es sei auch Aufgabe von Kunst und Kultur, den marginalisierten eine Stimme zu geben und deren Perspektive darzustellen. Das gelte für Menschen aus migrantischen Milieus und Ostdeutsche.