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Reihe Isolationsfutter
Woran wir glauben - „The Leftovers“

Eine Parabel über den anhaltenden Ausnahmezustand: Die Serie „The Leftovers“ konfrontiert uns mit dem, was wir zu wissen glauben - und stellt alle diese Gewissheiten in Frage. In Corona-Zeiten ist das sicher nicht tröstlich, aber radikal existenzialistisch.

Von Julian Ignatowitsch | 23.04.2020
Logo der US-Serie "The Leftovers": Eine Frau umarmt einen Mann von hinten. Im Hintergrund sind stilisierte Engelsflügel an einer Wand zu sehen
Logo der US-Serie "The Leftovers" (Sky/Home Box Office)
Alles, was wir wissen oder besser zu wissen glauben, löst sich in der Serie "The Leftovers" gleich in den ersten zwei Minuten in Luft auf - zusammen mit den Menschen, die einfach nicht mehr da sind. Von einem Moment auf den anderen.
"Oh my god!"
Eine Anfangsszene so großartig und radikal - wie jede der 28 Episoden der drei Staffeln: Gerade noch sehen wir eine Mutter mit schreiendem Baby im Alltagsstress - als sie sich umdreht, ist ihr Kind verschwunden. Nicht nur ihres. Väter, Mütter, Ehefrauen, du und ich - einfach weg.
Plötzliches Verschwinden
Auf die Stille folgen erst die Schreie und dann die Suche. Mit den Schreien hält sich "The Leftovers" glücklicherweise nicht lange auf. Die Serie interessiert sich für die Suche. Und fragt: Was würde passieren, wenn plötzlich auf völlig unerklärliche Weise einfach zwei Prozent der Weltbevölkerung vom Erdboden verschwinden? In Corona-Zeiten ist das ja gar kein so abwegiges Szenario mehr. Nur meinen wir allzu oft alle Erklärungen zu kennen.
Der Clou der Serie: Sie weiß, dass sie nichts weiß. Sie sucht mit ihren Figuren nach verlässlichen Antworten, findet aber nur mehr oder weniger plausible Theorien in einem absurden, sinnlosen Universum.
Eine verunsicherte, brüchige, sinnsuchende Gesellschaft
"Did they depart or did they die?"
"They departed."
So ist "The Leftovers" eine existenzialistische Parabel über uns, unsere Welt und den anhaltenden Ausnahmezustand. Die Handlung drei Jahre später zeigt eine verunsicherte, brüchige, sinnsuchende Gesellschaft: Da ist zum Beispiel die Sekte der "Schuldig Verbliebenen", ganz in weiß gekleidet, rauchend, stumm, als lebende Mahnung an der Straßenecke. Sind das die Virologen von heute?
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"We are living reminders of what you try so desperately to forget."
Oder Pfarrer Matt Jamison, der die Sünden der Verschwundenen aufdeckt und das Ereignis entsprechend für eine Strafe Gottes hält. Höhere Gewalt, Bestrafung - das hören wir doch momentan auch immer wieder.
"I lost everything!"
Die "Leftovers" als glückliche Menschen
Die Serie "The Leftovers", auf der Grundlage des gleichnamigen Romans von Tom Perrotta, zwingt uns jede Gewissheit zu hinterfragen. Sie wird schließlich (mit all ihren religiösen Anspielungen und freskoartigen Bildern) selbst zur Glaubensfrage, wobei Showrunner Damen Lindelof - ganz anders als bei "Lost" - nach langsamem Anfang ein grandioses Finale inszeniert.
Die Musik von Max Richter gehört zur besten der Fernsehgeschichte; Justin Theroux als gebrochener, halluzinierender Cop ist eine Sisyphus-Figur, wie sie sich Albert Camus nicht besser hätte ausdenken können.
Und wir müssen uns die Leftovers, diese Übriggebliebenen, so wie uns selbst in der derzeitigen Situation schlichtweg als glückliche Menschen vorstellen.