Freitag, 29. März 2024

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Reihe: Woher kommt die Energie?
"Die Schuldfrage steht sehr weit vorne"

Trotz des Verschweigens im Nachkriegsdeutschland Orientierung für sich zu finden, sei nicht einfach gewesen, sagte Frank Witzel im Dlf. Der Autor des Romans "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969" spürt darin einer "gewissen Solidarität" für Terroristen nach.

Frank Witzel im Gespräch mit Michael Köhler | 15.08.2017
    Der Schriftsteller, Musiker und Illustrator Frank Witzel
    Der Schriftsteller, Musiker und Illustrator Frank Witzel. (Gianni Plescia)
    Michael Köhler: Ich hatte das Glück mal, Siegried Lenz zu treffen, als er schon älter war, und da hatte er dann so eine Heine-Professur in Düsseldorf und sagte einen sehr schönen Satz, ein bisschen sonntäglich, aber trotzdem okay: 'Wenn man wissen will, wie viele Kriegsgefangene aus Russland zurückkamen – mein Vater war übrigens auch in Kriegsgefangenschaft –, da sagte Lenz, dann soll man in den Ploetz sehen, also ins Geschichtslexikon. Wenn man aber wissen will, was das bedeutet, dann müsse man Böll und Borchert lesen.' Geschichte gehe in Geschichten auf, so dieser etwas sentenzhafte Satz, der aber vollkommen okay ist. Wenn ich etwas – und Sie ahnen, wo drauf es hinausläuft – über die RAF oder die piefige Provinz der 50-, 60er-, 70er-Jahre wissen will, muss ich dann Frank Witzel lesen, weil Deutscher Herbst neben aller schrecklichen Realität auch ein Stück Fiktion ist?
    Frank Witzel: Es ist bestimmt ein Stück Fiktion. Ich würde natürlich nie so weit gehen, meine eigenen Bücher anpreisen zu wollen. Ich glaube, dass Siegried Lenz mit dem von Ihnen zitierten Satz durchaus Recht hat. Komischerweise steht das auch schon wieder auf dem Klappentext meines neuen Romans, dass Geschichte durch Geschichten erzählt wird. Da ist wohl eine tiefere Wahrheit drin. Für mich persönlich beim Schreiben geht es darum, dass ich herauszufinden suche, wie mein Verhältnis zur Geschichte ist. Also bei der von Ihnen erwähnten Erfindung der Roten Armee Fraktion ging es natürlich um meine direkte Vergangenheit. Es handelt sich um einen dreizehneinhalbjährigen Teenager, und ich war dreizehneinhalb 1969, und ich habe gemerkt, dass mich diese Zeit irgendwie nicht loslässt, und zwar über das individuelle Empfinden heraus nicht loslässt, dass es vielleicht irgendwelche Parallelen gab. Also um es mal ganz grob zu sagen: vielleicht eine eigene Pubertät und eine Pubertät der Republik, und dann habe ich versucht, mich durch das Schreiben eben wieder an diese Zeit zu erinnern, das Erinnern auch immer natürlich mit bedacht, und das ist mein Impuls gewesen.
    "Irgendeine Wahrheit, irgendeine Spur zu finden, ist nicht so einfach"
    Köhler: Sie haben in Interviews häufiger schon mal gesagt, was meinen Roman angeht, so handelt er nicht von der RAF, sondern von einem Dreizehneinhalbjährigen, der sich in der hessischen Provinz mit der RAF auseinandersetzt auf ungewöhnliche Weise. Sie haben das gerade noch mal bestätigt. Warum tun Sie das, ein Stück über das Leben junger Leute in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, das Unheimliche der 60er- und 70er-Jahre … Sind es die Geschichtslügen jener Zeit als Gründungsmythos?
    Witzel: Ja, ich glaube, es ist wirklich auch da wieder diese Mischung aus Individuellem und Gesellschaftlichem, denn ich bin ja aufgewachsen in einer Zeit, wo man mit sehr vielen Lehrern zu tun hatte, die natürlich Nazis waren. Es gab dann dieses Schlagwort, das sind ja alles Nazis. Dann hat man gedacht, okay, das stelle ich mal jetzt infrage. So einfach kann man es sich nicht machen, so einfach sollte man es sich auch wirklich nicht machen. Dann aber, je mehr wir über die Geschichte erfahren, desto mehr erfahren wir, dass es wirklich fast alles Nazis waren. Wie soll ich sagen, in so einer komischen Atmosphäre aufzuwachsen, wo die Verleugnung, das Verschweigen erst mal vorne ansteht, und dann versuchen, daraus als Kind, als Jugendlicher irgendeine Wahrheit, irgendeine Spur, irgendeine, sagen wir mal: Orientierung zu finden, das ist, glaube ich, nicht so einfach, und deswegen musste ich da noch mal hin zurückgehen, um mir das noch mal anzuschauen, aber ich glaube, dass dieser Ursprung wirklich etwas in mir bewegt hat, nämlich eine Skepsis gegenüber Erzählungen, auch gegenüber meiner eigenen Erzählung, und nicht umsonst finden sich auch sehr viele Stimmen deshalb immer in meinen Büchern, vor allem in diesem Buch.
    "Katholizismus - wichtiger Bestandteil meines Aufwachsens"
    Köhler: Buchstäblich. Sie reflektieren auch über die Stimme selber. Das ist eins meiner Lieblingskapitel, ziemlich weit hinten, wo es darum geht, darüber nachzudenken, was ist die eigene Stimme, was ist eine fremde Stimme, wie bringt man Stimmen zu Gehör. Herr Witzel, wo kam die Energie jener Zeit her – aus den polarisierenden Kräften in der Gesellschaft, aus dem Kampf gegen das, was man damals so latenten Faschismus des Staates nannte auf der einen Seite und den Kampf gegen den Terror auf der anderen?
    Witzel: Das ist eine … Ich finde, das ist eine sehr interessante Frage, die aber nicht leicht zu beantworten ist und die ich selbst nach Beendigung des Romans nicht beantworten könnte. Ich glaube, es gab sehr viele Strömungen. Ich habe schon eine genannt, das war …
    Köhler: Auch quasi-religiöse. Sie kennen sich aus mit katholischem Konformismus und wissen, was es heißt, die Mission quasi mit der Maschinenpistole durchsetzen zu wollen.
    Witzel: Ja, wobei das auch so ein ganz spezieller Fall war, weil ich sozusagen in der Diaspora, ohne dass ich es wusste, aufgewachsen bin, also als Katholik in der vornehmlich protestantischen hessischen Umgebung, und trotzdem war der Katholizismus ein wichtiger Bestandteil meines Aufwachsens, und ich hätte nie gedacht, dass ich in der Diaspora bin. Das war quasi ein umgekehrtes Erweckungserlebnis, und so geht es wahrscheinlich den meisten Bekehrten, dass jemand kommt und will einen bekehren und man denkt, man hat doch eine Religion, was will der mir eigentlich noch sagen, weil ich auch im Nachhinein gemerkt habe, dass dieser Katholizismus ein ganz anderer als der ist, etwa in Bayern oder im Rheinland. Also einer, der sich eher doch am Protestantismus orientiert oder etwas assimiliert hat. Die Schuldfrage steht sehr weit vorne, die Vergebung sehr weit hinten, kann man sagen. Aus diesen ganzen Aspekten, dem Verschweigen, der neuen Republik, wo die Eltern oder die Elterngeneration jetzt neue Demokraten sein wollten und sich nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen, was man im Grunde auch verstehen kann. Aus diesen ganzen Aspekten bildet sich ja eine Umgebung, in der jetzt ein Jugendlicher – und mit mir ging es ja tausenden anderer Jugendlicher so, ich bin ja keine Ausnahmeerscheinung – aufwächst und versucht, jetzt herauszufinden, was ist denn eine Möglichkeit der Orientierung. Kann ich diese Geschichte einfach so annehmen, dass es jetzt eine neue Bundesrepublik gibt mit neuen Banken, neuen Firmen, die alle nicht Rechtsnachfolger dieser alten Banken und Firmen und dieser alten Historie der Bundesrepublik, oder Deutschlands muss man ja sagen, eben nicht der Bundesrepublik sind, oder liegt irgendetwas Untergründiges darunter, und dann kam die Studentenbewegung. Das waren ja sozusagen die großen Brüder. Dann kam sehr schnell dieser Umschlag in den Terrorismus, und man musste sich damit auseinandersetzen, mit einer Gewaltfrage, und auf der einen Seite hat man gesehen, das waren doch eigentlich die großen Brüder, zu denen man eine gewisse Solidarität verspürt hat. Die hörten dieselbe Musik, sie trugen die langen Haare, die lebten so ein bisschen das Leben, was man ja anstrebte, während man es selbst nicht leben konnte zu Hause in der Provinz.
    "Im nur Erspürten kann eine ungeheure Herausforderung stecken"
    Köhler: Die Beatles spielen in Ihrem Roman auch eine Rolle. Sie denken viel über Pop nach.
    Witzel: Ja, genau.
    Köhler: Sie sind selber auch Musiker, Schriftsteller. Sie haben gerade Untergründiges gesagt. Ich meine, es liegt nahe, dass das Wortfeld in unserer Serie, wo kommt die Energie her, natürlich schnell bei den Strömen ist, bei den Fließgewalten, sage ich jetzt mal, und den geschichtlichen Dynamiken, und da ist Pop und Punk und Protest oftmals sehr gleichwertig. Wie ist das bei Ihnen? Wo nehmen Sie die Dynamik her, um beispielsweise einen 800-Seiten-Roman zu schreiben?
    Witzel: Also diese Dynamik habe ich aus der Lücke genommen sozusagen, aus dem, was gefehlt hat. Ich habe versucht, schon damals, glaube ich, als Jugendlicher, mir durch Fantasie das zu ersetzen, was mir nicht mitgeteilt wurde, was ich nur ahnen konnte. Stimmung ist ja ein Thema der letzten Jahre, ein Schlagwort, aber ich finde das nach wie vor einen interessanten Zugang, weil ich glaube, dass da in der Lücke, in dem nur Erspürten eine ungeheure Herausforderung stecken kann, nämlich man taucht in etwas ein, von dem man selbst nicht weiß, wo es einen hinführt, und das gibt einem die Energie, immer weiterzumachen, weil man auch nicht weiß, ob man es schafft, irgendwo am Ende rauszukommen. Also ganz konkret: Bei meinem Roman, den ich über viele Jahre auch immer wieder zwischendurch weggelegt habe, während ich ihn geschrieben habe, da wusste ich auch nicht, ob der mal zu einem Ende kommt oder ob ich vielleicht irgendwo mittendrin aufhören muss und das ganze Projekt als gescheitert ergebe. Das weiß man ja nicht.
    Köhler: Hören Sie eigentlich beim Schreiben Musik oder umgekehrt –
    Witzel: Nein.
    Köhler: – oder es schließt sich aus?
    Witzel: Nein, das kann ich nicht, weil ich versuche, einen eigenen Rhythmus ja zu finden. Ich höre durchaus immer mal in den Pausen Musik oder versuche, mich auch natürlich an einen anderen Rhythmus vielleicht mal anzulehnen, um dort was draus zu lernen, aber wenn man schreibt, kann man eigentlich kaum was anderes machen. Ich kann auch in der Zeit nicht lesen, aber auch keine Musik hören. Ich glaube schon, dass die Geschichte ein ganz wichtiger Motor ist, also für mich, und zwar eine Auseinandersetzung, eine persönliche Auseinandersetzung mit Geschichte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.