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Reinhold Batberger: "Das elfte Jahr"
Zwischen Schweigen und Aufklärung

Nach zehn Jahren hat Reinhold Batberger nun ein neues, autobiografisch gefärbtes Buch vorgelegt: "Das elfte Jahr" erzählt von einem Jungen, der in der strengen Ordnung eines katholischen Internats der 1950er-Jahre den Ausweg in der Literatur entdeckt.

Von Christoph Schröder  | 02.04.2018
    Die Benediktinerabtei Münsterschwarzbach
    Die Benediktinerabtei Münsterschwarzbach (imago / imagebroker )
    Man muss gar nicht erst bis zu Musil oder Hermann Hesse zurückgehen, um festzustellen, dass die deutschsprachige Literatur reich ist an Internatsromanen von hoher literarischer Qualität. Man denke nur an Joseph Zoderers beklemmenden und zugleich erhellenden Roman "Das Glück beim Händewaschen". Oder an Christoph Peters' an Zeitkolorit und religiösen Diskursen ungemein reichen Roman "Wir in Kahlenbeck", der allerdings nicht in den dunklen, autoritären 1950er-Jahren angesiedelt ist.
    Und doch gleichen sich die Fragen, die derartige Prosastücke verhandeln, allein schon aufgrund ihrer erzählerischen Ausgangslage: Wie positioniert sich ein Individuum innerhalb eines Systems, das auf starren Regeln und Glaubensgrundsätzen aufbaut? Und wie steht es um die Mittel, die die Autoritäten zur Durchsetzung ihrer Macht wählen?
    In Reinhold Batbergers Buch, das die Gattungsbezeichnung "Roman" trägt, ist es die bekannte Methode der präventiven Demütigung, mit der die Zöglinge von den Patres im Internat klein gehalten werden:
    "Nichts im Kopf! Nichts im Hirn! Kein Grips, kein Gehirnschmalz! Nicht für ein Gramm! Dumm geboren, falsch erzogen und nichts dazu gelernt. Und wer nichts wird, wird Bahnhofswirt! Bleibt ruhig weiter so dumm! Ihr werdet es nie kapieren! "Schuster oder Steineklopfer", schreit Pater Erzengel, "Ihr werdet alle Steineklopfer oder Schuster!", und klopft einem dann mit den Fingerknöcheln und Kopfnüssen das Denken in den Kopf hinein."
    Ausbildung zu Missionaren
    Elf Jahre alt ist der Ich-Erzähler Heinrich Maria, als er in das Missionsseminar Sankt Ludwig, gelegen nahe der fränkischen Stadt Würzburg, eintritt. Der letzte Krieg, so heißt es, ist seit 12 Jahren zu Ende. Die Schüler sollen hier zu Missionaren ausgebildet werden. Und schon, als sich der Ich-Erzähler darüber Gedanken macht, dass er viel lieber den Tieren in Afrika den Glauben nahebringen würde als den Menschen, zeigt sich, dass er nicht so ganz ohne Widerstände in das auf Anpassung und Gehorsam angelegte Gefüge des Internats passt.
    Heinrich Maria lebt in einer parallelen Vorstellungswelt, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass man ihn zuvor in einem Sanatorium wegen vermeintlicher Knochenmissbildungen in ein Gipskorsett gepresst oder in Lederschlaufen an den Beinen an der Decke aufgehängt hat.
    Er ist ein Freigeist, ein nicht eben bedeutendes, aber doch immer wieder auffälliges Sandkorn im Getriebe des geregelten Schulalltags. Mit der lateinischen Grammatik steht er auf Kriegsfuß und wird deswegen regelmäßig von den frisch aus dem Krieg heimgekehrten Patres mit Schlägen und Kopfnüssen bedacht. Und auch sonst macht er sich frühzeitig Gedanken darüber, wie er sein späteres Leben bestreiten könnte.
    "Ich brauche gar keinen Beruf. Ich bin nicht mal zu einem Beruf berufen. Zu einem Beruf bin ich nicht einmal auserwählt. Die einen sagen, sie brauchen gar nicht berufen zu werden, weil sie auserwählt sind. Die anderen sagen, sie sind auserwählt, das genügt, dazu braucht es keinen Beruf."
    Das ist, versteht sich, auch eine maliziöse Anspielung auf den durch nichts begründeten Allmachtsanspruch der katholischen Priester im Internat.
    Das Medium der Aufklärung
    Es gibt zwei auffällige Leerstellen in diesem Roman: Zum einen fehlen außerhalb des Internats die Männer. Zu seiner Mutter, die als Sekretärin arbeitet, hat Heinrich Maria ein vertrauensvolles Verhältnis, wie sich im Briefwechsel der beiden zeigt. Vom Vater ist keine Rede.
    Zum anderen ist es bemerkenswert, dass wir uns in diesem Roman zwar in einer durch und durch katholischen Welt befinden, der es allerdings an jeder Glaubenstiefe mangelt. Oft ist die Rede von Keuschheit, von der Verderbtheit des Weibs, den Irrungen der Selbstbefleckung. Vollkommen abwesend ist jedoch – auch bei den Patres – jegliche Form einer spirituellen Durchdringung.
    "Das elfte Jahr", das kristallisiert sich allmählich heraus, ist ein klug aufgebauter Bildungsroman, der aus der Geschlossenheit der 1950er-Jahre in ein offeneres Zeitalter hineinführt, das sich am Horizont abzeichnet. Das Hauptmedium der Emanzipation ist für Heinrich Maria die Literatur. Und die wird selbstverständlich von den Patres als Medium der Aufklärung unter Verschluss gehalten:
    "Das viele Lesen von Büchern würde mir gar nichts nützen, wenn ich nicht in die Schulbücher gucke. Bei mir könne man außerdem studieren, dass Bücherlesen keineswegs zur Bildung, Intelligenz und Entfaltung einer Begabung oder Talents führen würde, schon gar nicht zu einer Herzensbildung."
    Die Literatur sickert ganz langsam in das Bewusstsein des Erzählers ein: Plötzlich fallen Namen wie Grass, Böll oder auch Gottfried Benn. Namen, die ihm noch nichts sagen, die aber auch von seinen lesenden Mitschülern mit Inhalt gefüllt werden.
    Nun offen aus- und angesprochen
    Gegen Ende unternimmt Reinhold Batberger einen Zeitsprung. Sein Protagonist ist nun vierzehn Jahre alt und Schüler im Seminar der Benediktinerabtei in Münsterschwarzach. Was zuvor nur andeutungsweise verhandelt wurde, die Verbrechen des Nationalsozialismus nämlich, wird nun offen aus- und angesprochen. Die Zeit des Schweigens geht langsam dem Ende zu.
    Einer der Pater, Sales Hess, hatte bereits unmittelbar nach dem Krieg sein Erinnerungsbuch "KZ Dachau. Eine Welt ohne Gott" veröffentlicht. Zwölf Jahre lang, so zeigt es die Leihkarte der Bibliothek, wollte niemand das Buch lesen, bis es Heinrich Maria in die Hände fällt:
    "Pater Sales hatte einen Rundbrief für die Freunde und Wohltäter der Abtei geschrieben und mit der Post verschickt und verteilt. Sie sollten nach der Auflösung des Klosters durch die Gestapo keine Briefe und kein Geld mehr in die Abtei schicken. Pater Sales wurde von der Würzburger Gestapo verhaftet und nach Dachau transportiert, zusammen mit einem roten Zettel, auf dem stand: Er verbreitet Briefe staatsfeindlichen Inhalts, bringt Unruhe unter das Volk und untergräbt somit die innere Front."
    Im Jahr 2013 hat der zur Abtei Münsterschwarzach gehörende Vier-Türme-Verlag die Erinnerungen von Sales Hess in einer Neuauflage wieder zugänglich gemacht. Reinhold Batbergers Roman, in dem sich Zeitgeschichte und die Entwicklung eines Kindes zum jugendlichen Leser mit künstlerischer Perspektive verbinden, schlägt die Brücke zwischen Fiktion und Realität – und entlässt seinen Helden am Ende in ein ambivalentes Gefühl der Freiheit. Eine Welt ohne die bedrohliche Präsenz des allgegenwärtigen Gottes kannte Heinrich Maria zuvor nicht. "Das elfte Jahr" ist eine sprachlich variantenreiche Geschichte von Unterordnung, Erziehung und Selbsterziehung, in der zugleich geschickt die Stimmung der Nachkriegszeit zwischen Schweigen und Aufklärung inszeniert wird.
    Reinhold Batberger: "Das elfte Jahr". Rimbaud Verlag, Aachen. 278 Seiten, 20 Euro