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Reise durch die europäische Literaturgeschichte

Werner von Koppenfels hat in einer umfangreichen Studie mit dem Titel "Der andere Blick" die Nachwirkungen der subversiven Sicht des antiken Satirikers Menipp in der europäischen Literatur verfolgt. Vor allem utopische und satirische Schriften der frühen Neuzeit mit den Werken von Erasmus, Thomas More und Rabelais sowie die angelsächsische Tradition beispielsweise mit Laurence Sterne und Swift sind Gegenstand seiner ausführlichen Werkbeschreibungen.

Von Andrea Gnam | 20.08.2007
    "Alt, kahlköpfig, trägt einen abgeschabten Mantel, der gegen alle Winde Öffnungen in Menge hat und mit Lappen von allen möglichen Farben geflickt ist; er lacht unaufhörlich, und meistens sind die Windbeutel, die Philosophen der Gegenstand seines Spottes", so beschreibt Diogenes in Lukians "Totengesprächen" den Satiriker Menipp, den er im Totenreich gerne als munteren Mitstreiter an seiner Seite wissen wollte. Bekannt ist nur wenig über Menipp, den antiken Vater der ironischen Phantastik, der im dritten Jahrhundert vor Christus schrieb. Nur Bruchstücke und Titel seiner Werke sind erhalten geblieben; man weiß von einer Hadesfahrt, einem Symposion, einem Testament, einem "Verkauf des Diogenes", die allesamt Gegenstand seiner ätzenden Betrachtungen waren. Überliefert sind die Nachwirkungen seines wachen Geistes durch andere antike Schriftsteller wie Varro und Seneca. Als Hauptquelle mehr als 400 Jahre nach Menipp gilt Lukian. In der frühen Neuzeit hat sich dessen Übersetzer Erasmus im "Lob der Torheit" ausdrücklich auf Menipp berufen.

    Werner von Koppenfels hat in seiner umfangreichen Studie "Der andere Blick. Das Vermächtnis des Menippos in der europäischen Literatur" die Nachwirkungen der subversiven Sicht des Menipp in der europäischen Literatur verfolgt. Vor allem utopische und satirische Schriften der frühen Neuzeit mit den Werken von Erasmus, Thomas More und Rabelais sowie die angelsächsische Tradition beispielsweise mit Laurence Sterne und Swift sind Gegenstand seiner ausführlichen Werkbeschreibungen. Geordnet hat er diese nach inhaltlich-systematischen Gesichtspunkten wie Hadesfahrt, Aufstieg zum Himmel, tierische Standpunkte, die Metropole der Toten und Blinden oder die Gelehrtensatire. Die satirische Schrift in der Tradition des Menippos, die Menippea, zeichnet wie dessen von Lappen bedeckter Mantel ihr heterogener, wilder Stil aus: Dialoge springen von Thema zu Thema, Verse, fremdsprachige Textsplitter, aber auch Landkarten und andere "typographische Fremdkörper" brechen die Einheit des Schriftbildes auf. Motive aus der "seriösen" antiken Literatur wie die zur Beratung einberufene Götterversammlung, der Aufstieg zum Himmel oder der Abstieg zur Unterwelt, Metamorphosen von Menschen zum Tier oder in einen Baum, aber auch das platonische Gastmahl werden parodiert und dem Gelächter preisgegeben. Besonders beliebt ist der Perspektivenwechsel. Der Blick von oben auf das Weltgeschehen, der nicht von der Höhe der Erkenntnis des Philosophen getragen ist, sondern überaus despektierlich die Schwächen der Menschheit registriert, lässt ihr Treiben auf das Gewimmel von Insekten schrumpfen, "Die Städte gleichen am meisten dem Ameisenhaufen", heißt es in Lukians "Totengesprächen". Lukian hat mit einer Hadesfahrt des Menipp und mit dem "Ikaromenipp", ihrem Gegenpart, eine satirische Himmelsfahrt, exemplarisch den Blick von oben und den Blick von unten beschrieben.

    Im "Ikaromenipp" macht sich Menipp auf zu einer Reise zu den Göttern, weil er sich für die Erklärung der Himmelserscheinungen wie zum Beispiel den Mond interessiert, aber auch um persönlich zu überprüfen, wie es um die konkurrierenden Jenseitsvorstellungen der Philosophen bestellt sei. In Lukians "Wahren Geschichten" werden dann die Grenzen der bekannten antiken Welt jenseits der Säulen des Herakles nach oben, nach unten und ins Jenseits übertreten: Auf einem Luftschiff gelangen der Erzähler und seine Reisenden zum Mond, aber auch in den Bauch eines Walfisches und schließlich für eine befristete Zeitspanne in die Elysischen Gefilde auf die Insel der Seligen. Lukians hier entwickelte "Bauformen", so Koppenfels, haben epochenübergreifend die fiktionalen Utopien der europäischen Literatur geprägt. Das Fluggerät des Ikaromenipp, das er aus der Schwinge eines Adler und eines Geiers gebaut hat, und das Luftschiff der Passagiere in den "Wahren Geschichten" wurden zu Prototypen des extraterrestrischen, literarischen Flugverkehrs.

    Beliebt war in der frühen Neuzeit das Motiv des lächerlichen Gastmahls, zu dem es antike Vorbilder gibt. Von Varro ist der zum geflügelten Wort gewordene Titel erhalten: "Du weißt nicht, was der späte Abend bringt". Deftig geht es bei Lukian her. Wie beim parodierten Vorbild, dem "Symposion" Platons, erscheint noch ein ungeladener Gast in der Runde der Philosophen. Der gelehrte Disput mündet in einen Streit. Die Philosophen verfechten handgreiflich ihre Positionen, so dass das Ganze zu einer Schlägerei ausartet. In der humanistischen Parodie wandelt sich der Inhalt der Gespräche des Gastmahls. Man ist nicht mehr auf der Suche nach Wahrheit, sondern auf der Suche nach dem guten Leben. Noch witziger als die Titel einiger Satiren - "Julius klopft am Himmelstor und begehrt Einlass" - heißt eine Erasmus zugeschriebene Satire auf den Papst, sind die absurden und oft rüden Titel der imaginären Bibliotheken, welche die Satiriker entworfen haben. Schnell ist man daher mit dem Häresieverdacht gegenüber den Autoren solchen Gedankenguts zur Hand, kritische Passagen aus Erasmus "Colloquia" wurden prompt indiziert. Koppenfels Reise durch die europäische Literaturgeschichte mit Menipp als Steuermann zeigt die Sprengkraft der nicht klassischen Antike und den "erkennbaren Familiensinn" der Autoren, die ihren Ahnherren nie verleugnet, sondern sich wechselseitig die Staffel weitergereicht haben.


    Werner von Koppenfels: Der andere Blick. Das Vermächtnis des Menippos in der europäischen Literatur
    C.H. Beck, 2007
    320 Seiten, 38 Euro