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Reise eines Menschenfressers nach Paris

Ich stütze mich gern auf dokumentarisches Material: etwas Schockierendes mit hohem Aussagewert. Denn ein Roman ist für mich eine Hypothese über eine Realität, die man nicht fassen kann.

Christoph Vormweg | 08.08.2002
    Das Nicht-verstehen, das Nicht-fassen-können: darin sieht der 1949 geborene Didier Daeninckx den Motor seiner literarischen Erkenntnisarbeit. Anders als das Gros der französischen Gegenwartsautoren begnügt er sich nicht mit privaten Perspektiven. Vielmehr versucht er in seinen Büchern immer die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge hinter dem Plot herauszuarbeiten. In seiner Erzählung "Reise eines Menschenfressers nach Paris" eröffnet uns Didier Daeninckx ein schwarzes Kapitel der kolonialen Vergangenheit Frankreichs:

    1997 bin ich 5, 6 Wochen in Neukaledonien gewesen. Ich war als Schriftsteller eingeladen. Mal empfing mich ein Stammeshäuptling, mal der Bürgermeister, mal eine linksextreme marxistische Partei, mal der Pfarrer, mal die rechte RPCR, die gegen die Unabhängigkeit ist. Ich habe also eine ganze Menge Leute getroffen. Und mir ist rasch klar geworden, dass "Schriftsteller-sein" dort nicht viel bedeutet. Denn die kanakische Gesellschaft basiert auf der gesprochenen Sprache, der mündlichen Überlieferung. Also habe auch ich angefangen, meine Geschichten frei heraus zu erzählen, meine Novellen, meine Romane. Und da es so Tradition ist, erzählte man mir im Gegenzug ebenfalls Geschichten. So hörte ich mehrere Male von der Pariser Kolonialausstellung - und zuerst wollte ich das alles gar nicht glauben. Ich hielt das für Legendenbildung, das schien mir übertrieben.

    1998 ist die französische Fußballnationalmannschaft mit einem Kanaken in ihren Reihen Weltmeister geworden: Christian Karembeu. Auch zwei seiner Urgroßväter brachten es - wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen - zum Aushängeschild. 1931 wurden sie, wie Didier Daeninckx bei den Recherchen für seine Erzählung herausfand, mit rund 100 Landsleuten nach Frankreich eingeschifft, um - wie es hieß - endlich das Mutterland kennenzulernen. Die vermeintliche Bildungsreise endete jedoch in einem Gehege. Obwohl längst missioniert, also nach offizieller französischer Sicht zivilisiert, wurden die Kanaken zur Gaudi von über 5 Millionen Besuchern in der zoologischen Abteilung der Pariser Kolonialausstellung als Kannibalen exponiert - artgerecht zwischen Löwengrube und Krokodilsteich.

    Diesen monströsen Stoff hat Didier Daeninckx in seiner Erzählung "Reise eines Menschenfressers nach Paris" mit der letzten großen Kanaken-Revolte gegen die französische Kolonialmacht im Jahre 1985 verknüpft. Sein Erzähler Gocéné trifft an einer Straßensperre auf junge Aufständische, die sich darüber aufregen, dass ein Weißer seinen Wagen steuert. Im Gegenzug erzählt er ihnen die Geschichte seiner Reise zu ebenjener Kolonialausstellung, auf der er Minoé, die ihm versprochene Frau, nicht aus den Augen lassen sollte. Die Angehimmelte jedoch wurde von den Veranstaltern im Austausch gegen Krokodile an den Frankfurter Zoo ausgeliehen. Und so riskierte Gocéné, um seine Ehre zu retten, alles und brach mit seinem Freund aus dem Kannibalen-Gehege aus.

    In der Beschreibung der anschließenden Verfolgungsjagden spielt Didier Daeninck die ganze Routine aus, die er sich als Autor von Kriminalromanen zugelegt hat - allein sieben davon liegen mittlerweile in der renommierten "Série noire" bei Gallimard vor. Doch nicht nur wegen des spannenden Plots lohnt die Lektüre seiner Erzählung "Reise eines Menschenfressers nach Paris". Denn sie demonstriert die ganze Sprengkraft der kolonialen Vergangenheit, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg literarisch kaum noch Beachtung fand - von wenigen Ausnahmen abgesehen, so dem aufstörenden, in Deutschsüdwestafrika spielenden Roman "Morenga" von Uwe Timm oder dem Roman "Kain und Abel in Afrika" von Hans-Christoph Buch. Dabei schafft allein schon die Tatsache, wie lange sich "Kanake" auch im deutschsprachigen Raum als Schimpfwort gehalten hat, die Verbindung zu der Erzählung von Didier Daeninckx:

    Die Frage des Kolonialismus, der Dekolonialisierung wird in Frankreich immer gegenwärtiger - vor allem wegen des Algerienkriegs. Das Schweigen ist gebrochen, das Schweigen über die Methoden der Franzosen, über das Vorgehen der Armee, über die Frage der Folter. Da gibt es eine Menge Dinge, die aufhorchen lassen, nicht zuletzt das Widerstreben bei der Trennung vom Kolonialreich. Das ist ein hochaktuelles Thema, auch auf dem Buchmarkt. Nehmen Sie nur das Buch "Das afrikanische Frankreich". Es zeigt, wie ein Teil der politischen Klasse versucht, über eine ganze Reihe neokolonialistischer Systeme auch nach der Unabhängigkeit die Afrikaner auszubeuten. Die Präsenz und der Fortbestand des Kolonialreichs - das sind Themen, die im Frankreich des 21. Jahrhunderts wirklich zum Alltag gehören.

    12 Millionen Quadratkilometer umfasste das französische Kolonialreich im Jahre 1931. Das im Pazifik gelegene, bis 1900 als Strafkolonie genutzte Neukaledonien gehörte da, wie Klaus Wagenbach in seinem aufschlussreichen Nachwort zeigt, zu den bescheideneren Eroberungen. Die Botschaft von Didier Daeninckx´ Erzählung "Reise eines Menschenfressers nach Paris" ist jedenfalls so einfach wie wahr. Wer die Weißen kollektiv verdamme, so Gocénés unausgesprochener Vorwurf an die jungen Aufständischen, sei schon selbst vom Rassenwahn infiziert. Denn jener Weiße, der ihn 1985 chauffierte, hatte ihm 1931 durch seine Zivilcourage das Leben gerettet.

    In den Gymnasien ist das Buch mittlerweile sehr präsent. Es gibt viele Lehrer, die es nutzen, weil es die Möglichkeit bietet, sich mit den französischen Jugendlichen auseinanderzusetzen. In ihren Schulbüchern ist die Kolonialgeschichte, die auch die ihre ist, nämlich bestenfalls abwesend, schlimmstenfalls verstümmelt. So ein Buch löst da auf der Stelle eine Debatte aus über diesen ungeheuren Widerspruch, der über die Politik hinausgeht, der wirklich ein philosophisches Problem ist: die Tatsache nämlich, dass die Kolonialherrn Republikaner waren. Republik und Kaiserreich sind da verschmolzen. Das ist etwas, was das Denken ungemein blockiert. Statt der universellen Botschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit das Gegenteil: die Demütigung. Schließlich haben die französischen Wissenschaftler bis in die zwanziger, dreißiger Jahre hinein daran gearbeitet, die Ungleichheit der Rassen zu beweisen.

    Didier Daeninckx´ Erzählung "Reise eines Menschenfressers nach Paris" ist zweifellos lehrreich. Belehrend ist sie jedoch nicht. Welche Schlüsse die jungen Aufständischen aus Gocénés Geschichte ziehen, bleibt nämlich offen. Wie in seinen Kriminalromanen sperrt sich der gelernte Drucker, der über seine Arbeit als Lokalreporter zum Schreiben kam, gegen eindeutige Lösungen. Nicht als Vertreter der engagierten Literatur sieht sich Didier Daeninckx, sondern - im Sinne von Jacques Prévert - als Anhänger der "littérature dégagée", die sich gegen Parteilichkeit sperrt, die kein Sprachrohr sein, sondern differenzieren will.

    Das Problem war für mich, dass man 1997 rund um die Welt über den 150. Geburtstag der Abschaffung der Sklaverei debattierte, dass man ihn feierte und sich ein gutes Gewissen bescherte, dass man sagte, auch Frankreich habe sich zu dieser Botschaft bekannt, dass man also nicht sehen wollte, wie sehr das Land in dieser Frage selbst betroffen war, auf was für einer ideologischen Wolke man da schwebte, einer Wolke, die es erlaubt hatte, auf der halben Erde das genaue Gegenteil zu praktizieren. Es ging also darum, endlich über diesen Widerspruch zu sprechen, warum man in Frankreich ständig das Bedürfnis hat, über die Menschenrechte zu reden, über die Revolution, die Résistance und das alles, und wie man dann in Algerien die Botschaft des Widerstands mit Füßen treten und sich so aufführen konnte wie die deutschen Eindringlinge zwischen 1939 und 1945.