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Reise in das schiere Grauen

In seinem neuen Roman "Der nächtliche Rat" wendet sich Dzevad Karahasan erstmals der Vorgeschichte der Katastrophe auf dem Balkan zu. Wie auf einer schiefen Ebene gleitet die jugoslawische Welt in seinen Schilderungen unaufhaltsam in den Wahnsinn.

Von Jörg Plath | 29.05.2006
    Dzevad Karahasans Roman "Der nächtliche Rat" beginnt voller Überschwang und mit einem Jauchzer des Glücks - und wird zu einer Reise in das schiere Grauen. Die Heimatstadt Foca, in die Simon Mihailovic nach 25 Jahren in Deutschland zurückkehrt, liegt am ersten Tag schön und sinnfällig wie eine Schöpfung Gottes vor seinen Augen im Tal. Dann geschehen in ihr vier Morde, und für den Täter halten auch Freunde und Bekannte niemand anderen als den Rückkehrer, der bald Bekanntschaft mit Zombies schließt. Um vom Beginn der jugoslawischen Kriege im Jahr 1991 zu erzählen, zieht der wichtigste Schriftsteller Bosniens in "Der nächtliche Rat" sämtliche Register des Horrorromans und reichert sie mit Elementen des Kriminal- und des Zeitromans an, so, als wolle er es Stephen King einmal zeigen.

    "Die ersten Notizen für das Buch sind im Oktober 1994 entstanden. Ich habe unzählige Male versucht, das Buch zu schreiben, und jedes Mal habe ich es aufgegeben, weil ich eben nicht imstande war, meine Emotionen, persönliche, subjektive, Verzweiflung, Trauer, Wut, was auch immer, zurückzunehmen. Ich konnte das Buch vollenden, als die Kriegsereignisse sozusagen weit genug waren, um über den Vorabend des Krieges ruhig, objektiv, ohne persönliche Emotionen nachdenken zu können."

    Um so erstaunlicher, dass "Der nächtliche Rat" wie aus einem Guss wirkt, obwohl das Buch nicht anders als Karahasans frühere Romane "Der östliche Diwan" und "Schahrijars Ring" virtuos Gattungen aller Art kombiniert: Märchen, Legenden, historische Exkurse und Kurzessays über die Erbsünde, die Erinnerung, die Zeit, den Bart, den Verrat. Zusammengehalten werden sie von einer Choreografie beunruhigender Andeutungen, wie sie jedem Horrorroman eignet.

    In der ersten Nacht in Foca heulen die Hunde, am nächsten Morgen kann Simon die Kellertür des Elternhauses, durch die eine ungeheure Kälte dringt, auch unter Aufbietung aller Leibeskräfte nicht öffnen, und als er in die Stadt hinunter geht, hasten zahlreiche Flüchtlinge grußlos an ihm vorbei. Simon tritt zu einem Händler, der eilig sein Zeug zusammenrafft.

    "'Lass mich bloß in Ruhe!' brüllte der Riese. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. 'Ich frage doch nur, was passiert ist', schrie Simon beleidigt zurück. 'Ein Mord, Mensch, das ist passiert! Ein Mord und danach eine Schändung', erklärte der Bärtige und hantierte noch hastiger mit seinen Waren, als wollte er kaschieren oder rechtfertigen, dass er den Vorfall, von dem alle wussten und über den alle schwiegen, ausgeplaudert oder vielleicht als erster beim Namen genannt hatte.

    Jemand klopfte Simon auf die Schulter. 'Ihren Ausweis, bitte', sagte ein Polizist, den der Bärtige offensichtlich durch sein Geschrei angelockt hatte."

    Von nun an ist Simon in Fänge geraten, die ihn nicht mehr los lassen. Unaufhaltsam geht sein Weltvertrauen in Stücke. Eine Ehekrise hatte ihn zurückkehren lassen nach Foca. Die unbedingte, absolute Liebe zu Barbara, einer Deutschen, war nach dem Auszug des gemeinsamen Sohnes "mehr Absicht als Schicksal" geworden. In Foca hofft Simon, die verlorene Einheit mit der Welt wieder finden zu können. Doch sie geht ihm erneut verloren. Vier mit ihm befreundete Menschen sterben, kein Mal kann er ein Alibi vorweisen. Betäubender Walnussgeruch füllt das Elternhaus, in den Zimmern seufzt es laut, der Spiegel ist voller Rauch, der unzugänglich bleibende Keller verströmt noch immer beißende Kälte. Die Tage vergehen ungezählt. Wenn Simon mit schwerem Schädel aufwacht, fällt schon die Dunkelheit. Sie ist so schwarz wie sonst nur im Winter.

    Der ältere Nachbar, ein Moslem, meidet ihn plötzlich. Dafür taucht unversehens in der Finsternis ein ehemaliger Schulfreund auf. Enver Pilar kehrt jede Nacht wieder und diskutiert im Halbdunkel der Küche mit Simon. Dass er erschlagen wurde und ihn für seinen Mörder hält, erfährt der Rückkehrer erst spät. Enver ist das vierte Todesopfer im Roman und der erste Zombie von vielen: Wenn Massaker bevorstehen, kehren die Opfer früherer Blutbäder zurück.
    Doch zu fürchten sind die Lebenden. Als Simon fassungslos vor dem dritten Freund steht, der erschlagen wurde, lobt ihn ein Polizeischerge für die "gute Arbeit". Dessen Vorgesetzter wartet nur auf Simons Bekenntnis zum Serbentum, um alle Anschuldigungen fallen zu lassen, und bestellt ihn zu Versammlungen in Hinterzimmern, wo serbische Ideologen zu gefühligen Liedern Hass predigen.

    "'Es lebe das Leid!' kreischte Milijana, der schon seit einiger Zeit Tränen übers Gesicht rollten. 'Mit Leid werden wir die Welt erretten, mit Leid hat Christus sie errettet, und so werden wohl auch wir es tun. Es herrsche das Leid, selbst wenn ich sein erstes Opfer sein sollte.'

    'Vor allem, wenn keineswegs du sein Opfer sein wirst, sondern deine Nachbarn’, bemerkte Miloc stotternd.

    'Red keinen Scheiß, wenn niemand mir Leid zufügt, muss ich anderen Leid zufügen, damit es existiert', fuhr ihn Milijana an und weinte untröstlich weiter."

    Dzevad Karahasan ist ein Platoniker, ein Metaphysiker. Aber ein ganz gegenwärtiger, nicht erst, seit 1992 in seiner Wohnung in Sarajewo eine Granate einschlug, während er seiner Frau im Büro aus dem Manuskript eines neuen Romans vorlas. Ein Jahr später flohen beide ins Ausland und leben nun in Graz.

    Karahasan, der 1953 geboren wurde und nun wieder wie vor den Kriegen an der Universität von Sarajewo Dramaturgie lehrt, hat in dem "Tagebuch der Aussiedlung" sowie den Romanen "Schahrijars Ring" und "Sara und Serafina" vom Untergang des spannungsreichen Zusammenlebens von Katholiken, Orthodoxen, Juden und Moslems in Sarajewo erzählt. Mit "Der nächtliche Rat" und seinem schuldlosen Rückkehrer wendet er sich erstmals der Vorgeschichte der Katastrophe zu.

    "In Kroatien, Bosnien, Serbien wird mir in manchen Besprechungen vorgeworfen, dass mein Held in der Wirklichkeit kaum möglich sei. Seine Rückkehr sei nicht motiviert genug. Er sei irgendwie nicht glaubwürdig und, und, und. Unter anderem hat mir dies ein guter Freund von mir in seiner Besprechung vorgeworfen. Das Merk würdige daran ist, dass dieser Freund mich im Mai '92, als Sarajewo schon zwei Monate beschossen worden war, dass in Sarajewo nichts Schlimmes passieren kann. Sein Vorwurf oder Bemerkung entspringt sozusagen seinem später erworbenen Wissen, seinen Kriegserfahrungen. Er projiziert das im Nachhinein Erlebte in die Zeit vor dem Krieg, auf Grund seiner jetzigen heutigen Überzeugungen seines Wissens heute."

    Karahasan deutet die Kriege als ein neues Kapitel der Gewalt, die den Schwächsten, den Moslems, seit Jahrhunderten immer wieder angetan wird. Simons Generation wollte die Kette der Morde, Vergewaltigungen und Vertreibungen unterbrechen, ihre Idole seien "Sänger und Schauspieler, nicht Herrscher und Generäle" gewesen. Doch sie verlieren gegen die kommunistischen Eltern, die Sieger des Zweiten Weltkrieges:

    "Und ich glaube, für meine Generation in Jugoslawien, die leider vollkommen gescheitert ist, historisch gesehen, war das das Schrecklichste, das Schlimmste: dass wir keine Vorbilder haben konnten. Unsere Väter waren Sieger, die ihren Sieges sich als nicht berechtigt oder würdig erwiesen hatten. Nach dem Krieg wusste die Generation nicht Bescheid, was mit dem Sieg. So ist Simons Generation und meine Generation immer noch aufgewachsen im Widerstand gegen die Väter. Wir wussten sehr wohl, dass wir ihre Welt nicht zu akzeptieren vermochten. Aber wir wussten auch nicht, was für eine Welt wir schaffen können. So ist es geschehen, dass unsere Väter oder Großväter unsere Söhne an die Front geschickt haben, und wir vollkommen verzweifelt, dabei stumm, verstummt, zugeschaut haben."

    Wie auf einer schiefen Ebene gleitet die jugoslawische Welt in "Der nächtliche Rat" unaufhaltsam in den Wahnsinn. Ähnelt Foca anfangs der Stadt Vischegrad in Ivo Andrics Nationalepos "Brücke über die Drina", so endet der Roman mit Anklängen an die Hölle in Dantes "Göttlicher Komödie". Simon kann diese mörderische Entwicklung nicht aufhalten. Aber in der österlichen Zeitspanne von 40 Tagen nach Mariä Himmelfahrt, dem höchsten Feiertag der orthodoxen Kirche, an dem der verlorene Sohn zurückkehrt, verwandelt sich seine Liebe. Nun gilt sie nicht mehr nur der Ehefrau und der Heimat, sondern auch den unerlösten Opfern der Massaker. Das Leiden der Untoten sucht Simon, dessen Name an den Apostel erinnert, an den Begründer der orthodoxen Lichtmystik und jenen Mann, der eine Zeitlang das Kreuz Jesu trug, durch Mitleiden aufzuheben. Dem mythischen Verhängnis der Gewalt wird mit einer Mystik der Liebe begegnet. Da öffnet sich die Kellertür.

    Ein seltsames Buch, pendelnd zwischen Glück und Horror, voller Gedanken und unglaublich spannend zu lesen.