Freitag, 19. April 2024

Archiv


Reiseführer in die Verstrickungen der Moderne

Den Konflikt zwischen "Selbstdenkern" und "Systemdenkern" stellt Karl Heinz Bohrer in den Mittelpunkt seines neuen Essays. Über die gegenwärtigen Möglichkeiten unabhängigen Denkens macht sich der Doyen der deutschen Kulturkritik wenig Illusionen – und schreibt doch ein Plädoyer für ein "agonales", kämpferisches Denken.

Von Volkmar Mühleis | 08.06.2012
    Karl Heinz Bohrers neuer Essayband Selbstdenker und Systemdenker – Über agonales Denken vereint Aufsätze zum Diskurs der Moderne mit Vorträgen zum gleichen Thema und essayistischen Erinnerungen. Es sind stilistisch drei verschiedene tonale Register, auf denen er spielt, sodass die Verdichtung der Aufsätze sich mischt mit der Frische der Vorträge und der literarischen Anschaulichkeit, wie er sie in seinen Sechs Szenen Achtundsechzig entwickelt. Diese lose Folge von Erinnerungen an die Zeit – die ebenso persönlich wie scharf beobachtet sind, den Autor zu Wort kommen lassen, aber auch ein szenisches Panorama der sechziger Jahre und ihrer Folgen entwerfen –, sie ist das Kernstück dieses neuen Bandes. Es ist eine Étude des eigenen Betrachtens, und es steht zugleich auch für sich selbst, inmitten der argumentativen Aufsätze und Reden. Es zeigt den Anspruch der Argumentation am eigenen Erfahren, Vergewissern, Nachdenken, im weiten, zeitlichen Abstand. Doch auch in den Reden tritt das Erinnerte, dem Selbst Verhaftete nach vorne, um gerade dadurch wiederum den Blick zu öffnen, den Blick auf die Sache. So wie Karl Heinz Bohrer in seiner Laudatio auf das philosophiehistorische Werk von Kurt Flasch dessen Autobiographie nicht außer acht lässt, so zeigt er mit einem Nebensatz, dass auch er das Gedankliche vom Erlebten her motiviert sieht, des Erlebten in der Welt wie in der Vorstellungskraft. Welchen Einfluss hatte denn das Rheinland und der Katholizismus auf sein Denken, wenn er in diesem Zusammenhang etwa darauf zurückkommt?

    Karl Heinz Bohrer: "Der erste Einfluss ist vielleicht der eines kindlichen Interesses an Bildern und Vorgängen, die die Phantasie anregen. Die Messe war für mich wohl interessant einerseits durch das Zentrum ihrer Vorgängigkeit, nämlich die Eucharistie, an die ich eben bis zu meinem zwölften Lebensjahr geglaubt habe – dass in diesem Augenblick, (…) im Brot wirklich der Leib Christi steckt. Und auf der anderen Seite waren es die rituellen Formen der Messe selbst und ihres Vorgangs – der Lieder, Gewänder, die unendliche Farbsymbolik bei bestimmten Tagen, Ostern, Pfingsten. Das war sicher der Ausgang meiner katholischen Prägung, die dann jäh zerbrach durch Reflexionen der Bedeutung dieser Formen, sei es der Messe selbst, aber auch des Rituals der Beichte. Und diese Ausgesetztheit des katholischen Glaubens an die Relevanz ihrer Formen hat bei mir die, ja, wenn Sie wollen, nihilistische Konsequenz schon als Junge gehabt. Die zweite Wirkung der katholischen Kirche, über diese Absage hinaus, war wohl sicherlich, als ich erkannte, dass die deutsche Universität, die mir dann doch schon sehr früh als Beruf vorschwebte, auch wenn ich erst über den Umweg der Literaturkritik zurückkam zu dieser ursprünglichen Bestimmung, dass die deutsche Universität geprägt ist vom protestantischen Geist, der mir fremd war, (…) in dieser Form auch immer fremd blieb, vielleicht auch durch eine bestimmte Frömmelei, die man vor allem in dem Begriff des Kulturprotestantismus immer gefunden hat und unabhängig von meinen eigenen theologischen Interessen oder Distanzen zur Theologie blieb. Dieses Bewusstsein, dass ich in einem Kontext arbeite, der mir ursprünglich fremd ist, nämlich einer protestantischen, kant’schen, hegelschen, habermasschen Universität, dass ist wohl zweifellos diesem katholischen Jugenddiskurs und Eindruck zu verdanken."

    In dieser Spannung zum weniger bildlichen als systematisch-rationalen Geist bewegt sich auch das argumentative Anliegen von Bohrer, nämlich Mythologie und Moderne nicht als Gegensätze zu sehen, sondern von der Romantik an das mythologische Denken bei Friedrich Schlegel, Friedrich Nietzsche, Roland Barthes und anderen als Teil der Moderne zu verstehen. In seinem Essay Vernunft, Zeitlichkeit und Ästhetik lädt er deshalb explizit dazu ein, Jürgen Habermas’ Schrift Der philosophische Diskurs der Moderne unter diesem Aspekt neu zu lesen. Wie muss man sich das vorstellen?

    Karl Heinz Bohrer: "Ich finde seine Kritik an den, wie er meint, irrationalistischen Vorgaben – vor allem also irrationalistische deutsche Denker – und irrationalistischen Verfahren der Derrida und Foucault und deren Defizite in ihrer Argumentation (…) sehr interessant, und sind mir in gewisser Weise einleuchtend, immer schon gewesen, nicht zuletzt Habermasens klare Sprache und unverhuschtes und unmetaphorisches Vorgehen, um das aufzuzeigen, worum es ihm geht. Andererseits allerdings muss ich sagen, und das ist so der Kern meines Aufsatzes zu seinem 80. Geburtstag vor zwei Jahren, sind drei Verkennungen vielleicht zu nennen (…): einmal die Verkennung von Friedrich Schlegels Originalität in der Erfassung ästhetischer Autonomie; zum zweiten die Verkennung (…), oder besser gesagt, die ideologiekritische Verkennung von Nietzsches phänomenologischer Bestimmung ästhetischer Phänomene; und schließlich auch die Verkennung von Baudelaires Modernitätsdefinition, nämlich als einer Epiphanie des Schönen, und nicht etwa einer Definition historischer Erfahrung. Also diese drei Aspekte der habermasschen Darstellung, was denn der philosophische Diskurs der Moderne ausmacht, sind natürlich in meiner Perspektive sehr große Einwände. Mit anderen Worten: Das Interessante an Habermas’ Buch schien mir, als ich es erneut las, zu sein, dass, wenn man diese drei Verkennungen quasi argumentativ reparierte und sie sozusagen in die Grundtendenz der habermasschen Schrift einzöge, was dann entstünde mir interessanter erschiene als was der habermassche Text heute darstellt."

    Dabei wäre allerdings die Frage an Bohrer, wo und wie er denn die Aktualität des mythologischen Denkens in der Moderne heute noch vergegenwärtigt sieht. Denn Roland Barthes Schrift Mythen des Alltags ist hierzu, um es salopp zu sagen, sein letztes Ass im Ärmel. Es stammt zugleich aus einer Zeit, in der die Moderne selbst noch nicht in Frage stand, der Streit mit den Vertretern der Postmoderne noch nicht stattfand. Inzwischen ist auch die Postmoderne bereits Geschichte. Ist aber das mythologische Denken noch lebendig?

    Karl Heinz Bohrer: "Ich meine, der letzte Versuch der Moderne – (…) und als Literaturhistoriker, nichts anderes bin ich ja von Beruf, verfällt man natürlich auf den beruhigenden Blick, gewisse Dokumente in der Vergangenheit zu haben. Also, der allerletzte, habe ich angesetzt zu sagen, Vertreter einer modernen Mythologie war natürlich der Surrealismus. Und es ist schon interessant, dass seit Friedrich Schlegels Neuer Mythologie über Nietzsches, sagen wir mal dionysischen Augenblick, bezogen auf die griechische Mythologie, es dann also im Surrealismus – vor allem Aragons Un paysan de Paris – der letzte wirklich überzeugende Versuch einer neuen Mythologie gelang. In der Moderne (…), oder sagen wir besser in der zeitgenössischen bis postmodernen Zeit haben wir natürlich doch verschiedene Ansätze zu so etwas wie einem mythologischen Verständnis von Darstellung. (…) Ob das nun Heiner Müller ist, wohin man da schaut, an anspruchsvollen, modernen, zeitgenössischen Künstlern, in der Malerei, in der bildenden Kunst und in der Literatur – die Frage ist eigentlich nur die, was heißt denn hier neue Mythologie? (…) Es ist der Versuch, den psychologischen Roman, die gesellschaftlichen Analyse (…) zu überbieten durch Kategorien, durch Darstellungsformen, durch Bilder (…), die uns Menschen in einer uns bis dato nicht bekannten Weise neu erscheinen lassen."

    Die Bedeutung dieser Bilder allgemein darzulegen, mag Sache eines Denkens sein, dass Rationalität und Mythologie verbinden kann, sie aber zunächst einmal als mythologisch relevant im Einzelnen zu erkennen, das ist Sache der Literaturkritik, der Kunstkritik, der Theaterkritik, usw. Nach den allgemeinen Überlegungen und den Erinnerungen schließt der Band deshalb mit zwei kulturkritischen Beispielen, in denen Bohrer sich zum einen der mythischen Figur des Helden widmet, und wie er heute erscheint, zum anderen Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten. In beiden Fällen legt er das Augenmerk darauf, wie durch selbstbezogene Erscheinungen intensive Bilder entstehen, also die allein ästhetische, imaginäre Qualität des Dargestellten sich zeigt. Die Frage angesichts dieser Beispiele ist, ob sich die Kulturkritik, wie er es selbst fordert, derart auf die Erscheinung – und er spricht von Aura – zu konzentrieren hat:

    Karl Heinz Bohrer: "Ja, ich hab die Aura genannt, aber die eigentliche Antwort, was denn als Kriterium übrig bleibt, bei der Kritik – denn wenn gesellschaftskritische und kulturkritische Kriterien verbraucht sind, was bleibt da übrig? Das ist ja eine wirklich sehr, sehr schwierige Frage, die man eigentlich, sozusagen, denkerisch in eine Art Verzweiflung gerät – wie kommt man aus einer Selbstreferenz dann der Betrachtung eines Kunstwerks, oder lassen wir es gar nicht so erhaben sagen, sondern eines literarischen oder künstlerischen Produkts heraus? Und meine Antwort darauf gewinne ich ja durchaus auch wiederum in der Beobachtung von gegebene Antworten: Das eine ist sozusagen der Mystizismus des Ausdrucks, (…) und die andere, viel wichtigere, ist natürliche die heute noch relevante, grandiose Beschreibung und Charakteristik Baudelaires als eine Variante dieses Ausdrucks (…) als Kriterium, nämlich seine Begründung eines nichtreferentiellen, ästhetischen Bösen in seinem Aufsatz De l’essence du rire. (…) In diesem, sich in keiner moralischen oder psychologischen Erklärung ausdrückenden, schieren Ausdruck eines exzessiven Vorgangs, den er also mit dem Begriff des Bösen benennt, des ästhetischen Bösen, da sehe ich eine andere Möglichkeit, zeitgenössische Kunst zu beurteilen."

    Charles Baudelaire veranschaulichte das am Beispiel der Groteske, in der das Komische nicht länger nur ein Seitenhieb auf feste Ordnungen ist, sondern bodenlos ist, den Abgrund mit aufzeigt, öffnet, mit seinen Worten: das Böse. Ästhetische Kunst bewegt sich weniger in einem festen Rahmen, als ihn genau in Frage zu stellen, das war eine Grundvorstellung von der Aufklärung an. Lässt sich dieses Credo aber so ohne weiteres aufrecht erhalten, gehen mit ihm doch die in der Kunst schon klassischen Polarisierungen von Altem und Neuem, Rhetorik und Originalität oder Systemzwang und Unabhängigkeit einher, womit man wieder beim Anfang wäre von Bohrers Schrift, nämlich dem Titel des ersten Aufsatzes Was heißt unabhängig denken? Diese Frage ist so aktuell wie die Debatte um den Umbau der Universitäten in Unternehmen oder die Verschulung der Lehre durch die Hochschulreform. Wo zeigt sich vor diesem Hintergrund heute die Unabhängigkeit des Denkens?

    Karl Heinz Bohrer: "Nun ja, um zunächst einmal unverschämt zu sagen, ich versuche selber unabhängig zu denken. Ich weiß nicht, ob mir das gelingen kann, denn ich habe ja Bedingungen vorgeführt, die diese Unabhängigkeit sehr in Frage stellen. Und zwar nicht einfach durch praktische Vorfälle, sondern mit einem jetzt mal systematischen Argument: Wenn wir wissen und erkennen, dass die Unabhängigkeit des Denkens, die Innovatorik, ein relativ neuer Begriff ist – vor allen Dingen antizipiert vielleicht in der Tat durch Montaigne (…), ist es natürlich Nietzsches kulturkritische Reflexion, und in dieser kulturkritischen Reflexion taucht nun der Begriff der Unabhängigkeit des Denkens als Ausdruck einer Schule des Verdachts, nämlich des Verdachts gegenüber vorherrschenden Ideen auf. Wenn nun aber diese Beschreibung, des Anspruchs der Unabhängigkeit, über hundert Jahre alt ist, und immer wiederholt worden ist (…) – befinden wir uns nicht in einer hoffnungslos epigonalen Situation? Vor allem deshalb natürlich, weil Kulturkritik ja voraussetzt, wiederum eine Norm, an der man diese zu kritisierende Gegenwartskultur aufspießt. Und da diese kulturelle Norm ebenfalls im Kontext meiner Argumentation ein sehr zweifelhaftes Argument ist, ist mein Aufsatz, meine eigene Antwort auf diese Frage (…) eine sehr skeptische, und – soweit ich meinen Aufsatz noch im Gedächtnis habe – verweise ich auf die Möglichkeit des Schriftstellers, nicht so sehr des Denkers eigentlich, sondern des denkenden Schriftstellers und seiner Sprache."

    Ein anderes Denken hebt für Bohrer immer an mit einer anderen Sprache, überraschenden Wendungen in dem, was er semantische Evidenz nennt, also das Feld verständlicher Ausdrucksmöglichkeiten. Sein Band führt zutiefst in die Verstrickungen und Probleme der Moderne ein, zugleich versucht er mit ihren Konzepten neue Wege in ihr zu finden. Er versucht der Unabhängigkeit ebenso treu zu bleiben wie der Originalität. Der Kampf, den sein agonales Denken beschreibt, ist nicht zuletzt einer mit dem eigenen Instrumentarium, der eigenen philosophischen, kulturkritischen, literarischen Geschichte. Ob mit diesem Buch die Auswege aus den angesprochenen Problemen gefunden sind, wäre zuviel verlangt – es ist das eine, die Moderne nicht preisgeben zu wollen, das andere, sie zu retten. Denn wie wird sich die Ausgabe des Buches als E-Book lesen, wenn in Technologie verfasst die Worte der Unabhängigkeit als Pixel erscheinen? "Selbstdenker und Systemdenker" ist ein Buch, das eine Antwort verdient – von ebenso kritischen Geistern.

    Karl Heinz Bohrer: "Selbstdenker und Systemdenker – Über agonales Denken"
    Hanser Verlag, 224 Seiten, 19,90 Euro