Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Relektüre: "Fluss ohne Ufer"

Unter einer "Relektüre" versteht man die Wiederaufarbeitung klassischer Texte und Überprüfung früherer Interpretationen. Peter Bürger versucht sich im nun folgenden Essay dem Leben und Werk von Hans Henny Jahnn nochmals zu nähern. Im Mittelpunkt steht dabei die Romantrilogie "Fluss ohne Ufer". Daneben schildert der Autor auch persönliche Begegnungen mit dem Schriftsteller, der heute vor 50 Jahren gestorben ist.

Von Peter Bürger | 29.11.2009
    Peter Bürger lehrte von 1971 bis 1998 an der Universität Bremen Literaturwissenschaften. Bekanntheit erlangte er mit seinem Werk "Theorie der Avantgarde", das in fast alle Sprachen übersetzt wurde. 2007 erschien beim Suhrkamp Verlag sein Buch "Sartre. Eine Philosophie des Als-ob".

    Annäherungen an Hans Henny Jahnn
    Von Peter Bürger

    1. Erinnerungen

    Oft, wenn das Gespräch mit Freunden auf Hans Henny Jahnn kam, habe ich mich gefragt, warum ich ihm so beharrlich ausgewichen bin. Schließlich waren meine Eltern seit den 20er Jahren mit ihm befreundet, teilten mit ihm gemeinsame Erinnerungen an die Hamburger Künstlerfeste, sehen sich auch nach dem Krieg, als wir aus Sachsen und Jahnns von Bornholm nach Hamburg zurückgekehrt waren, in Blankenese in der Villa des Anker- und Kettenhändlers Schmeding, dessen kunstinteressierte Frau Risa dort eine Art Salon hatte.

    Breitbeinig sehe ich Hans Henny Jahnn, dessen imposante Gestalt etwas von einem Kirchenfürsten des Barock hatte, auf einem Lehnsessel vor dem Kamin sitzen - und reden, ununterbrochen reden. Er redet über die Gefahren der atomaren Aufrüstung, vor der er als einer der ersten gewarnt hat. Aber auch über die Kulturlosigkeit der Hamburger, die ihre Künstler verhungern ließen. Die Barbarei habe in dieser Stadt Tradition, höre ich ihn sagen. Anfang des 19. Jahrhunderts hätten die Hamburger ihren Dom abgerissen und die Steine für den Bau der Kanalisation verwendet. Dort könne man noch Reste gotischer Plastiken finden.

    Wenn dann einer der Umsitzenden einen Einwand zu formulieren versucht, unterbricht ihn Jahnn, breitmundig seine Worte kauend, mit einem "Wenn - ich - auch - einmal - etwas - sagen - darf", worauf die Runde wieder in die Rolle aufmerksam lauschender Zuhörer zurückfällt. Wenn wir dann spät in der Nacht aufbrachen, um die letzte S-Bahn nicht zu versäumen, drückte Risa Schmeding meiner Mutter unauffällig das Fahrgeld in die Hand. Ob sie auch Jahnn etwas zusteckte, weiß ich nicht. Jedenfalls fehlte es in beiden Familien immer an Geld.

    Hatte Jahnn aber ausnahmsweise einmal welches, konnte er von geradezu fürstlicher Großzügigkeit sein. Zufällig begegnen wir ihm im Hafen, er hat gerade den Hamburger Lessing-Preis erhalten. Spontan lädt er meine Eltern und mich zum Fischessen in Teufelsbrück ein. Das Lokal auf dem Landungssteg schlingert leise, wenn die Wellen der aus- und einfahrenden Schiffe das Ufer erreichen. In der Ferne sieht man im Nebel die Kräne des Hafens.

    Jahnn ist ein passionierter Esser, den Speisen widmet er sich geradezu mit Inbrunst, beschnuppert sie, leckt sich die Lippen. Eine Atmosphäre gesteigerter Festlichkeit verbreitet sich. Jahnn lässt eine weitere Flasche Wein kommen, Geld spielt heute keine Rolle, selbst meine Mutter vergisst für ein paar Stunden ihre Existenzsorgen. Und Elinor Jahnn? Ich vermag nicht einmal zu sagen, ob sie dabei ist, Jahnns Präsenz ist so dominant, dass die Frau daneben verschwindet...

    Trotz der Faszination, die Jahnn als Person auf mich ausübte, habe ich nie daran gedacht, ihm meine ersten schriftstellerischen Versuche zu zeigen. Erst heute glaube ich die Gründe meiner ambivalenten Haltung ihm gegenüber zu verstehen. Er muss für mich damals die Gestalt des Künstlers schlechthin dargestellt haben, der sein Künstlertum als die ihm zugefallene Aufgabe übernommen und sich ihr mit allen Konsequenzen gestellt hatte. Die Konsequenzen kannte ich aus unserer Familie nur allzu gut.

    Als Jahnn mir daher bei einer unserer Begegnungen vorschlug, ich sollte bei der bevorstehenden Uraufführung seines Chatterton im Hamburger Schauspielhaus die Rolle des jugendlichen Dichters spielen, muss ich das als Versuchung begriffen haben, als Verführung zu einer Künstlerexistenz. Ich habe es nicht gewagt, ich bin nicht Schauspieler geworden, auch nicht Schriftsteller, sondern Literaturwissenschaftler. Der Wunsch nach Ausdruck hat sich andere, indirekte Wege suchen müssen. Erst viel später habe ich begriffen, dass Jahnn mich mit seinem Vorschlag zu einer Selbstwahl gezwungen hat. Dass ich ihm dafür zu Dank verpflichtet bin, auch das ist mir erst nachträglich zu Bewusstsein gekommen. Um ihn endlich abzutragen, schreibe ich diesen Text.

    2. Die Schreibsituation

    Wie Marcel Proust und Robert Musil ist auch Hans Henny Jahnn der Autor eines einzigen Buches, der Romantrilogie "Fluss ohne Ufer", die man ohne Zögern neben Prousts Recherche und Musils Mann ohne Eigenschaften stellen könnte. Alles, was er sonst geschrieben hat, sind Zeugnisse eines langen, beschwerlichen Wegs durch das eigene Seelengestrüpp, Vorstufen oder Nachklang des großen Werks. Was der Musiker Gustav Anias Horn am Schluss seiner "Niederschrift" über seine Arbeit sagt, gilt auch für den Autor.

    "Ich hatte keine rechte Hilfe bei meinem Unterfangen. Die Erde unter meinen Füßen sang nicht mit. Das Meer vor mir, dessen Wellen im Sand auslaufen, gab mir nur einen verworrenen Schwall. Mir lagen die Melodien der tausend Volkslieder nicht im Ohr. Ich war auf mich allein gestellt, als wäre ich ein Mensch am Anfang der Zeiten gewesen. Schwerfällig ausgerüstet mit einer Flöte, die nur fünf Töne gibt."

    Wie Horn weiß auch Jahnn sich "einer älteren und härteren Schicht des [...] Ausdrucks zugeteilt" und sieht den Anlass zu seinem Werk in seinem persönlichen Leben.

    "Meine Angst, meine Trauer, meine Verlassenheit, meine Gesundheit, die Störungen in mir und die Zeiten des Gleichgewichts, die Art meiner Sinne und meiner Liebe, meiner Besessenheit in ihr, haben auch meine musikalischen Gedanken und Empfindungen gestaltet."

    Die Zitate lassen bereits etwas von dem Ernst erkennen, der den Autor Jahnn mit seinen Gestalten verbindet. Es gibt in dem Buch einsilbige norwegische Bauern, deren begrenztes Empfindungs- und Denkvermögen der Autor aus der Innenperspektive mit einer gleichsam sachlichen Empathie darstellt, die sich gleichermaßen weit von sentimentaler Idealisierung des einfachen Lebens wie intellektueller Überlegenheit entfernt hält.

    Es scheint angemessen, zunächst einen Blick auf die Situation zu werfen, in der Jahnn allen inneren Schwierigkeiten und äußeren Widerständen zum Trotz die Kraft aufbringt, das "Romanungeheuer" in Angriff zu nehmen. 1929 war sein erster großer Roman Perrudja erschienen, von dem er sich Anerkennung und finanziellen Erfolg versprochen hatte.

    Beides blieb aus. Durch die Machtergreifung Hitlers verlor er seine Ämter als Orgelsachverständiger der Freien und Hansestadt Hamburg und als Präsident des "Kartells Hamburger Künstlerverbände". Damit war ihm seine Existenzgrundlage entzogen. Von der Erbschaft seines verstorbenen Freundes kauft er 1934 einen Gutshof auf der dänischen Insel Bornholm und versucht, mit seiner Familie als Landwirt ein Auskommen zu finden. Im Bornholmer Tagebuch konstatiert er den "Zusammenbruch [seiner] bürgerlichen Existenz":

    "Der gestürzte Baum muss seinen Karakter verändern, wenn er nicht verdorren und vermodern will. Mir scheint, dieser Aufgabe entgehe auch ich nicht. Zum wenigsten muss ich mich abwenden von den großen Ereignissen und Theorien. Ich darf mich nicht mehr als von einiger Bedeutung fühlen, als die Nadel eines Kompasses. Ich muss es wahrscheinlich sehr tief vergessen, dass ich Wunderwerke an Orgeln konstruieren könnte, dass ich es verstehe, Steinmassen rhythmisch zu Bauwerken zu gliedern; diese gewaltige Sucht, nach Außen vorzuweisen, was im Innern glüht, muss eingedämmt werden, weil ich sonst lächerlich werde, ein irres Herz bekomme."

    Peinlich genau notiert er in seinen Eintragungen die alltäglichen Ereignisse der Hofwirtschaft.

    "Kuh Nr. 18 hat ein kräftiges Stierkalb geworfen. Die Mutter sieht nach der Geburt hervorragend aus. [...] Kuh Nr. 38 ist heute von den übrigen abgesondert worden [...] sie hatte schleimigen Auswurf aus der Scheide. Alles deutete darauf hin, dass sie eine Frühgeburt haben würde."

    Man muss das Bornholmer Tagebuch wohl als eine Art Exerzitium verstehen, eine tägliche Schreibübung in einer Zeit seelischer Dürre und uneingestandener Verzweiflung. Im April 1935 brechen die Aufzeichnungen ab, im gleichen Jahr beginnt Jahnn mit der Arbeit am Holzschiff, das später zum ersten Teil des großen Romans wird.

    Wenn die Mutter anhebt: Es war einmal ein König, der hatte zwei Töchter..., kann es geschehen, dass das Kind sie unterbricht mit der Frage: Wer sagt das? Es ist damit der Erzählerin, die auch nicht weiß, wer das sagt, auf die Schliche gekommen. Das Es-war-einmal überspringt die Kluft, die unsere Welt von der Welt des Märchens trennt. Der erste Satz ist die Klippe jeder Erzählung. Er entscheidet über deren Gelingen oder Scheitern. Nur ganz großen Schriftstellern gelingt es, uns den Abgrund zwischen den beiden Welten ahnen zu lassen und damit auf den dunklen Urgrund alles Erzählens zu verweisen. Jahnn gehört zu ihnen.

    "Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar."

    Mit diesen Worten beginnt Das Holzschiff. Ist am Anfang des Satzes alles noch ganz unbestimmt - der Nebel ebenso wie das Kommen des Schiffs - mehr eine Ahnung als ein visuelles Geschehen, so steht an dessen Ende die unbezweifelbare Tatsache der Sichtbarkeit des Schiffs. Freilich, auch als ein sichtbar gewordenes bleibt es umgeben vom Nebel des Geheimnisvollen. Daran wird sich auch im Verlauf der Erzählung nichts ändern. Wir erfahren weder, woher das Schiff kommt, noch wohin es steuert. Die Absichten des Reeders bleiben so dunkel wie der Inhalt der Ladung, die das Schiff an Bord nimmt. Wenn für uns das Schiff Erscheinung ist, aus einem vergangenen Jahrhundert in die Zeit der Dampfschifffahrt versetzt, ist es für die Besatzung der unausweichliche Ort ihrer Kämpfe, Ängste und Hoffnungen, die sich nicht zuletzt an den Rätseln entzünden, die das Schiff ihnen aufgibt.

    Die leidenschaftlichen Gemütsbewegungen der Besatzung, die schließlich den Untergang des Schiffs herbeiführen werden, rühren nicht zuletzt daher, dass der Kapitän, von vagen Ängsten geplagt, seine schöne Tochter Elena mit auf die Fahrt nimmt. Das veranlasst Gustav Anias Horn, ihren Verlobten, als blinder Passagier an Bord zu gehen, und treibt die Männerwelt des Schiffs in eine sich steigernde Verwirrung, die um das Phantasma der Frau kreist. Als Elena plötzlich spurlos verschwindet, gerät die Mannschaft in Aufruhr, wilde Gerüchte über die Ladung und den Verbleib Elenas werden als unbezweifelbare Fakten weitergegeben.

    Schließlich wird Horn, ohne es zu wollen, zum Anführer einer Meuterei. Die aufgebrachten Matrosen vermuten Elena in einem unzugänglichen Kasten im Rumpf des Schiffes, brechen ihn auf und verursachen durch das sofort eindringende Wasser dessen Untergang.

    Die karge Inhaltsangabe vermag die beklemmende Atmosphäre von dumpfer Angst und schwülen Begierden, die sich auf dem Schiff ausbreiten, nicht wiederzugeben. Sie lässt sich auch durch das Bemühen der Gestalten, vernünftige Deutungen für befremdende Ereignisse zu finden, nicht auflösen. Nur wie ein dünner Firnis scheint sich die Vernunft über die wuchernden Fantasien und Ängste zu legen und diese für eine Weile zu beschwichtigen. Auch Gustav gelingt es nicht, sich von wilden Spekulationen über einen möglichen Mord an Elena zu befreien.

    In einem Gespräch mit dem Kapitän, seinem zukünftigen Schwiegervater, gesteht er, wie sehr ihn das Geheimnisvolle anzieht:

    "Du erfindest Möglichkeiten für eine ungekrümmte Auslegung. Mein Verstand ist bereit, dir beizupflichten. Aber das tiefer Gebettete in mir widerstrebt."

    Das klingt gespreizt. Wer den Maßstab des Realismus an solche Sätze anlegt, kann schnell zu einem negativen Urteil über Jahnns Prosa kommen. In der Tat hat man manchmal den Eindruck, seine Figuren sprächen wie durch eine Maske. Der hohle Klang, der dadurch entsteht, ist aber offensichtlich gewollt. Er zeigt an, dass hier nicht Individuen sprechen, sondern Menschen in unterschiedlichen seelischen Befindlichkeiten.

    Der ganze Roman ist eine Untersuchung der Abgründe der menschlichen Seele. Jahnn unterscheidet nicht zwischen dem moralisch Handelnden und dem geborenen Mörder, er entdeckt die Möglichkeit zum Mord auch im moralischen Individuum.

    Der Superkargo Georg Lauffer erscheint anfangs als das gepanzerte männliche Subjekt, fähig, Konflikte durchzustehen und sie rational zu lösen. Erst im weiteren Verlauf des Romans erfahren wir, dass er in langen Gesprächen mit Elena eine Art Lebensbeichte abgelegt hat, und das Kapitel "Einsamer Mensch" zeigt ihn als "ausgehöhlte Persönlichkeit".

    "Er war seines Eigenwertes, der Dichtigkeit seines Körpers und der Gewissheit seiner Erlebnisse so wenig sicher, dass er das fadenscheinige Gewebe der Vergangenheit, das Fragwürdigste einer fragwürdigen Existenz, abzuschütteln fähig schien, und die Trümmer, dies Ich, das flüchtig aus der Spreu ein Dasein zusammenblies, unausweichlich dem Schicksal der beiden jungen Menschen [d. h. Elenas und Gustavs] verhaftet zu fühlen."

    Lauffer, der zunächst der Widerpart des sensiblen, von einander widersprechenden Empfindungen und Befindlichkeiten heimgesuchten Gustav zu sein schien, erweist sich mehr und mehr als dessen alter ego. Gustav imaginiert die Möglichkeit eines Mords an Elena, Lauffer begehrt sie und weist dabei den Gedanken an eine Vergewaltigung nicht von sich.

    "Entsagen ist traurig. Und die nicht begangene Untat erfüllt den mit seinen Süchten ihr Nachhängenden mit der gleichen zerrissenen Wehmut, mit der die vorenthaltene barmherzige Hilfe den einfältigen Samariter bedrängt. [...]

    Die Reue kommt nicht allein in der Gefolgschaft der Schamlosigkeit und der Sünde; sie ist eine immer bereite Regung des natürlichen Daseins gegenüber einem ungemäßen Verhalten."

    Sätze wie diese machen deutlich, in welche Untiefen Jahnn seine Menschen begleitet. Die "so ganz verworrene Reue" Lauffers gilt nicht seinem Begehren, sondern dem Verzicht, ihm gefolgt zu sein.

    Die Abgründigkeit dieser Darstellung wird dadurch gesteigert, dass Jahnn am Schluss des Kapitels das Motiv perverser Leidenschaften in Gustavs Fantasien über den Reeder aufnimmt. Gustav imaginiert den Reeder als Sammler einbalsamierter Frauenleichen, die auf dem ziellos die Meere durchstreifenden Schiff verborgen sind.

    Zugleich meint er damit den dunklen Grund der Kunstproduktion und des Kunstgenusses herausgefunden zu haben: Befriedigung am toten Bild blühenden Fleisches. Der Autor lässt in der Schwebe, wie die Gedanken Gustavs aufzufassen sind - als Ausgeburt eines Fieberwahns oder als Einsicht in verborgene Zusammenhänge.

    Wie weit Jahnn in dem Versuch geht, Gustav und Lauffer ineinander zu spiegeln, erhellt daraus, dass er das Motiv der Einbalsamierung der Leiche eines geliebten anderen beiden zuweist. Der Superkargo träumt davon, die Leiche Elenas durch Chemikalien gegen die Verwesung zu schützen, und Gustav wird später mit der Leiche seines Freundes Tutein die Fantasie Lauffers verwirklichen.

    Beide wehren sich gegen die Ordnung der Natur, die alles Lebendige zum Tod bestimmt. Beide sind "Abtrünnige", die gegen die Schöpfung aufbegehren. In den über tausend Seiten von Horns Aufzeichnungen findet sich kein Wort der Trauer über den Verlust seiner Braut, keine Erinnerung an sie. Sie ist ausgelöscht, als hätte sie nie gelebt. Horn übernimmt die Tat des Matrosen Tutein, der von nun an sein Freund sein wird. Existenz hat die Frau in Jahnns monumentalem Werk nur als Objekt sinnlichen Begehrens und als Männerfantasie. Ihre Auslöschung schließlich ist ein Akt der Befreiung, der die Frau zu dem macht, was sie in den Fantasien des Mannes wesentlich ist: Erscheinung.

    Die Menschen Jahnns leben in einer Welt jenseits von Gut und Böse; die Maßstäbe, nach denen sie ihr Denken und Handeln beurteilen, setzen sie sich selbst. So ist für Jahnn Mord nicht die intentionale Tötung eines Menschen, sondern ein schicksalhaftes Geschehen, bei dem der Täter nicht willentlich handelndes Subjekt ist, sondern Instrument, das frei floatierende Aggressions- und Begehrenspotenziale mimetisch in sich aufnimmt und ihnen blindlings folgt.

    In gewissem Sinne ist der Leichtmatrose Tutein, als er Elena tötet, nicht bei sich. Er meint für Horn zu handeln, als sein "Anwalt". Das Ungeheuerliche der Szene, in der er Horn den Mord gesteht und dieser ihm seine Tat verzeiht, besteht darin, dass beide über der toten Frau ihren Freundschaftsbund schließen.

    Jahnn denkt die Logik des Patriarchats zu Ende: Die Frau als Gebärerin und Mutter ist der Ordnung der Natur unterworfen, gegen die die verschworenen Freunde aufbegehren. Die Kultur, als die freie Schöpfung der Männer, setzt die Trennung von der Natur voraus, sie ist ihrem Wesen nach Abtrünnigkeit.


    3. Wirklichkeit

    Vielleicht ist es an der Zeit, etwas über Jahnns Wirklichkeitsbegriff zu sagen. Wirklichkeit - das sind für ihn die unerbittlichen Gesetze der Natur, aber sie umgreift auch die ganze Breite menschlicher Verworrenheiten und Verirrungen, die sich um das ranken, was Jahnn einmal Schicksal, aber manchmal auch einfach Ablauf nennt. Wirklichkeit - das ist das Fleisch und seine Begierden, die Ängste, die den Menschen plötzlich überfallen können, ausgelöst durch ein einziges Wort: wie das Wort Gefahr, das Tutein durch den Türspalt in Gustavs Kajüte ruft. Zur Wirklichkeit gehört aber auch die ganze Welt der Phantasmen, die das menschliche Gehirn ausbrüten kann: das Märchen des Kochs von den Mädchen, die während des Sturms in den Laderäumen singen, und der feste Glaube des Zimmermanns, dass seine verstorbene Mutter in den Kästen der Ladung verborgen sei. So entsteht aus ungestillten Kräften des Begehrens ein unheimliches Spiegelkabinett wirrer Vorstellungen, die, sobald das Kollektiv der Männer sie sich zu Eigen macht, zu einem unwiderstehlichen Handlungsimpuls werden können.

    "Die Wirklichkeiten, an denen die Schöpfung durch die kleinen Zwecke des Menschen so arm geworden war, hatten sich auf Augenblicke in das Matrosenlogis hineingewuchert."

    Sich absetzend von einem durch den Alltag des modernen Großstädters geprägten Realitätsbegriff, demzufolge Wirklichkeit in der Summe zweckgerichteter Handlungen aufgeht, die dem Gelderwerb und der Existenzsicherung dienen, gibt Jahnns Wirklichkeitsauffassung archaischen, verdrängten Regungen Raum und berührt sich hierin mit den Vorstellungen der französischen Surrealisten.

    Wie diese sucht er in der Moderne die Spuren archaischer Verhaltensweisen auf und zeigt, wie sie die Vernunft überwältigen. Wie diese sieht er das Leben des modernen Großstädters durch eine fortschreitende Abstumpfung der Fähigkeit bestimmt, sich gegen die Abschnürung des Lebens aufzulehnen und gegen die Ungerechtigkeiten zu empören. Mit den Surrealisten verbindet ihn schließlich die Rebellion gegen einen verengten Begriff von Wirklichkeit, in dessen Schatten das Leben verkümmert.

    Als Jahnn das Holzschiff schreibt und damit eine Metapher für eine Welt schafft, die kein Außen hat, lebt er selbst, ein Vereinsamter, auf der dänischen Insel Bornholm, während in Deutschland das NS-Regime herrscht, das ihn seiner bürgerlichen Existenz beraubt hat. Dass sein Denken um den Faschismus kreist, wird man auch bei einem von der Gegenwart eher abgewandten Autor, wie Jahnn es damals war, unterstellen können. Es geht ihm nicht darum, politisch Partei zu ergreifen; er will verstehen, wie der Wahn die Massen ergreifen, wie man selbst Teil der Masse werden kann. In einer brieflichen Notiz hat er später einmal sein Schreiben als Exploratorisches beschrieben:

    "Nicht im voraus wissen, was meinen Menschen geschieht, wie sie ihre Gespräche formen werden, in welche Sackgassen sie geraten."

    In diesem Sinne lässt er seine Menschen aufeinanderprallen, sich plötzlich für eine Handlungsalternative entscheiden, die sie Augenblicke vorher noch nicht absehen konnten. Stufe um Stufe steigt Jahnn in die Tiefen der menschlichen Seele hinab, um dort ein dem Jubel des Lebens verschwistertes Todesverlangen zu entdecken, das sich in der realen oder imaginierten Gewalttat entlädt, gefolgt von wollüstiger Zerknirschung.

    Man hat Jahnn vorgehalten, dass er sich während der NS-Zeit jeder oppositionellen Stellungnahme gegenüber dem Regime enthalten und seinen Aufenthalt auf Bornholm ausdrücklich nicht als Exil hat verstehen wollen. Das hat ihm den Vorwurf des Opportunismus eingetragen. So verständlich dieses Urteil ist (zumal Jahnn sich nach dem Krieg als Antifaschist dargestellt hat), muss man doch die Frage aufwerfen, ob sein Denken die erwartete Stellungnahme überhaupt zuließ.

    Hatte er sich nicht viel zu tief auf die Ambivalenzen der menschlichen Seele eingelassen, um noch Partei ergreifen zu können? Kann er nicht Mitte der 30er Jahre, als der Nationalsozialismus sich noch nicht als das mörderische Regime enthüllt hatte, das wir heute zurecht in ihm sehen, zumindest zeitweise geglaubt haben, im NS-Staat zeige sich, wie aus dem Aufruhr eine neue Ordnung entstehen könne?

    Wie dem auch sei, wir Nachgeborenen, die wir in keine vergleichbare geschichtliche Situation hineingestellt worden sind, sollten uns mit dem Urteilen und Verurteilen zurückhalten. Von Georges Bataille, dessen gleichfalls in den 30er Jahren entstandene Theorie des Heiligen manche untergründigen Beziehungen zum Denken Jahnns unterhält, wissen wir, dass der Faschismus, den er bekämpfte, zugleich eine geheime Faszination auf ihn ausgeübt hat, weil es diesem gelungen war, seelische Energien handlungswirksam zu bündeln.

    Je weiter ich in dieser Wiederlektüre des "Fluss ohne Ufer" fortschreite, immer wieder zwischen Abwehr und Faszination schwankend, um so deutlicher glaube ich die Gründe zu erkennen, die mich in den 50er-Jahren sowohl der Person als auch den Texten Jahnns haben ausweichen lassen. Ich suchte nach einer rational ausweisbaren Position gegenüber der Gesellschaft, in der ich lebte. In dieser Situation wurde Brecht für mich wichtig. Bei ihm fand ich klare Gegensätze, während Jahnns Toleranz für seelische Ambivalenzen meinem Verlangen nach Eindeutigkeit des Urteils entgegenstand.

    Ganz davon abgesehen, dass sein Denken in einen Antimodernismus verstrickt schien, der mir unheimlich war. So viel ist mir heute gewiss: Hätte ich mich damals auf Jahnn eingelassen, ich wäre ein anderer geworden. Versäumtes lässt sich nicht nachholen, wohl aber fühle ich mich gedrängt, Abbitte zu tun wegen meiner damaligen Verweigerung. Eine Abbitte, die den Autor nicht mehr erreichen kann, wohl aber das Werk.


    4. Wahrheit

    Jeder Versuch, über Jahnns "Fluss ohne Ufer" zu sprechen, leidet darunter, dass er unmöglich den Reichtum der Aspekte des Buches zu erfassen vermag. Da sind die Beschreibungen der norwegischen Landschaft, deren großartige Sachlichkeit sich dem Leser einprägt.

    "Ich fuhr ein wenig später über die unvergleichlichen Hügel [...]. In der Ferne, tief unten, lag das Meer, bleich, grau, ausdruckslos, nur ein unbestimmtes nebliges Schimmern, weniger, ein Dunst. Es hatte nur seinen Geruch, der sich unbegreiflich mit dem von Moor und nassem sterbenden Laub mischte. Kein Tier am Boden zeigte sich mir; nur am Himmel schwamm die schöne gebrochene Linie verspäteter ziehender Wildgänse, die beinahe flüsternde, verhaltene Schreie ausstießen."

    Da ist der epische Ton, mit dem der Erzähler das bloße Vergehen der Zeit anspricht.

    "Und die Zeit, ein stetiger unaufgeregter Strom, trieb langsam vorüber, dem grauen verkümmerten Stern zu, der das Gewesene speichert, um es allmählich zum Wirkungslosen zu verstauben."

    Da sind die Schilderungen der metaphysischen Einsamkeit, die auf allen Gestalten Jahnns lastet. Und da sind schließlich die Analysen von Horns Musik, die an Intensität denen über die Musik Leverkühns in Thomas Manns Doktor Faustus nicht nachstehen.

    Wie der Autor aus der Welt seines Buches nicht mehr herausgefunden hat - nach dem Tode Horns schreibt er die Geschichte von dessen Sohn, die diejenige des Vaters wiederholt - so mag auch der Leser des "Fluss ohne Ufer" in Versuchung sein, die Lektüre ohne Ende fortzusetzen, weil er den Eindruck hat, den Reichtum des Buches nicht ausgeschöpft zu haben.

    Wie also die Rede über das Werk Jahnns abschließen? Als ganzes lässt es sich nicht in den Blick nehmen, es entzieht sich der totalisierenden Aneignung; wohl aber lässt sich nach der Weltsicht Jahnns fragen.

    Jahnn lehnt nicht nur die Tröstungen ab, die die Religion für das Elend der Menschen bereit hält, er lehnt ebenso die Hoffnungen ab, die aus dem Vertrauen auf den geschichtlichen Fortschritt entspringen. Seine Weltsicht ist von einem tiefen Pessimismus geprägt:

    "Es ist, wie es ist. Und es ist fürchterlich."

    Bleibt die Kunst, aber auch sie gilt Jahnn keineswegs als eine Erlösung versprechende Gegenwelt; vielmehr hat sie die finstersten Triebkräfte des Menschen zur Voraussetzung. Tuteins Zeichnungen und Horns Musik entspringen dem Männerbund.

    Dieser Bund aber gründet sich auf den Mord an der Frau, den beide gemeinsam auf sich nehmen. Die Intuition des jungen Lukács, die Kunst sei luziferisch, hat Jahnn zu Ende gedacht. Nicht eine Gabe, die dem Menschen zufällt, ist das Schöpferische, sondern etwas Widernatürliches, eine Verkehrung der natürlichen Ordnung, Resultat dessen, was bei Jahnn Abtrünnigkeit heißt.

    Der männliche Wille zum Werk ist das Böse, er reißt die Fähigkeit, Lebendiges hervorzubringen, die der Mann nicht hat, an sich. Mit andern Worten: er hat den Tod der Frau zur Voraussetzung. Der Mord an Elena ist die mythische Chiffre für den kulturellen Tod der Frau, ihre Nicht-Existenz in der patriarchalen Ordnung, in der wir nach wie vor leben. Dieser Mord erst ermöglicht es dem Mann, das Phantasma, er vermöchte aus dem Nichts zu schaffen, zu leben.

    Die Surrealisten haben von einer modernen Mythologie, Bataille von der Stiftung einer Religion geträumt; aber erst Jahnn ist es gelungen, einen Mythos zu schaffen, der deshalb modern heißen darf, weil er die Grundlage moderner Subjektivität aufdeckt.

    Jahnns Mythos ist zugleich aufklärerisch, weil er Zusammenhänge erkennbar macht, und archaisch, weil er diese auf ein ursprüngliches Schuldgeschehen zurückführt. Darin liegt das zutiefst Befremdende des Jahnnschen Denkens, dass es den Gegensatz von archaischer und moderner Welt zum Einsturz bringt.