Samstag, 20. April 2024

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Religiöse Kräfte haben "bisher sowohl politisch als auch ökonomisch versagt"

Die Entwicklungen in Ägypten und Tunesien weisen eine Reihe von Parallelen auf, sagt Udo Steinbach. Hier wie dort seien religiöse Kräfte den Erwartungen ihrer Wähler nicht gerecht geworden. In beiden Ländern bewege man sich jetzt "weg von der revolutionären Ebene hin zur Lösung der sozialen Fragen", so der Islamwissenschaftler.

Udo Steinbach im Gespräch mit Jasper Bahrenberg | 09.02.2013
    Jasper Bahrenberg: Ein Generalstreik hat gestern das öffentliche Leben in Tunesien weitgehend lahmgelegt, außerdem geriet das Begräbnis eines ermordeten Politikers der Opposition in Tunis zu einer der größten Protestkundgebungen gegen die Regierung seit der Revolution. Für morgen hat die regierende Ennahda-Partei nun die eigenen Anhänger zu einer Großkundgebung im Zentrum von Tunis aufgerufen. Auch in Ägypten schwelt die Regierungskrise weiter: In Kairo blieben Proteste auf dem zentralen Tahrir-Platz gestern weitgehend friedlich, andernorts aber sind bei Zusammenstößen mit der Polizei viele Demonstranten verletzt worden.

    Am Telefon begrüße ich den Islamwissenschaftler Udo Steinbach, lange Jahre lang Direktor des GIGA-Institutes für Nahost-Studien in Hamburg. Schönen guten Tag, Herr Steinbach!

    Udo Steinbach: Schönen guten Tag!

    Bahrenberg: Herr Steinbach, wir wollen über die anhaltenden Proteste und die Konflikte in Ägypten sprechen, natürlich aber auch über die politische Krise in Tunesien, ausgelöst ja durch den Mord an dem Oppositionspolitiker Belaid, und gestern eskaliert gewissermaßen in diesem großen Protest in Tunis. Sehen Sie zwischen den Entwicklungen in beiden Ländern Verbindungslinien?

    Steinbach: Ja, ganz gewiss, da gibt es zahlreiche Parallelen, die Revolution brach ja etwa zum gleichen Zeitpunkt aus. Die innenpolitische Situation, die innenpolitische Konstellation war ähnlich, der Diktator stürzte. Was danach kam, hat auch Parallelen: Aus den Wahlen gingen die religiösen Kräfte als Sieger hervor, und dann noch eben die Parallele, dass diese religiösen Kräfte bisher sowohl politisch als auch ökonomisch versagt haben.

    Bahrenberg: Worin genau besteht dieses Versagen, und warum ist es so gravierend, dass die Menschen immer unzufriedener werden?

    Steinbach: Man kann es vielleicht festmachen an dem, was Herr Mursi gesagt hat, als er gewählt wurde: Er sei der Präsident aller Ägypter. Und genau das ist nicht wahr, das merken die Menschen. Er ist ein Muslimbruder, er ist auf dem rechten Auge blind, und das ist so auch in Tunesien, wo die Ennahda gewählt wurde, auch da hatte man die Hoffnung, man würde sozusagen die Pluralität eines Landes wie Tunesien, der tunesischen Gesellschaft akzeptieren und zum Ausdruck bringen. Auch das ist nicht geschehen, auch dort haben sich vor allen Dingen am rechten Rand der religiösen Kräfte, haben sich Extremisten Dinge herausgenommen, die eigentlich verfolgt gehört hätten, was nicht geschehen ist. Das ist die Frustration, soweit der politische Rahmen betroffen ist. Und ökonomisch, da sieht man keinerlei Fortschritte, weder in Ägypten noch in Tunesien. Man sieht nicht einmal ernsthafte Bemühungen – die tunesische Presse wirft den Ministern der Ennahda-Partei Untätigkeit vor, dass sie alles Mögliche machen, auch natürlich offen sind für Korruption, nur nicht das, was sie tun sollten.

    Bahrenberg: Sie haben von ihrem Versprechen von Pluralität gesprochen, und das gilt ja für beide Länder. Warum ist es der Ennahda-Partei in Tunesien nicht gelungen, dieses Versprechen einzulösen, warum ist es in Ägypten gleichermaßen nicht gelungen? Liegt das an der Anmaßung dieser dominierenden politischen Kraft oder ist es Unfähigkeit oder sind es Konflikte innerhalb dieser Bewegung, die im Moment nichts anderes zulassen?

    Steinbach: Ich glaube, es ist wirklich Anmaßung und Unerfahrenheit. Man darf ja nicht verkenne, dass einige der Minister sozusagen aus dem Gefängnis in politische Funktionen, in politische Ämter gehievt worden sind. Diese Leute haben über viele Jahre geschmachtet in den Kerkern der Diktatoren und wurden dann durch das demokratische Votum an die Macht gebracht, und sie glauben eben einfach, dass sie damit gewissermaßen alles tun können, was sie wollen, und sie haben keinerlei Erfahrung darin, Kompromisse zu machen, sie haben keinerlei Erfahrung darin, die Realität zu sehen und ihr ideologisches Gerücht, ihr religiös-ideologisches Gerüst, darauf auszurichten.

    Bahrenberg: Müssen sie also von dieser gewissermaßen dogmatischen Position, dass sie ihre Weltanschaulichen Ansichten jetzt in einem neuen Staat eins zu eins umsetzen sollen, müssen diese Kräfte von dieser ideologischen Dogmatik zurücktreten?

    Steinbach: Aber ganz gewiss. Viele haben gehofft, auch ich selber habe gehofft, dass die Leute das von sich aus begreifen würden, aber das haben sie nicht getan. Und da gibt es jetzt zwei Dinge: Einmal die Demonstrationen, die wir sehen, in Tunesien, in Ägypten, und das andere ist die innerparteiliche Diskussion in der Ennahda-Partei und bei den Muslimbrüdern, und ich glaube, da liegt wirklich auch eine Chance, dass sich hier die Spreu vom Weizen trennen wird, die Ideologen und die Pragmatiker, und das sehen wir bereits in Umrissen, werden sich auseinanderleben.

    Bahrenberg: Nehmen wir als Beispiel Tunesien, dort gibt es den Ministerpräsidenten Jebali, der scheint ja überzeugt, dass nur ein toleranter, ein fortschrittlicher Islam Aussicht auf Zustimmung in der Bevölkerung hat. Er hat sich gegen das Verbot von Alkohol ausgesprochen und von Bikinis, er bekennt sich zur Gleichberechtigung der Frauen und kann trotzdem nicht das Bild vermitteln, dass das auch die gesellschaftliche Realität werden kann. Welche Chancen räumen sie ihm ein – er versucht ja jetzt gerade, die Regierung umzubilden –, da ein paar Schritte zu schaffen?

    Steinbach: Aber genau da sehen wir das Problem: Jebali ist der Pragmatiker, der hat wirklich begriffen. Er ist auch ein sehr unerfahrener Politiker gewesen, er hat auch nicht viel bewirkt, aber jetzt hat er begriffen, dass etwas getan werden muss, er hat vorgeschlagen, dass man ein Technokraten-Kabinett zusammenstellt – genau der richtige Vorschlag, eine Regierung zu bilden, die etwas vermag, die etwas kann, die aus Technokraten besteht –, aber in seiner Partei die Ideologen sagen, das kann nicht so sein, wir sind gewählt, wir bleiben an der Macht, und wir werden sehen, wer aus diesem Machtkampf als Sieger hervorgeht. In Tunesien haben wir eine Besonderheit, die wir in Ägypten nicht haben, nämlich eine starke Gewerkschaft. Sie haben in der Anmoderation zu Recht darauf hingewiesen, die Gewerkschaft hat eine starke Rolle gespielt in den letzten Wochen, sie hat zum Generalstreik aufgerufen – dem ersten seit 35 Jahren in Tunesien –, und von dieser Gewerkschaft, von dieser Bewegung könnte eine Kraft ausgehen, auch die Bewegung der Ennahda zu mehr Pragmatismus zu bewegen.

    Bahrenberg: Sie sehen also gute Chancen, dass diese islamistische Bewegung ihren Lackmustest, der jetzt ansteht, bestehen wird?

    Steinbach: Also ich sehe keine guten Chancen, aber ich habe die Hoffnung, sie wird das Bestehen, und ich denke einmal, die Nagelprobe wird sein, wenn die nächsten Wahlen stattfinden. Und die nächsten Wahlen sollen ja in Ägypten stattfinden im April, und dann werden wir wirklich sehen, was der Wähler meint, ob er die Konsequenzen zieht aus dem Versagen der Muslimbruderschaft, ob das Stimmen und Sitze im Parlament kosten wird, oder ob es keinerlei Reaktionen gibt. Und wir werden dann noch sehen, wenn der Wähler entscheidet gegen die Muslimbruderschaft, ob sie tatsächlich die Konsequenzen ziehen, und eben dann sich zurücknehmen.

    Bahrenberg: Und bis dahin, Herr Steinbach, müssen die Menschen Woche um Woche, Monat um Monat, möglicherweise Jahr um Jahr, darauf warten, dass sich ihre unmittelbaren Lebensverhältnisse verbessern. Wie soll das weitergehen?

    Steinbach: Ja, wir sprechen nicht Jahr um Jahr, wir sprechen von einem Datum, wenn wir auf Ägypten schauen, nämlich dem April 2013, und noch einmal, bis dahin muss natürlich die Regierung im Amt bleiben, sie ist ja schließlich gewählt. Bis dahin wird es Unruhen geben, wobei wir für Ägypten sagen müssen, wir wissen gar nicht mehr, wer da eigentlich wofür ist. Wir haben ein sehr diffuses Spektrum an Opposition bis hin zu Gruppen des alten Regimes und Leuten, die gewissermaßen da ihr Süppchen kochen wollen durch Plünderungen und so weiter. Eine sehr gemischte Sache, die Regierung sollte also durchhalten, und die Wahlen müssten auf jeden Fall stattfinden, und dann erst könnten Konsequenzen gezogen werden. Dann erst kann natürlich auch die Wirtschaft ernsthaft angegangen werden, sodass die Menschen nicht mehr auf die Straße gehen, dass sie wieder Arbeit und Brot haben – denn das ist auch etwas, was wir sehen in Ägypten sowohl als auch in Tunesien, die Revolution bewegt sich weg von der programmatischen Ebene, von der revolutionären Ebene, hin zur Lösung der sozialen Fragen.

    Bahrenberg: Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach, heute Mittag hier im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch!

    Steinbach: Bitte schön!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.