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Religion auf der Berlinale
Auf Leben und Tod

Muna aus Saudi-Arabien - Hauptdarstellerin im Film "Saudi Runaway" - möchte Muslimin bleiben, aber der Männerherrschaft entkommen. Klosterschülerinnen in Ruanda erleben katholischen Kolonialismus. In einer TV-Show bitten zum Tode Verurteilte um Vergebung - die Filme stellen existenzielle Fragen.

Von Kirsten Dietrich | 27.02.2020
Filmstill aus "Saudi Runaway", eine schwarz verschleierte Frau macht ein Selfie von sich im Spiegel mit ihrem Telefon.
Filmstill aus "Saudi Runaway", ein Film von Susanne Regina Meures (Berlinale / Christian Frei Filmproductions)
Hinter einem Insektengitter zwitschert ein Vogel. "Wollte Gott wirklich, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse leben, deren Meinung nichts gilt?", überlegt Muna. Die Welt hinter dem Vogel sieht Muna nur unscharf. So wie sie auch sonst außerhalb des Hauses die Welt nur durch einen Schleier sehen darf, denn in Munas Familie in Saudi-Arabien übt der Vater die absolute Herrschaft über alle Familienmitglieder aus. Muna will das nicht mehr mitmachen. Ihre bevorstehende Hochzeit will sie als Chance zur Flucht nutzen.
"Ich werde versuchen, aufzunehmen, was ich kann. Es wird gefährlich sein", sagt sie.
Gegen das patriarchale Regime Saudi-Arabiens
Der Dokumentarfilm "Saudi Runaway" besteht nur aus dem, was Muna mit dem Handy unter ihrem Schleier gefilmt hat. Regisseurin Sue Meures hat sie online kennengelernt, über eine Gruppe, die saudischen Frauen bei ihrer Flucht aus dem patriarchalen System helfen will.
"Wir haben am Tag ungefähr fünf bis sechs Stunden gechattet, sie hat mir ihr Footage geschickt, das sie aufgenommen hat, und ich hab auf das Footage reagiert, auf das Filmmaterial. Und wir haben zusammen einen Stil entworfen, eine Filmsprache gefunden, das war unsere Zusammenarbeit."
War sie da nicht weniger Regisseurin und mehr Fluchthelferin? Nein, sagt Meures.
"Sie war sehr sehr zielstrebig. Und die Zweifel, die sie hat, sieht man im Film, bis zur letzten Sekunde, das waren Zweifel, die absolut authentisch sind. Sie liebt das Land, liebt ihre Familie, möchte eigentl nicht gehen, aber klar: sie kann unter diesen Umständen dort nicht weiter ihr Leben fristen."
Muna wendet sich gegen das patriarchale System Saudi-Arabiens, sagt die Regisseurin, nicht gegen den Islam. Die junge Frau filmt sich in den Wochen vor ihrer Flucht auch bei einem Besuch in der Kaaba, dem Heiligtum in Mekka. Dort ist sie berührt – davon, dass Männer und Frauen aus aller Welt gemeinsam den schwarzen Würfel umrunden.
"Ich fühle etwas hier, ich fühle Schönheit und Würde", sagt Muna.
Meures: "Ich glaube, das Problem ist, wenn man sich in diesem engen System bewegt, gleichzeitig aber durch die sozialen Medien so eine unglaubliche Vergleichbarkeit hat mit dem Rest der Welt, dass es da einfach zu wahnsinnig großem Druck kommt."
Bröckelnde Kolonialherrschaft
Auch im Film "Notre-Dame du Nil" sind die Hauptfiguren weiblich. Er spielt in einer katholischen Mädchenschule hoch in den Bergen im Süden Ruandas. Auf den ersten Blick ist das eine Eliteschule mit strenger Disziplin. Doch hinter den Kulissen bröckelt die koloniale Macht, von der die Kirche ihre Macht borgt. Regisseur Atiq Rahimi findet dafür ein elegantes Sinnbild: Predigten unterlegt er mit Jazz – es ist sowieso nicht wichtig, was erzählt wird.
Der Film "Notre-Dame du Nil" spielt im Jahr 1973, gut zwanzig Jahre vor dem Genozid, der ungefähr eine Million Tutsi und kritische Hutu das Leben kostete. Man sieht, wie Kolonialherrschaft und Christentum dafür die Wurzeln legen: als radikalisierte junge Hutu-Männer in der Klosterschule die Schülerinnen jagen, die sie als Tutsi identifizieren, tun die Nonnen – nichts. Es erfüllt mit Scham, Nonnen und weiße Lehrer zu sehen, wie sie nur ihre eigene Haut retten, keine der ihnen anvertrauten Schülerinnen. Wenn die Hilfe erfahren, dann nur von anderen Mitschülerinnen – und im Rückzug auf die indigene vorkoloniale Religion, im Film vertreten von einer Wettermacherin.
"Diese Regenmacherin, diese Hexe symbolisiert den Archetyp des ruandischen Volksglaubens", erklärt Regisseur Atiq Rahimi im Presseheft zum Film.
Für die jungen Mädchen symbolisiert die Hexe unbewusst eine Zuflucht, in der sie Schutz finden können, mit ihren uralten Bildern und Symbolen. Und zwar immer, wenn sie bedroht werden von der Kirche, von der Kolonialherrschaft oder von politischer Gewalt.
Kirche im Untergrund
Wer glaubt, muss auch bekennen und etwas – und das bedeutet mehr, als im Gottesdienst das Glaubensbekenntnis mitzumurmeln. Der slowakische Film "Služobníci", auf deutsch: Diener erforscht in kühlen, klaren Schwarzweißbildern, was das heißt. Der Film spielt im Bratislava der frühen 1980er Jahre, damals noch Teil der kommunistischen CSSR und deshalb mit einer katholischen Kirche, die tief gespalten ist über die Frage, ob sie mit dem Staat kooperieren soll oder sich in den Untergrund zurückziehen.
Noch knobeln die beiden Priesteramtskandidaten Juraj und Michal mit Schnick schnack schnuck um den besseren Platz im Stockbett. Doch schnell sind wichtigere Entscheidungen dran: sollen sie Flugblätter der Untergrundkirche verteilen? Sollen sie der regimetreuen Priestervereinigung Pacem in Terris anschließen oder doch lieber Informationen an Radio Freies Europa weitergeben? Ausgangspunkt für Ivan Ostrochovskys Film war ein Hungerstreik, mit dem Priesterkandidaten in Bratislava in den 80ern ihre Kirche von zu großer Anbiederung ans kommunistische Regime abhalten wollten.
Ostrochovsky: "In den 50er Jahren wurden Mönche und Priester ins Gefängnis gesteckt, einige getötet. In den 70er und 80er Jahren wählte das System dann einen anderen Weg. Es stellte die Kirche vor die Wahl: wenn ihr das totalitäre System toleriert, geht es euch gut, wenn nicht, dann lebt ihr im Dreck und habt kein Geld. Ich glaube, das hat die Kirche mehr zerstört als die körperliche Gewalt der 50er Jahre."
Mit dem Blick von heute verurteilt man schnell den Leiter des Priesterseminars, der dabeisitzt, als die Staatssicherheit einen seiner Studenten beim Verhör prügelt. Aber vielleicht war ja wirklich auch der Erhalt der Institution Kirche wichtig und nicht nur das Leben der Einzelnen? Fragt sich zumindest der Regisseur:
Ostrochovsky: "Die Menschen mussten diese Entscheidungen treffen, und auf gewisse Weise kann ich verstehen, wenn man sagt: wir sind hier seit 2000 Jahren, während es mit dem Kommunismus vielleicht in 20 Jahren wieder vorbei ist. Totalitäre Systeme zwingen Menschen zu falschen Entscheidungen."
"Bleiben Sie dran!"
Entscheidungen auf Leben und Tod – aber im viel wörtlicheren Sinne: das ist auch das Thema in einem Spielfilm aus dem Iran. "Yalda – Eine Nacht für Vergebung" spielt ganz konzentriert während der Aufzeichnung einer Fernsehsendung.
"Kamera 2 fertig – 5 4 3 2 1 Studio 2 live – Musik, Fahrt über Logo "Freude der Vergebung"
Freude der Vergebung heißt die Sendung. Zu Tode Verurteilte können dort um Vergebung bitten, wenn es nach dem iranischen Recht in der Hand der geschädigte Person liegt, die Todesstrafe zu fordern oder eben zu vergeben.
"Im Namen Gottes, des Barmherzigen", begrüßt der Moderator zu einer neuen Folge. Kann Mona der jungen Maryam vergeben? Die junge Frau hatte mit Monas Vater eine sogenannte Genuss-Ehe geschlossen, eine legale Beziehung unterhalb des Status einer vollen Ehe. Bei einem Streit stürzte der Mann, starb dabei – soll Maryam dafür sterben? Das wird auf der Bühne einer Show im Fernsehen verhandelt. Ein vergleichbares Format gibt es im Iran übrigens wirklich. Schon dieses Setting ist faszinierend, aber noch faszinierender ist, wie sich die scheinbar einfache Schuldfrage immer weiter auffächert. Was begründet Vergebung? Wer darf überhaupt vergeben? Und wieviele selbstsüchtige Motive stecken auch hinter der aufrichtigsten Reue? Der Film "Yalda – Eine Nacht der Vergebung" spielt das in einem intensiven Kammerspiel durch.
"Verdient es Maryam Komijani, dass ihr vergeben wird? Drücken Sie 1 für ja und 2 für nein."
Bleiben Sie dran, fordert der Moderator auf – das lässt sich von allen vorgestellten Filmen sagen. Sie bleiben dran an existentiellen Fragen, und finden mit filmischen Mitteln aufregende und anregende Antworten.